BENEDIKT XVI.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 11. Januar 2006
Lesung: Psalm 144, 1–8
1 Danklied auf das Glück des Gottesvolkes [Von David] Gelobt sei der Herr, der mein Fels ist, der meine Hände den Kampf gelehrt hat, meine Finger den Krieg.
2 Du bist meine Huld und Burg, meine Festung, mein Retter, mein Schild, dem ich vertraue. Er macht mir Völker untertan.
3 Herr, was ist der Mensch, daß du dich um ihn kümmerst, des Menschen Kind, daß du es beachtest?
4 Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten.
5 Herr, neig deinen Himmel, und steig herab, rühre die Berge an, so daß sie rauchen.
6 Schleudre Blitze, und zerstreue die Feinde, schieß deine Pfeile ab, und jag sie dahin!
7 Streck deine Hände aus der Höhe herab, und befreie mich; reiß mich heraus aus gewaltigen Wassern, aus der Hand der Fremden!
8 Alles, was ihr Mund sagt, ist Lüge, Meineide schwört ihre Rechte.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Unsere Reise durch den Psalter, der im Stundengebet der Vesper verwendet wird, führt heute zu einem königlichen Hymnus: Psalm 144. Dessen erster Teil ist soeben erklungen, denn die Liturgie stellt uns diesen Gesang in zwei Teilen vor.
Der erste Teil (vgl. V. 1–8) enthüllt auf sehr klare Weise den literarischen Charakter dieser Komposition: Der Psalmist greift auf Zitate aus anderen Psalmtexten zurück und artikuliert sie in einem neuen Gesangs- und Gebetsentwurf.
Gerade weil der Psalm aus einer späteren Epoche stammt, fällt es leicht, daran zu denken, daß der König, der hier verherrlicht wird, nicht mehr die Züge des davidischen Herrschers hat, da das jüdische Königtum mit dem Babylonischen Exil des 6. Jahrhunderts vor Christus zu Ende gegangen war, sondern daß er die glänzende und glorreiche Gestalt des Messias repräsentiert, dessen Sieg nicht mehr ein kriegerisch-politisches Ereignis ist, sondern ein befreiendes Eingreifen gegen das Böse. An die Stelle des »Messias« – das hebräische Wort bezeichnet den »Gesegneten«, wie es der Herrscher war – tritt so der »Messias« schlechthin, der in der christlichen Interpretation das Antlitz Jesu Christi trägt, »des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams« (Mt 1,1).
2. Der Hymnus wird mit einem Lob eröffnet, mit einem Ausruf des Lobes auf den Herrn, der mit einer kleinen Litanei von Heilstiteln gerühmt wird: Er ist der sichere und unverrückbare Fels, er ist die liebevolle Huld, die geschützte Festung, der Zufluchtsort, die Befreiung und der Schild, der jeden Angriff des Bösen abhält (vgl. Ps 144,1–2). Das ist auch das martialische Bild von Gott, der seinen Gläubigen für den Kampf schult, damit dieser sich der feindseligen Umgebung und den dunklen Mächten der Welt zu stellen vermag.
Vor dem allmächtigen Herrn fühlt sich der Beter selbst in seiner königlichen Würde schwach und zerbrechlich. Da stößt er ein Bekenntnis seiner Demut hervor, das er in Worte faßt, die, wie gesagt, den Psalmen 8 und 39 entnommen sind: Er fühlt sich in der Tat wie ein »Hauch« und ein flüchtiger Schatten, kümmerlich und unbeständig, eingetaucht in den Fluß der Zeit, die verrinnt, gezeichnet von der Begrenztheit, die wesentlich zum Geschöpf gehört (vgl. Ps 144, 4).
3. Daraus ergibt sich nun die Frage: Warum kümmert sich Gott überhaupt um dieses arme und schwache Geschöpf und beachtet es? Auf diese Frage (vgl. V. 3) antwortet die großartige Herabkunft Gottes, die sogenannte Theophanie, begleitet von einem Festzug aus kosmischen Elementen und historischen Ereignissen, die darauf ausgerichtet sind, die Transzendenz des höchsten Königs des Seins, des Universums und der Geschichte zu preisen.
Da ist von Bergen die Rede, die wie bei Vulkanausbrüchen rauchen (vgl. V. 5), von Blitzen, die Pfeilen ähnlich sind und die Bösen auseinandertreiben (vgl. V. 6), von den »gewaltigen Wassern« des Ozeans, die das Chaos symbolisieren, aus dem der König jedoch durch die Hand Gottes gerettet wird (vgl. V. 7). Im Hintergrund befinden sich die gottlosen Frevler, die lügen und Meineide schwören (vgl. V. 7–8), eine dem semitischen Stil entsprechende konkrete Darstellung des Götzendienstes, der moralischen Verirrung und des Bösen, das sich tatsächlich Gott und seinem Gläubigen widersetzt.
4. In unserer Betrachtung wollen wir uns nun zunächst auf das Bekenntnis der Demut konzentrieren, das der Psalmist ausspricht. Dazu vertrauen wir uns den Worten des Origenes an, dessen Kommentar zu dieser Textstelle in der lateinischen Version des hl. Hieronymus auf uns gekommen ist. »Der Psalmist spricht von der Zerbrechlichkeit des Leibes und der menschlichen Verfassung«, denn »was seine Verfassung angeht, ist der Mensch ein Nichts. ›Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch‹, sagte Kohelet«. Aber da taucht wieder die erstaunte und dankbare Frage auf: »›Herr, was ist der Mensch, daß du dich ihm offenbarst?‹… Es ist eine große Glückseligkeit für den Menschen, seinen Schöpfer zu kennen. Darin unterscheiden wir uns von den wilden Tieren und den anderen Lebewesen: Wir wissen, daß wir unseren Schöpfer haben, während sie das nicht wissen«. Es lohnt sich, ein wenig über diese Worte des Origines nachzudenken, der den grundlegenden Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen darin sieht, daß der Mensch fähig ist, Gott, seinen Schöpfer, zu erkennen, daß der Mensch fähig zur Wahrheit ist, fähig zu einer Kenntnis, die zur Beziehung, zur Freundschaft wird. In unserer Zeit ist es wichtig, daß wir neben allen anderen Kenntnissen, die wir inzwischen erworben haben – und sie sind überaus zahlreich! –, Gott nicht vergessen! Alle diese Kenntnisse werden nämlich problematisch, ja manchmal gefährlich, wenn die grundlegende Kenntnis fehlt, die allem Sinn und Orientierung verleiht: die Kenntnis von Gott, dem Schöpfer.
Kehren wir zu Origines zurück. Er sagt: »Du wirst dieses Häufchen Elend, das der Mensch ist, nicht retten können, wenn du sein Elend nicht selbst auf dich nimmst. ›Herr, neige deinen Himmel und steig herab.‹ Dein verirrtes Schaf wird nicht gesund werden können, wenn du es nicht auf deine Schultern nimmst… Diese Worte sind an den Sohn gerichtet: ›Herr, neige deinen Himmel und steig herab‹ … Du bist herabgestiegen, du hast den Himmel herabgesenkt und von oben deine Hand ausgestreckt und dich herabgelassen, das Fleisch des Menschen auf dich zu nehmen, und viele haben an dich geglaubt« (Origenes-Hieronymus, 74 Predigten über das Buch der Psalmen, Mailand 1993, S. 512–515). Für uns Christen ist Gott nicht mehr eine Hypothese wie in der Philosophie vor der Zeit des Christentums, sondern eine Realität, weil Gott »den Himmel geneigt hat und herabgestiegen ist«. Der Himmel ist er selbst, und er ist herabgestiegen mitten unter uns. Mit Recht sieht Origenes im Gleichnis vom verlorenen Schaf, das der Hirt auf seine Schultern nimmt, das Gleichnis von der Menschwerdung Gottes. Ja, in der Menschwerdung ist er herabgestiegen und hat unser Fleisch und damit uns selbst auf seine Schultern genommen. Auf diese Weise ist die Kenntnis Gottes Wirklichkeit geworden, sie ist Freundschaft, Gemeinschaft geworden. Danken wir dem Herrn, denn »er hat seinen Himmel geneigt und ist herabgestiegen«. Er hat unser Fleisch auf seine Schultern genommen und trägt uns auf den Wegen unseres Lebens.
Der Psalm, der mit unserer Entdeckung beginnt, daß wir schwach und weit entfernt sind vom göttlichen Glanz, mündet schließlich in dieses große und wunderbare Staunen über das Wirken Gottes: Bei uns ist Gott-Immanuel, der für den Christen das liebevolle Antlitz Jesu Christi trägt, des Mensch gewordenen Gottes, der einer von uns geworden ist.
Im festen Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe stimmt der Beter von Psalm 144 dankbar einen Lobpreis des Allerhöchsten an. Er weiß sich unter dem Schutz des Herrn. Dies drückt der Psalmist in einer ganzen Reihe von Ehrentiteln aus: Der Herr ist sein Fels, seine Burg und Festung, sein Retter und Schild (vgl. VV. 1-2). Vor der Größe und Güte Gottes erkennt der Gläubige zugleich die eigene Schwachheit: „Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten“ (V. 4).
Diese demütige Erkenntnis führt aber zu einer neuen Einsicht: Gott kommt den Menschen entgegen! Der Schöpfer trägt Sorge für seine Geschöpfe. Er sendet seinen Sohn vom Himmel herab – als Mensch unter die Menschen. Im Staunen vor der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes lobpreisen wir Christen den Herrn als den Emmanuel. Er ist in der Tat der „Gott mit uns“, der sich im liebenden Antlitz Jesu Christi, unseres Erlösers, offenbart.
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Von Herzen heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher willkommen. Gott will allen Menschen nahe sein. Seine liebende Nähe wird besonders auch in einer wahren und echten Gemeinschaft sichtbar. Liebe Freunde, tragt in eurer Umgebung dazu bei, daß Gemeinschaft wachsen und sich entfalten kann. Der Heilige Geist geleite euch auf allen Wegen.
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