KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE
NOTIFIKATION
1. Das Lehramt der Kirche, das die Pflicht hat, die Glaubenslehre zu fördern und zu hüten und sie vor den immer wiederkehrenden Gefahren zu bewahren, die von manchen Denkströmungen und bestimmten Praktiken herkommen, hat sich im 19. Jahrhundert wiederholt mit den Ergebnissen der geistigen Arbeit des Priesters Antonio Rosmini Serbati (1797 –1855) befaßt. Das Lehramt hat im Jahr 1849 zwei seiner Werke auf den Index gesetzt, im Jahr 1854 seine Schriften opera omnia durch das Dekret der Indexkongregation aus dem Verfahren entlassen und danach im Jahr 1887 vierzig Lehrsätze, die hauptsächlich aus dem Nachlaß und anderen noch zu seinen Lebzeiten herausgegebenen Werken stammen, durch das Dekret Post obitum der Heiligen Kongregation des Heiligen Uffiziums verurteilt (Denz . 3201 –3241). 2. Eine ungenaue und oberflächliche Lektüre dieser mehrfachen Stellungnahmen könnte einen wirklichen und objektiven Widerspruch seitens des Lehramtes vermuten lassen bezüglich der Art und Weise, wie es die Inhalte des rosminischen Denkens auslegt und dem Volk Gottes gegenüber beurteilt. Aber eine aufmerksame Lektüre nicht nur der Texte, sondern auch des Zusammenhangs und der Situation, in der sie veröffentlicht wurden, verhilft zu einer wachsamen und konsequenten wenn auch notwendigerweise fortschreitenden Betrachtung, die immer und in jedem Fall auf die Bewahrung des katholischen Glaubens abzielt und entschlossen ist, keine abwegigen oder verkürzenden Auslegungen zuzulassen. In diesem Rahmen ist die vorliegende Notifikation über die lehramtliche Bedeutung der obengenannten Dekrete zu sehen. 3. Das Dekret von 1854, mit dem Rosminis Werke entlassen wurden, bestätigt die Anerkennung der Rechtgläubigkeit seines Denkens und seiner erklärten Absichten, denn nachdem seine zwei Werke 1849 auf den Index gesetzt worden waren, schrieb er an den sel. Papst Pius IX. :»Ich will mich in allem auf die Autorität der Kirche stützen, und ich will, daß die ganze Welt weiß, daß ich nur dieser Autorität folge« (1). Das Dekret selbst wollte aber keineswegs besagen, daß das Lehramt das rosminische Denksystem als theologisch-philosophisches Hilfsmittel angenommen hat, noch wollte es eine Meinung hinsichtlich der spekulativen und theoretischen Plausibilität der Anschauungen des Autors zum Ausdruck bringen. 4. Die Situation nach Rosminis Tod erforderte eine Distanzierung von seinem Denksystem und besonders von einigen seiner Formulierungen. Es ist notwendig, vor allem die kulturellen und geschichtlichen Hauptfaktoren aufzuhellen, die diese distanzierte Stellungnahme beeinflußten, die in der Verurteilung der »vierzig Sätze« durch das Dekret Post obitum von 1887 gipfelte. Der erste Faktor bezieht sich auf die geplante Erneuerung des kirchlichen Studiums, die von der Enzyklika Aeterni Patris (1879) Leos XIII. gemäß der Lehre des Thomas von Aquin gefördert wurde. Das päpstliche Lehramt hielt es für notwendig, ein philosophisches und theoretisches Mittel – als das der Thomismus galt – bereitzustellen, das imstande war, die Einheit des kirchlichen Studiums vor allem in der Ausbildung der Priester in den Seminaren und an den theologischen Fakultäten vor der Gefahr des philosophischen Ekklektizismus zu schützen. Und das schuf die Voraussetzungen für eine negative Beurteilung einer philosophischen und spekulativen Position wie der rosminischen, die sich sprachlich und begrifflich von der philosophischen und theologischen Denkarbeit des Thomas von Aquin unterschied. Als zweiter Faktor ist zu berücksichtigen, daß die verurteilten Sätze zum Großteil den posthum veröffentlichten Werken des Autors entnommen sind, deren Publikation jedes kritischen Apparates entbehrt, der den exakten Sinn der in ihnen enthaltenen Ausdrücke und Begriffe erschließen kann. Das führte dazu, die rosminische Lehre im irrgläubigen Sinn zu deuten, auch auf Grund der objektiven Schwierigkeit ihre Kategorien zu interpretieren, vor allem wenn sie in neuscholastischer Sicht gelesen werden. 5. Außer diesen Faktoren, die aus der damaligen geschichtlichen, kulturellen und kirchlichen Situation erwuchsen, muß dennoch zugegeben werden, daß sich im rosminischen Denksystem manchmal doppeldeutige und mißverständliche Begriffe und Ausdrücke finden, die eine aufmerksame Lektüre erfordern und nur im Licht des allgemeinen Kontextes des Werkes des Autors geklärt werden können. Die Doppeldeutigkeit, die Mißverständnisse und die schwierige Verstehbarkeit einiger in den verurteilten Sätzen enthaltener Worte und Kategorien erklären u. a. die Auslegungen nach einem idealistischen, ontologistischen und subjektivistischen Schlüssel, die von nichtkatholischen Denkern gemacht wurden, vor denen das Dekret Post obitum objektiv warnt. Die Achtung vor der geschichtlichen Wahrheit erfordert außerdem, daß die wichtige Rolle des Verurteilungsdekretes unterstrichen und bekräftigt wird. Das Dekret, das die »Vierzig Sätze« verurteilt hat, hat nicht nur die echte Sorge des Lehramtes in bezug auf irrige und abweichende und dem katholischen Glauben widersprechende Auslegungen der rosminischen Lehre zum Ausdruck gebracht, sondern hat auch vorhergesehen, was tatsächlich in der Auffassung des »Rosminismus« geschehen ist, und zwar unter der intellektuellen Schicht der philosophischen und laizistischen Kultur, die vom transzendenten Idealismus und vom logischen und ontologischen Idealismus geprägt ist. Die tiefreichende Folgerichtigkeit des Urteils des Lehramtes in seinen vielfachen Stellungnahmen in dieser Angelegenheit wird belegt durch die Tatsache, daß sich das Dekret Post obitum nicht auf die Beurteilung der formellen Verneinung der Glaubenswahrheit seitens des Autors bezieht, sondern auf die Tatsache, daß das philosophisch-theologische Denksystem Rosminis als unzureichend und unangemessen erachtet wurde, um einige Wahrheiten der katholischen Glaubenslehre zu bewahren und auszulegen, die doch vom Autor selbst anerkannt und bezeugt wurden. 6. Andererseits muß man zugeben, daß eine verbreitete ernsthafte und exakte wissenschaftliche Lektüre der Lehre von Antonio Rosmini, die im katholischen Bereich von Theologen und Philosophen verschiedener Denkrichtungen zum Ausdruck kam, gezeigt hat, daß die dem Glauben und der katholischen Lehre widersprechenden Auslegungen in Wirklichkeit nicht die wahre Einstellung Rosminis wiedergeben. 7. Nach einer vertieften Prüfung der beiden im 19. Jahrhundert promulgierten lehramtlichen Dekrete und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Geschichtsschreibung und wissenschaftlichen und theoretischen Forschung der letzten Jahrzehnte ist die Kongregation für die Glaubenslehre zu folgenden Ergebnisse gekommen: Die Gründe der lehramtlichen zur Vorsicht mahnenden Besorgnis und Schwierigkeit, die zur Promulgierung des Verurteilungsdekrets Post obitum der »Quaranta Proposizioni« aus den Werken Antonio Rosminis geführt haben, sind nunmehr als überholt zu betrachten. Und zwar aufgrund der Tatsache, daß der Sinngehalt der Sätze, wie er im genannten Dekret verstanden und verurteilt wird, nicht der wahren Auffassung Rosminis entspricht, sondern auf mögliche Schlußfolgerungen aus der Lektüre seiner Werke zurückgeht. Die Frage der Plausibilität der rosminischen Lehre, ihre spekulative Konsistenz und die in ihr zum Ausdruck gebrachten philosophischen und theologischen Theorien oder Hypothesen stehen aber weiterhin theoretisch zur Diskussion. Zugleich behält das Dekret Post obitum in bezug auf die Verordnung der verurteilten Sätze für denjenigen seine objektive Gültigkeit, der sie, abgesehen vom Kontext des rosminischen Denkens, in einer idealistischen ontologischen Sicht und einem Sinn liest, die im Gegensatz zur katholischen Glaubenslehre stehen. . 8. Im übrigen reiht die Enzyklika Johannes Pauls II. Fides et ratio zwar Rosmini unter die jüngsten Denker ein, in denen sich eine fruchtbare Begegnung zwischen dem philosophischen Wissen und dem Wort Gottes vollzieht; die Enzyklika fügt aber gleichzeitig hinzu, daß man mit diesem Hinweis »natürlich nicht alle Gesichtspunkte ihres Denkens bestätigen, sondern lediglich sprechende Beispiele eines philosophischen Forschungsweges vorstellen möchte, der aus der Auseinandersetzung mit den Vorgaben des Glaubens beachtenswerte Vorteile gezogen hat« (2). 9. Es ist auch zu bekräftigen, daß der spekulative und geistig-begriffliche Versuch Antonio Rosminis von großer Kühnheit und Mut zeugt, auch wenn er nicht ganz frei von einer gefährlichen Vermessenheit ist, besonders in einigen Formulierungen. Er will der katholischen Glaubenslehre neue Möglichkeiten in bezug auf die Herausforderungen des modernen Denkens anbieten, und er hat sich vor einem asketischen und geistlichen Horizont abgewickelt, der auch von seinen schärfsten Gegnern anerkannt wird. Er hat Ausdruck in den Werken gefunden, die zur Errichtung des Instituts der Nächstenliebe und der Schwestern von der göttlichen Vorsehung geführt haben. Papst Johannes Paul II. hat im Verlauf der Audienz am 8. Juni 2001, die dem unterzeichneten Kardinal-Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre gewährt wurde, diese in der Ordentlichen Sitzung beschlossene Notifikation über die Bedeutung der lehramtlichen Dekrete bezüglich des Denkens und der Werke des Priesters Antonio Rosmini Serbati gebilligt und ihre Veröffentlichung angeordnet. Rom, am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre, 1. Juli 2001 + JOSEPH Kard. RATZINGER Präfekt + TARCISIO BERTONE, S. D. B.
______________________ Anmerkungen 1 Antonio Rosmini, Lettera al Papa Pio IX, in: Epistolario completo, Casale Monferrato, tip. Panc 1892, vol. X, 541 (lett. 634 1). 2 Papst Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 74, in: AAS, XCI, 1999 – 1,62.
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