BENEDIKT XVI.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 14. September 2005
Lesung: Psalm 132, 1–3.5.8–9
1 Die Erwählung Davids und des Zion [Ein Wallfahrtslied.] O Herr, denk an David, denk an all seine Mühen,
2 wie er dem Herrn geschworen, dem starken Gott Jakobs gelobt hat:
3 »Nicht will ich mein Zelt betreten noch mich zur Ruhe betten,
4 nicht Schlaf den Augen gönnen noch Schlummer den Lidern,
5 bis ich eine Stätte finde für den Herrn, eine Wohnung für den starken Gott Jakobs.«
6 Wir hörten von seiner Lade in Efrata, fanden sie im Gefilde von Jáar.
7 Laßt uns hingehen zu seiner Wohnung und niederfallen vor dem Schemel seiner Füße!
8 Erheb dich, Herr, komm an den Ort deiner Ruhe, du und deine machtvolle Lade!
9 Deine Priester sollen sich bekleiden mit Gerechtigkeit, und deine Frommen sollen jubeln.
10 Weil David dein Knecht ist, weise deinen Gesalbten nicht ab!
Psalm 132, 1-10
Die göttlichen Verheißungen an David
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Wir haben den ersten Teil von Psalm 132 gehört, einem Hymnus, der in der Liturgie der Vesper an zwei verschiedenen Stellen vorkommt. Nicht wenige Experten meinen, daß dieses Lied bei der feierlichen Übertragung der Bundeslade des Herrn erklungen ist, die Zeichen für die Gegenwart Gottes unter dem Volk Israel in Jerusalem, der von David gewählten Hauptstadt, war.
In der Erzählung dieses Ereignisses, wie es uns von der Bibel berichtet wird, ist zu lesen: König David »tanzte mit ganzer Hingabe vor dem Herrn her und trug dabei das leinene Efod. So brachten David und das ganze Haus Israel die Lade des Herrn unter Jubelgeschrei und unter dem Klang des Widderhorns hinauf« (2 Sam 6,14–15).
Andere Gelehrte hingegen führen Psalm 132 auf eine Feier zum Gedächtnis an dieses frühere Ereignis zurück, nachdem David den Gottesdienst im Heiligtum von Zion eingerichtet hatte.
2. Der genannte Hymnus scheint eine liturgische Dimension vorauszusetzen. Wahrscheinlich wurde er bei Prozessionen gesungen, bei denen Priester und Gläubige anwesend waren unter Beteiligung eines Chores.
Der Liturgie der Vesper folgend, betrachten wir nun die ersten zehn Psalmverse, die uns soeben zu Gehör gebracht worden sind. Mittelpunkt dieses Abschnitts ist der von David feierlich geleistete Schwur. Denn es heißt, daß er – nachdem er den schweren Konflikt mit seinem Vorgänger König Saul hinter sich gebracht hatte – »dem Herrn geschworen, dem starken Gott Jakobs gelobt hat« (Ps 132,2). Der Inhalt dieser in den Versen 3–5 ausgesprochenen feierlichen Verpflichtung ist eindeutig: Der Herrscher wird den Königspalast von Jerusalem nicht betreten und sich nicht zur Ruhe begeben, bevor nicht eine Stätte für die Lade des Herrn gefunden ist.
Das ist sehr wichtig, weil es zeigt, daß es im Mittelpunkt des sozialen Lebens einer Stadt, einer Gemeinschaft, eines Volkes eine Gegenwart geben muß, die das Geheimnis des transzendenten Gottes in Erinnerung ruft, das heißt ein Raum für Gott, eine Wohnung für Gott. Der Mensch kommt ohne Gott nicht vorwärts, er muß in der Geschichte mit Gott gemeinsam auf dem Weg sein, und der Tempel, die Wohnung Gottes, hat die Aufgabe, diese Gemeinschaft, dieses Sich-von-Gott-führen-Lassen, sichtbar zu machen.
3. An dieser Stelle wird, nachdem die Worte Davids erklungen sind, vielleicht durch den Text eines liturgischen Chors, das Gedächtnis der Vergangenheit lebendig. Denn es wird an die Auffindung der Lade im Gefilde von Jáar in der Region Efrata erinnert (vgl. V. 6). Dort war die Lade lange geblieben, nachdem die Philister sie an Israel zurückgegeben hatten, das sie zuvor in einer Schlacht verloren hatte (vgl. 1 Sam 7,1; 2 Sam 6,2.11). Sie wird also aus dem Hinterland in die zukünftige Heilige Stadt überführt, und unser Hymnus endet mit einer fröhlichen Feier, die auf der einen Seite das betende Volk (vgl. Ps 132,7.9), das heißt die liturgische Versammlung, und auf der anderen Seite den Herrn zeigt, der im Zeichen der auf Zion aufgestellten Bundeslade und damit unter seinem Volk wieder gegenwärtig ist und wirkt (vgl. V. 8).
Das Wesentliche der Liturgie ist diese Beziehung zwischen Priestern und Gläubigen einerseits und dem Herrn in seiner Macht anderseits.
4. Zur Besiegelung des ersten Teils von Psalm 132 erklingt ein Bittgebet für die Könige, die David nachfolgen: »Weil David dein Knecht ist, weise deinen Gesalbten nicht ab« (V. 10). Man sieht also den kommenden Nachfolger Davids, »deinen Gesalbten«.
Es ist leicht, in diesem Gebet, das anfangs dazu bestimmt war, für den jüdischen Herrscher Hilfe in den Prüfungen des Lebens zu erflehen, eine messianische Dimension zu vermuten. Denn der Begriff »Gesalbter« ist die Übersetzung des jüdischen »Messias«. So geht der Blick des Beters über die Ereignisse im Reich Juda hinaus und richtet sich auf die große Erwartung des vollkommenen »Gesalbten«, des Messias, der bei Gott immer Gefallen finden und von ihm geliebt und gesegnet sein wird. Und er wird nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt der »Gesalbte«, der König sein. Er, Gott, ist mit uns, und man erwartet diesen »Gesalbten«, der dann in der Person Jesu Christi gekommen ist.
5. Diese messianische Interpretation im Hinblick auf den künftigen »Gesalbten« wird in der christlichen Schriftauslegung vorherrschen und sich auf den ganzen Psalm erstrecken.
Bedeutsam ist zum Beispiel, wie Esychios von Jerusalem, ein Priester der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, Vers 8 auf die Menschwerdung Christi bezieht. In seiner Zweiten Homilie über die Gottesmutter wendet er sich an die Jungfrau: »Dich und den von dir Geborenen besingt David unablässig mit der Zither: ›Erheb dich, Herr, komm an den Ort deiner Ruhe, du und deine machtvolle Lade!‹ (Ps 132,8).« Wer ist diese »machtvolle Lade«? Esychios antwortet: »Offensichtlich die Jungfrau, die Mutter Gottes. Denn wenn du die Perle bist, ist sie mit gutem Recht die Lade; wenn du die Sonne bist, wird die Jungfrau notwendigerweise Himmel genannt; und wenn du die unberührte Blume bist, wird die Jungfrau die unvergängliche Pflanze sein, das Paradies der Unsterblichkeit« (Testi mariani del primo millennio, I, Rom 1988, Ss. 532–533).
Mir scheint diese zweifache Auslegung sehr wichtig. Der »Gesalbte« ist Christus. Christus, der Sohn Gottes selbst, ist Mensch geworden. Und die Bundeslade, die wahre Wohnung Gottes in der Welt, nicht aus Holz, sondern aus Fleisch und Blut, ist die Gottesmutter, die sich dem Herrn als Bundeslade anbietet und lädt uns ein, ebenfalls lebendige Wohnung Gottes in der Welt zu sein.
Das alttestamentliche Volk Israel hegt eine starke Sehnsucht nach Gottes Nähe. Psalm 132, der uns soeben zu Gehör gebracht wurde, steht im Kontext der liturgischen Erinnerung Israels an den feierlichen Einzug der Bundeslade, die das Zeichen der göttlichen Gegenwart in Jerusalem ist. Die Beter machen sich den Schwur des Königs zu eigen: „Nicht will ich mein Zelt betreten ..., bis ich eine Stätte finde für den Herrn“ (V. 5). Im Herzen der Gemeinschaft muß es einen Ort geben, an dem die Menschen dem transzendenten Gott begegnen können.
Mit der Berufung auf die Erwählung König Davids verbindet sich die innige Bitte an Jahwe, immer bei seinem Volk zu bleiben. Die „machtvolle Lade“ ist ein Unterpfand für Gerechtigkeit und Frieden in einer Gemeinschaft, die in Gott ihren Ursprung und ihr Ziel hat. Die christliche Gebetstradition nimmt diese Anrufung auf. Sie erblickt in der Bundeslade die jungfräuliche Gottesmutter Maria, in der das Göttliche Wort Fleisch geworden, ist um unter uns zu wohnen.
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Von Herzen grüße ich die Pilger und Besucher deutscher Sprache. Besonders heiße ich heute Diakone aus dem Erzbistum Hamburg und aus der Diözese Limburg willkommen, sowie besonders auch die jungen Gäste der Päpstlichen Schweizergarde. Nehmt euch Christus zum Vorbild in allen Entscheidungen eures Lebens! Sein Geist mache euch bereit, stets das Gute zu vollbringen.
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