|
Feierliche Verabschiedung von Erzbischof Gerhard Ludwig Müller im Bistum Regensburg 23. September 2012 Während meiner Münchner Zeit fiel mein Blick beim Betreten der Pfarrkirche, in der ich 16 Jahre lang die heilige Messe feierte, täglich auf eine Sonnenuhr mit dem lateinischen Spruch: »ultima latet«. Jeder, der das Gotteshaus betritt oder an ihm vorbeigeht, wird daran erinnert, dass im unaufhaltsamen Fluss der Zeit seine letzte Stunde schon auf ihn wartet. Jeder – ohne Ausnahme – muss diese Welt und alles, was ihm lieb ist, zurücklassen. Auf diesen entscheidenden Augenblick können wir uns aber vorbereiten. Im Angesicht des Todes entscheidet sich, ob unser Leben einen Sinn hatte oder ob alles Mühen und Sorgen, Lieben und Leiden vergeblich war. Ein Seelsorger, der Todkranken und Sterbenden beisteht, sieht sich immer wieder konfrontiert mit dieser dramatischen Wahrheit über den Menschen. Wenn ein junges Mädchen nach der Teilnahme am Weltjugendtag im blühenden Alter von 16 Jahren, nach einer letzten Phase körperlichen Leidens und seelischer Not sein Gesicht schon »in Finsternis und Todesschatten« (Lk 1,79) zum Heiland am Kreuz erhebt und sagt: »Jesus ich liebe dich«, dann spürt man die Gewissheit, dass der Tod doch nicht das Leben als absurd überführen kann. Der heilige Schriftsteller, der uns den Hebräerbrief im Neuen Testament geschenkt hat, sagt realistisch und ohne jeden Anflug von Illusion, was es mit der menschlichen Existenz auf sich hat: Es ist »dem Menschen bestimmt, ein einziges Mal zu sterben, worauf dann das Gericht folgt« (Hebr 9,27). Hoffnungsstark fährt er fort: So »wurde auch Christus ein einziges Mal geopfert, um die Sünden vieler hinwegzunehmen« und bei seiner Wiederkunft »die zu retten, die ihn erwarten« (Hebr 9,28). Die Wende in dem menschlich betrachtet immer aussichtslosen Kampf zwischen Leben und Tod hat der herbeigeführt, der sich in Jesus Christus als Schöpfer der Welt und Vollender des Menschen geoffenbart hat. Der Apostel Paulus beschreibt die conditio humana vollkommen klar, wenn er im Römerbrief feststellt: »Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat« (Röm 8,20). Der Sünde wegen ist alles der Vergänglichkeit unterworfen. »Aber zugleich«, so fährt Paulus fort, »gab er ihr Hoffnung. Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Röm 8,21). Die einzige Macht, die dem Tod gewachsen ist, ist die Liebe Christi! Sie gibt uns eine Orientierung in der Zeit und eine Perspektive hinein in die Ewigkeit. Daher resignieren wir nicht, wühlen wir uns nicht in einen Weltschmerz hinein, lassen wir uns nicht von Todessehnsucht die Freude am Leben und unseren Lieben nehmen; daher werden wir auch nicht zynisch oder halten voll Hass auf Gott, den die Gläubigen verehren, die Endlichkeit nur heroisch aus. Wir flüchten auch nicht in einen Rausch von Genuss und Konsum, der die Angst vor dem Nichts überdröhnt und das Leben trivialisiert. So war und bleibt meine Lebensmaxime: frohes Gottvertrauen, tätige Nächstenliebe und heitere Gelassenheit. Der an Christus Glaubende begreift seine Talente als Gaben Gottes, er erfüllt seine täglichen Aufgaben und Pflichten gegenüber Gott und dem Nächsten und trägt die Widrigkeiten des irdischen Weges und die Bosheiten von Zeitgenossen in der unerschütterlichen Gewissheit: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?« (Röm 8,31f.). Um dieses Evangelium sammelt sich die Kirche. Sie bleibt der Welt die Botschaft vom Sieg des Lebens über Sünde und Tod, über das Absurde und Vergebliche, den Hass auf Gott und die Verachtung des Menschen nicht schuldig. Auch unter den erschwerten Bedingungen der Verweltlichung und eines Denkens und Verhaltens, als ob Gott nicht da wäre, das auch viele Christen prägt, die sich der Bedeutung des Glaubens an Gott und seine Liebe nicht mehr recht klar sind, muss das Evangelium in seiner ganzen Fülle verkündet und gelebt werden. Wir können nicht dem anpassungsschlauen oder sogar verschlagenen Rat folgen, das Wort Gottes, das doch in Ewigkeit bleibt (vgl. Petr 1,25), auf dem Jahrmarkt von Meinungen und Ideologien feilzubieten, es wie ein Parteiprogramm der Wählergunst auszuliefern oder wie ein verwelktes Blatt im Meinungswind hin- und hertreiben zu lassen. Wer sich der Wahrheit über den Menschen im Leben und Sterben voller Ernst und Würde stellt, der ist immun gegenüber den Verheißungen von Selbsterlösung und dem Sirenengesang des Wellness-Betriebs. Es ist evident, dass das Geschaffene nur der Weg des Menschen zu Gott, nicht aber das Ziel des Menschen sein kann! Aus den Kulissen der sich entweder sanft oder schrill darstellenden »Welt ohne Gott« tritt der Nihilismus heraus wie ein Gespenst, das sich in einem lebensmüden Europa umhertreibt. Wie der Souffleur aus seinem Kasten flüstert es uns ein, alles sei nur Theater, viel Schein ohne Sein. Im Gegensatz zum Atheismus ist der Glaubende jedoch weltoffen, weil die Schöpfung die Güte Gottes uns gegenüber manifestiert. Die Schönheit der Natur, das Spannende der Geschichte, das Faszinierende in jeder Biographie ist nicht der falsche Schein des Nichts, sondern der Glanz des Kosmos, der vom Logos, der Vernunft des Wortes Gottes geordneten Welt, in dem sich die Herrlichkeit und Macht Gottes widerspiegelt. Die Vernunft, mit der Gott uns Menschen ausgezeichnet hat, lässt sich nicht von den Zombies des Nihilismus und der Verzweiflung beeindrucken. Wer seine Situation bedenkt, der erfährt im Glauben an Gott, dass hinter der Welt der Erscheinungen das Sein Gottes, seine Wahrheit und Güte stehen, die uns ein unerschütterliches Fundament unter die Füße geben. Die Schöpfung weist uns auf Gottes Gottsein und seine ewige Macht. Sie ist Anteilhabe am Sein und Leben Gottes. Sie ist nicht eine leere Endlichkeit, die wir auffüllen könnten oder eine absurde und verlorene Existenz in einem Kosmos, der auf unsere Fragen nicht antworten oder unsere Leiden nicht mitfühlen könnte. Die Welt in Geist und Materie, der Mensch mit Seele und Leib, mit seiner Freiheit und Vernunft, die Geschichte in der Verknüpfung der Einzelschicksale mit der gesamten Folge der Generationen, die ganze Schöpfung ist ein Beweis für den Heilswillen Gottes. Von ihm her haben wir alles empfangen, was wir sind und haben. Der Mensch schwebt nicht über dem leeren Abgrund, der ihn am Ende verschlingt oder ihn im Nirwana seines Personseins beraubt. Unser Leben liegt in Gottes Hand. Geschöpf Gottes zu sein, ist etwas grenzenlos Positives, das aller Negativität standhält. Gott verausgabt sich nicht in seiner Schöpfung, so dass zwischen ihm und uns eine Rivalität entstehen könnte. Je näher wir ihm im Glauben und in der Hoffnung kommen, desto mehr erfahren wir den Gott der dreieinigen Liebe als den Garanten unserer Freiheit und als unseren Vollender in seinem Leben. Denn es heißt: »Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade« (Joh 1,16). In der großen geistigen Auseinandersetzung geht es heute weltweit – wie in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte – nicht um Nebensächliches, Nervenkitzel und die Streitereien zwischen den selbsternannten Erlösern der Menschheit, die doch immer nur sich als betrogene Betrüger entlarven. Im Widerstreit von Tod und Leben gibt es nur einen Sieger! Das ist die Botschaft des Christentums, die die Kirche trägt und auch ihren Hirten und den Dienern des göttlichen Wortes tagtäglich Kraft und Zuversicht gibt: das Evangelium vom Sieg Christi über den Tod und die Erfüllung unserer Hoffnung in der Auferstehung und im ewigen Leben. »Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? (…) Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn« (1 Kor 15,54ff.). Liebe Schwestern und Brüder! Das war – mit den Worten des hl. Paulus gesagt – die Triebfeder meiner Verkündigung als Oberhirte der Gläubigen im Bistum Regensburg vom Christkönigsfest 2002 bis heute. Im Blick auf die Zukunft empfehle ich mich Ihnen mit den Worten des Völkerapostels: »Daher, geliebte Brüder und Schwestern, seid standhaft und unerschütterlich, nehmt immer eifriger am Werk des Herrn teil, und denkt daran, dass im Herrn eure Mühe nicht vergeblich ist« (1 Kor 15,58). Amen. (in: L’Osservatore Romano dt. Nr. 40 vom 5.10.2012, S. 12) |