II Das Gemeinwohl
1905 Der
gesellschaftlichen Natur des Menschen entsprechend steht das Wohl eines jeden
in Verbindung mit dem Gemeinwohl. Dieses läßt sich nur von der menschlichen
Person her bestimmen.
„Verkriecht euch nicht in euch
selbst und sondert euch nicht ab, als wäret ihr schon gerechtfertigt, sondern
kommt zusammen und sucht miteinander nach dem gemeinsamen Nutzen!"
(Barnabasbrief 4,10).
1906 Das
Gemeinwohl ist „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens,
die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die
eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen" (GS 26,1) [Vgl. GS
74,1]. Das Gemeinwohl betrifft das Leben aller. Von einem jeden verlangt es
Klugheit, besonders von denen, die mit der Ausübung der Autorität betraut sind.
Es beruht auf drei wesentlichen Elementen:
1907 Erstens
setzt es die Achtung der Person als solcher voraus. Im Namen des Gemeinwohls
sind die öffentlichen Gewalten verpflichtet, die unveräußerlichen Grundrechte
der menschlichen Person zu achten. Die Gesellschaft muß jedem ihrer Glieder
ermöglichen, seine Berufung zu verwirklichen. Insbesondere besteht das
Gemeinwohl darin, daß man die natürlichen Freiheiten ausüben kann, die
unerläßlich sind, um die Berufung als Mensch zu entfalten: „das Recht zum
Handeln nach der rechten Norm seines Gewissens, das Recht auf Schutz des
Privatlebens und auf die rechte Freiheit, und zwar auch im religiösen
Bereich" (GS 26,2).
1908 Zweitens
verlangt das Gemeinwohl das soziale Wohl und die Entwicklung der Gemeinschaft.
Entwicklung ist der Inbegriff aller sozialen Aufgaben. Gewiß kommt es der
Autorität zu, im Namen des Gemeinwohls zwischen den verschiedenen
Sonderinteressen als Schiedsrichterin zu walten. Sie muß aber einem jeden das
zugänglich machen, was für ein wirklich menschliches Leben notwendig ist, wie
Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Bildung, richtige
Information und Recht auf Familiengründung [Vgl. GS 26,2].
1909 Zum
Gemeinwohl gehört schließlich der Friede, das heißt die Dauerhaftigkeit und
Sicherheit einer gerechten Ordnung. Es setzt somit voraus, daß die Autorität
durch rechte Mittel die Sicherheit der Gesellschaft und deren Glieder
gewährleistet. Es begründet das Recht auf persönliche und kollektive
Selbstverteidigung.
1910 Jede
menschliche Gemeinschaft besitzt ein Gemeinwohl, durch das sie sich als solche
erkennen kann. Am vollständigsten wird dies in der politischen Gemeinschaft
verwirklicht. Es ist Aufgabe des Staates, das Gemeinwohl der bürgerlichen
Gesellschaft, der Bürger und der kleineren Gemeinwesen zu schützen und zu
fördern.
1911 Die
gegenseitige Abhängigkeit der Menschen wächst und erstreckt sich allmählich
über die ganze Erde. Die Einheit der Menschheitsfamilie, welche Menschen
gleicher natürlicher Würde vereint, setzt ein weltweites Gemeinwohl voraus.
Dieses erfordert eine Gliederung der Völkergemeinschaft, die imstande ist, „den
verschiedenen Bedürfnissen der Menschen nach Kräften Rechnung zu tragen, und
zwar sowohl in den Bereichen des sozialen Lebens, z. B. Ernährung, Gesundheit,
Erziehung, Arbeit, als auch in besonderen Situationen, die hier und dort
entstehen können" (GS 84,2), etwa durch Flüchtlingshilfe und Unterstützung
Heimatloser und ihrer Familien.
1912 Das
Gemeinwohl ist stets auf den Fortschritt der Personen ausgerichtet, „denn die
Ordnung der Dinge ist der Ordnung der Personen zu unterwerfen und nicht
umgekehrt" (GS 26,3). Diese Ordnung gründet in der Wahrheit, wird in der
Gerechtigkeit aufgebaut und ist durch die Liebe beseelt.
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