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BENEDIKT XVI.

GENERALAUDIENZ

Petersplatz
Mittwoch, 6. April 2011

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Hl. Theresia von Lisieux

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über die hl. Theresia von Lisieux, Theresia vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz, sprechen. Sie hat nur 24 Jahre in dieser Welt gelebt, am Ende des 19. Jahrhunderts, und ein sehr einfaches und verborgenes Leben geführt, ist aber nach ihrem Tod und der Veröffentlichung ihrer Schriften zu einer der bekanntesten und beliebtesten Heiligen geworden. Die »kleine Theresia« läßt nicht nach, den einfachen Seelen, den Kleinen, den Armen und den Leidenden zu helfen, die zu ihr beten, aber sie hat auch die ganze Kirche mit ihrer tiefen geistlichen Lehre erleuchtet. Daher hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst Johannes Paul II. ihr 1997 den Titel der Kirchenlehrerin verliehen, zusätzlich zu dem der Patronin der Missionen, den sie bereits 1927 von Pius XI. erhalten hatte. Mein geliebter Vorgänger bezeichnete sie als »Expertin der ›scientia amoris‹« (Novo millennio ineunte, 42).

Diese »Wissenschaft«, die in der Liebe die ganze Wahrheit des Glaubens erstrahlen sieht, faßt Theresia vor allem in ihrer Lebensbeschreibung in Worte, die ein Jahr nach ihrem Tod unter dem Titel Geschichte einer Seele veröffentlicht wurde. Dieses Buch war sofort sehr erfolgreich, wurde in viele Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt verbreitet. Ich möchte euch einladen, diesen kleinen und doch so großen Schatz wiederzuentdecken, diesen leuchtenden, in ganzer Fülle gelebten Kommentar zum Evangelium! Die Geschichte einer Seele ist in der Tat eine wunderbare Liebesgeschichte, die mit einer solchen Wahrhaftigkeit, Einfachheit und Frische erzählt wird, daß sie den Leser einfach faszinieren muß! Aber welche Liebe hat Theresias ganzes Leben, von der Kindheit bis zum Tod, erfüllt? Liebe Freunde, diese Liebe hat ein Antlitz, sie hat einen Namen: Jesus! Die Heilige spricht unablässig von Jesus. Ich möchte also die großen Abschnitte ihres Lebens nachvollziehen, um in das Herz ihrer Lehre einzutreten.

Theresia wird am 2. Januar 1873 in Alençon, einer Stadt in der Normandie in Frankreich geboren. Sie ist die jüngste Tochter von Louis und Zélie Martin, vorbildlichen Eheleuten und Eltern, die am 19. Oktober 2008 gemeinsam seliggesprochen wurden. Sie hatten neun Kinder; vier von ihnen starben bereits in zartem Alter. Übrig blieben fünf Töchter, die alle Ordensfrauen wurden. Mit vier Jahren wurde Theresia vom Tod ihrer Mutter zutiefst getroffen (Ms A, 13r; vgl. Therese von Lisieux, Geschichte einer Seele und weitere Selbstzeugnisse, gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Otto Karrer, München 1952, S. 34–36). Der Vater zog daraufhin mit den Töchtern in die Stadt Lisieux, wo sich das ganze Leben der Heiligen abspielen wird. Später wurde Theresia, die von einem schweren Nervenleiden befallen wurde, durch eine göttliche Gnade geheilt, die sie selbst als das »Lächeln der seligsten Jungfrau « bezeichnet (29v–30v; ebd. S. 61). Dann empfing sie die Erstkommunion, die sie zutiefst erlebte (35r; vgl. ebd., S.70–72), und stellte den eucharistischen Jesus in den Mittelpunkt ihrer Existenz. Die »Weihnachtsgnade« von 1886 ist die große Wende, die sie als »meine vollständige innere Wandlung« bezeichnet (44v–45r; ebd., S. 85): Sie wird von ihrer kindlichen Überempfindlichkeit geheilt und beginnt voranzuschreiten, »wie ein Riese seinen Weg läuft«.

Im Alter von 14 Jahren nähert sich Theresia immer mehr mit großem Glauben dem gekreuzigten Jesus und nimmt sich des scheinbar aussichtslosen Falles eines zum Tode verurteilten und unbußfertigen Verbrechers an (45v–46v; ebd., S.88–89). »Um jeden Preis wollte ich die Sünder dem ewigen Verderben entreißen«, schreibt die Heilige in der Gewißheit, daß ihr Gebet ihn dem erlösenden Blut Christi zugeführt hätte. Es ist ihre erste und grundlegende Erfahrung der geistlichen Mutterschaft. »So sehr vertraue ich auf deine [Jesu] grenzenlose Barmherzigkeit«, schreibt sie (ebd., S. 88). Wie die Gottesmutter Maria liebt, glaubt und hofft die junge Theresia »mit dem Herzen einer Mutter« (vgl. PR 6/10r).

Im November 1887 begibt sich Theresia zusammen mit ihrem Vater und der Schwester Céline auf eine Pilgerreise nach Rom (55v–67r; vgl. ebd., S. 107–124). Der Höhepunkt ist für sie die Audienz bei Papst Leo XIII., den sie um Erlaubnis bittet, mit 15 Jahren in den Karmel von Lisieux eintreten zu dürfen. Ein Jahr später wird ihr Wunsch Wirklichkeit: Sie wird Karmelitin, »um Seelen zu retten und besonders für die Priester zu beten« (69v; ebd., S. 130). Gleichzeitig beginnt auch die schmerzhafte und demütigende Geisteskrankheit ihres Vaters. Dieser große Schmerz bringt Theresia dazu, das Antlitz Jesu in seinem Leiden zu betrachten (71rv; vgl. ebd., S. 133). So bringt sie durch ihren Ordensnamen – Schwester Theresia vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz – ihren ganzen Lebensplan zum Ausdruck, vereint mit den zentralen Geheimnissen der Menschwerdung und der Erlösung.

Ihre Ordensprofeß am Fest Mariä Geburt, dem 8. September 1890, ist für sie eine wahre geistliche Vermählung in der »Kleinheit« nach dem Evangelium, für die sie das Symbol der Blume gebraucht. Sie schreibt: »Mariä Geburt, welch schönes Fest für die Vermählung mit Christus! Das kleine Kind Maria brachte dem kleinen Jesus seine kleine Blume dar« (77r; ebd., S. 145). Ordensfrau zu sein bedeutet für Theresia, Braut Christi und Mutter der Seelen zu sein (vgl. Ms B, 2v). Am selben Tag schreibt die Heilige ein Gebet, das die ganze Ausrichtung ihres Lebens darlegt: Sie bittet Jesus um das Geschenk seiner grenzenlosen Liebe; sie bittet darum, die Kleinste zu sein, und vor allem bittet sie um das Heil aller Menschen: »Keine Seele soll heute in die Verdammnis geraten« (Pr 2). Von großer Bedeutung ist ihre Weihe an die barmherzige Liebe, die sie am Dreifaltigkeitssonntag des Jahres 1895 vornimmt (Ms A, 83v–84r; Pr 6; vgl. ebd., S. 160–161). An dieser Weihe läßt Theresia, die bereits stellvertretende Novizenmeisterin ist, ihre Mitschwestern sofort teilhaben.

1896, zehn Jahre nach der »Weihnachtsgnade«, kommt die »Ostergnade«, die Theresias letzten Lebensabschnitt eröffnet: der Beginn ihres Leidens in tiefer Vereinigung mit dem Leiden Jesu. Es ist ein leibliches Leiden in Form der Krankheit, die sie durch große Leiden zum Tod führen wird, vor allem aber ein Leiden der Seele in Form einer äußerst schmerzlichen Glaubensprüfung (Ms C, 4v–7v). Mit Maria beim Kreuz Jesu lebt Theresia damals einen heroischen Glauben, wie Licht in der Finsternis, die in ihre Seele eindringt. Die Karmelitin ist sich bewußt, daß sie diese große Prüfung für das Heil aller glaubenslosen Menschen der modernen Welt lebt, die sie »Brüder« nennt. Daher lebt sie die geschwisterliche Liebe noch intensiver (8r–33v; vgl. ebd., S. 169–190): zu den Schwestern ihrer Gemeinschaft, zu den Missionaren, ihren geistlichen Brüdern, zu den Priestern und zu allen Menschen, besonders den Fernstehenden. Sie wird wirklich zu einer »universalen Schwester«! Ihre sanfte und lächelnde Liebe ist Ausdruck der tiefen Freude, deren Geheimnis sie uns offenbart: »Jesus, dich zu lieben ist meine Freude« (P 45/7). Mitten in diesem Leiden lebt die Heilige die größte Liebe in den kleinsten Dingen des Alltags und erfüllt so ihre Berufung, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein (vgl. Ms B, 3v; vgl. ebd., S. 232).

Theresia stirbt am Abend des 30. September 1897 mit den einfachen Worten »Mein Gott, ich liebe Dich!«; ihr Blick ist auf das Kreuz gerichtet, das sie in Händen hält. Diese letzten Worte der Heiligen sind der Schlüssel zu ihrer ganzen Lehre, zu ihrer Auslegung des Evangeliums. Die Liebesbekundung, die sie in ihrem letzten Atemzug machte, war gleichsam der ständige Atem ihrer Seele, ihr Herzschlag. Die einfachen Worte »Jesus, ich liebe dich« stehen im Mittelpunkt all ihrer Schriften. Die Liebe zu Jesus nimmt sie in die allerheiligste Dreifaltigkeit hinein. Sie schreibt: »Ach du weißt, daß ich dich liebe, göttlicher Jesus, / Der Geist der Liebe entflammt mich mit seinem Feuer, / In der Liebe zu dir ziehe ich den Vater an« (P 17/2).

Liebe Freunde, gemeinsam mit der hl. Theresia vom Kinde Jesu sollten auch wir dem Herrn jeden Tag immer wieder sagen können, daß wir aus der Liebe zu ihm und zu den anderen leben und in der Schule der Heiligen lernen wollen, wahrhaft und vollkommen zu lieben. Theresia ist eine der »Kleinen« des Evangeliums, die sich von Gott in die Tiefen seines Geheimnisses führen lassen. Sie ist eine Führerin für alle, besonders für jene, die im Gottesvolk den Dienst der Theologen ausüben. Mit Demut und Liebe, Glauben und Hoffnung dringt Theresia unablässig in das Herz der Heiligen Schrift vor, die das Geheimnis Christi enthält. Und eine solche Lektüre der Bibel, von der »Wissenschaft der Liebe« genährt, steht nicht im Gegensatz zur akademischen Wissenschaft. Die »Wissenschaft der Heiligen«, von der sie selbst am Ende der Geschichte einer Seele spricht, ist die höchste Wissenschaft. »Alle Heiligen haben dies begriffen, vielleicht am besten solche, die die Welt mit der Predigt des Evangeliums erhellten. Der heilige Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes vom Kreuz, die heilige Theresia und so viele Gottesfreunde – schöpften sie nicht aus dem Gebete ihre ganze erhabene Weisheit, das Entzücken der größten Geister?« (Ms C, 36r; ebd., S. 220–221). Die Eucharistie, vom Evangelium untrennbar, ist für Theresia das Sakrament der göttlichen Liebe, die sich bis zum Äußersten erniedrigt, um uns zu Gott zu erheben. In ihrem letzten Brief schreibt die Heilige über ein Bild, auf dem das Jesuskind in der geweihten Hostie dargestellt ist, diese einfachen Worte: »Ich kann einen Gott, der für mich so klein geworden ist, nicht fürchten! (.…) Ich liebe ihn! Denn er ist nichts als Liebe und Barmherzigkeit!« (LT 266).

Im Evangelium entdeckt Theresia vor allem die Barmherzigkeit Jesu. Sie sagt sogar: »Er hat mir seine unendliche Barmherzigkeit geschenkt; durch sie betrachte und verehre ich die anderen göttlichen Vollkommenheiten! (…) Dann erscheinen mir alle strahlend vor Liebe, und selbst die Gerechtigkeit – vielleicht noch mehr als jede andere – scheint mir mit Liebe bekleidet (Ms A, 84r). So drückt sie sich auch am Ende der Geschichte einer Seele aus: »Ich brauche nur das heilige Evangelium aufzuschlagen, da weht mir der Duft des Lebens Jesu entgegen, und ich weiß, wohin ich mich wenden soll. Nicht auf den ersten Platz stürze ich mich – zum untersten eile ich. … Selbst wenn ich alle möglichen Verbrechen auf dem Gewissen hätte, ich glaube, mein Vertrauen wäre doch nicht geringer: mit einem vom Schmerz der Reue gebrochenen Herzen eilte ich in die Arme meines Erlösers. Ich weiß, er liebte den verlorenen Sohn« (Ms C, 36v–37r; ebd., S. 221–222). »Vertrauen und Liebe« sind also der Schlußpunkt ihrer Lebensbeschreibung, zwei Worte, die ihren ganzen Weg der Heiligkeit wie Leuchtfeuer erhellt haben, um andere auf demselben »kleinen Weg des Vertrauens und der Liebe«, der geistlichen Kindschaft zu leiten (vgl. Ms C, 2v–3r; LT 226): ein Vertrauen wie das eines Kindes, das sich in die Hände Gottes fallen läßt. Dieses Vertrauen ist nicht zu trennen vom starken, radikalen Einsatz der wahren Liebe, der immerwährenden Selbsthingabe, wie die Heilige mit Blick auf Maria sagt: »Zu lieben heißt, alles hinzuschenken, sich selbst hinzuschenken« (Warum ich dich liebe, o Maria, P 54/22). So zeigt Theresia uns allen, daß das christliche Leben darin besteht, die Taufgnade durch die völlige Selbsthingabe an die Liebe des Vaters in Fülle zu leben, um wie Christus im Feuer des Heiligen Geistes seine Liebe zu allen Menschen zu leben.

* * *

Von Herzen grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Die heilige Therese von Lisieux lädt uns ein, den »kleinen Weg« zu gehen. Sie sagt: Auf dem Marathon des Glaubens will ich die allerletzte sein, aber es reicht mir anzukommen. Und wenn ich die größte Sünderin wäre, würde ich mich voll Vertrauen in die Hände Gottes stürzen. Sie lädt uns ein, den »kleinen Weg« zu gehen, den einfachen Weg des Vertrauens, darauf zu vertrauen, daß Christus in uns wirkt und wir mit unserer Liebe zu den Menschen darauf antworten. So können wir dem Wirken Gottes in der Welt Raum geben. Der Herr begleite euch auf allen euren Wegen.

 

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