BENEDIKT XVI.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 30. November 2005
Lesung: Psalm 137,1–6
1 Heimweh nach dem Zion in der Verbannung
An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
2 Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.
3 Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, unsere Peiniger forderten Jubel:
»Singt uns Lieder vom Zion!«
4 Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?
5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.
6 Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke,
wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe.
Psalm 137
„An den Strömen von Babel“
Liebe Brüder und Schwestern!
1. An diesem ersten Mittwoch im Advent, der liturgischen Zeit der Stille, des Wachens und Betens in Vorbereitung auf Weihnachten, betrachten wir Psalm 137, der in der lateinischen Fassung seiner Anfangsworte berühmt geworden ist: »Super flumina Babylonis – An den Strömen von Babel«. Der Text erinnert an die Tragödie, die das jüdische Volk während der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. und der anschließenden Babylonischen Gefangenschaft erlebte. Wir haben das Klagelied eines Volkes vor uns, das von einer herben Sehnsucht nach dem Verlorenen gezeichnet ist.
Dieser gramerfüllte Bittruf an den Herrn, seine Gläubigen aus der babylonischen Sklaverei zu befreien, drückt auch die Gefühle der Hoffnung und Heilserwartung aus, mit denen wir unseren adventlichen Weg begonnen haben.
Der erste Teil des Psalms (vgl. V. 1–4) hat als Hintergrund das Land des Exils mit seinen Flüssen und Kanälen, die die babylonische Ebene bewässerten, den Ort der verschleppten Juden. Es ist wie die symbolische Vorwegnahme der Vernichtungslager, in denen das jüdische Volk – in dem gerade erst hinter uns gelassenen Jahrhundert – einer abscheulichen Vernichtungsaktion ausgesetzt war, die als eine unauslöschliche Schande in der Geschichte der Menschheit geblieben ist.
Der zweite Teil des Psalms (vgl. V. 5–6) hingegen ist von der liebevollen Erinnerung an Zion erfüllt, die verlorene Stadt, die aber im Herzen der Verbannten weiterlebt.
2. Nach den Worten des Psalmisten sind dabei die Hand, die Zunge, der Gaumen, die Stimme, die Tränen in Mitleidenschaft gezogen. Die Hand ist für den Harfenspieler unentbehrlich: Aber nun ist sie vom Schmerz gelähmt (vgl. V. 5), auch weil die Harfen an die Weiden gehängt wurden.
Die Zunge ist für den Sänger notwendig, aber nun klebt sie am Gaumen (vgl. V. 6). Vergeblich verlangen die babylonischen Zwingherren von ihnen »Lieder…, Lieder vom Zion« (V. 3). Die »Lieder vom Zion« sind »Lieder des Herrn« (vgl. V. 3-4), keine volkstümlichen, zur Unterhaltung bestimmten Lieder. Sie können nur im Gottesdienst und in der Freiheit eines Volkes zum Himmel aufsteigen.
3. Gott, der höchste Herr über die Geschichte, wird nach dem Maße seiner Gerechtigkeit auch den Schrei der Opfer – trotz der bitteren Akzente, die er bisweilen annimmt – verstehen und erhören können.
Wir wollen uns für eine weitere Betrachtung über unseren Psalm dem hl. Augustinus anvertrauen. In sie führt der große Kirchenvater eine überraschende und hochaktuelle Bemerkung ein: Er weiß, daß es auch unter den Bewohnern von Babylon Menschen gibt, die sich für den Frieden und das Gemeinwohl einsetzen, obwohl sie den biblischen Glauben nicht teilen, also die Hoffnung auf die ewige Stadt, nach der wir streben, nicht kennen. Sie tragen in sich einen Funken von Sehnsucht nach dem Unbekannten, dem Größten, dem Transzendenten, nach einer wahren Erlösung. Und Augustinus sagt, daß es sogar unter den Verfolgern, unter den Nichtgläubigen Menschen mit diesem Funken, mit einer Art von Glauben und Hoffnung gebe, soweit es ihnen unter ihren Lebensumständen möglich sei. Mit diesem Glauben an eine, wenngleich unbekannte Wirklichkeit sind sie tatsächlich auf dem Weg zum wahren Jerusalem, zu Christus. Und mit dieser hoffnungsvollen Offenheit auch gegenüber den Babyloniern – wie Augustinus sie nennt –, gegenüber jenen, die Christus und auch Gott nicht kennen und sich trotzdem nach dem Unbekannten, nach dem Ewigen sehnen, richtet er auch an uns die Mahnung, nicht nur auf die materiellen Dinge des gegenwärtigen Augenblicks zu starren, sondern auf dem Weg zu Gott auszuharren. Nur mit dieser größten Hoffnung können wir auch diese Welt in der richtigen Weise verändern. Der hl. Augustinus sagt das mit folgenden Worten: »Wenn wir Bürger Jerusalems sind… und auf dieser Erde, in den Wirren der heutigen Welt, im gegenwärtigen Babylon leben müssen, wo wir nicht als Bürger weilen, sondern gefangen gehalten werden, dann müssen wir alles, was der Psalm sagt, nicht nur singen, sondern es leben: Das geschieht mit einer tiefen Bestrebung des Herzens, das erfüllt ist von frommer Sehnsucht nach der ewigen Stadt.«
Und mit Blick auf die »irdische Stadt, die da heißt Babylon« fügt er hinzu: sie »hat Menschen, die sich, von Liebe zu ihr bewegt, bemühen, ihren Frieden – den zeitlichen Frieden – dadurch zu gewährleisten, daß sie im Herzen keine andere Hoffnung hegen, ja ihre ganze Freude da hineinlegen, ohne sich etwas anderes vorzunehmen. Und wir sehen, wie sie sich alle Mühe geben, um sich für die irdische Gesellschaft nützlich zu machen. Wenn sie sich mit reinem Gewissen für diese Aufgaben verwenden, wird Gott nicht zulassen, daß sie mit Babylon zugrunde gehen, nachdem er sie vorher dazu bestimmt hat, Bürger Jerusalems zu sein: allerdings unter der Voraussetzung, daß sie, während sie in Babylon leben, nicht dessen Stolz, vergänglichen Prunk und ärgerliche Überheblichkeit anstreben… Er sieht ihre Knechtschaft und wird ihnen jene andere Stadt zeigen, nach der sie sich wirklich sehnen und auf die sie alle Mühe richten müssen« (Esposizioni sui Salmi, 136 [137], 1–2: Nuova Biblioteca Agostiniana, XXVIII, Rom 1977, S. 397. 399).
Bitten wir den Herrn, daß in uns allen diese Sehnsucht, diese Offenheit gegenüber Gott erwache und daß auch jene, die Christus nicht kennen, von seiner Liebe berührt werden können, so daß wir alle gemeinsam zur endgültigen Stadt pilgern und das Licht dieser Stadt auch in unserer Zeit und in unserer Welt sichtbar werden kann.
Unsere erste Katechese im Advent – der Zeit der Stille, des Wachens und des Betens in der Vorbereitung auf Weihnachten – gilt dem Psalm 137. Dieses Lied handelt vom leidvollen Weg des Volkes Israel in der babylonischen Gefangenschaft und von seiner Sehnsucht nach der Heimat.
Angesichts der Verbannung versagen dem Psalmisten Stimme, Mund und Hand: „Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?“ (V. 4). Israels Lieder vom Zion sind kein Spektakel zur Unterhaltung der Peiniger; sie können nur in der Freiheit und zum Lob Gottes erklingen. Der Herr zeigt denen, die sich mit reinem Gewissen um das irdische Wohl der Menschen mühen, den Ort, den sie ersehnen und auf den sie ihr ganzes Streben ausrichten müssen.
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Einen frohen Gruß richte ich an alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Durch die Taufe sind wir Glieder des mystischen Leibes Christi, der Kirche, und werden zu Bürgern des himmlischen Jerusalems. Tragt die Gewißheit dieser hohen Berufung in eurem Herzen. So könnt ihr mit Gottes Hilfe die Herausforderungen des irdischen Lebens meistern. – In dieser adventlichen Zeit begleite euch der Herr mit seinem Segen!
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