APOSTOLISCHE REISE NACH SANTIAGO DE COMPOSTELA UND BARCELONA
(6.-7. NOVEMBER 2010)
MESSE ANLÄSSLICH DES
HEILIGEN COMPOSTELANISCHEN JAHRES
PREDIGT VON PAPST BENEDIKT XVI.
»Plaza del Obradoiro« in Santiago de Compostela
Samstag, 6. November 2010
Liebe Brüder und Schwestern in Jesus Christus!
Ich danke Gott für das Geschenk, hier sein zu dürfen, auf diesem herrlichen Platz voller Kunst, Kultur und geistlicher Bedeutung. In diesem Heiligen Jahr komme ich als Pilger unter Pilgern, gemeinsam mit vielen, die hierher kommen und nach dem Glauben an den auferstandenen Christus dürsten, nach dem Glauben, der von den Aposteln wie dem heiligen Jakobus dem Älteren, der seit unvordenklichen Zeiten in Compostela verehrt wird, treu verkündet und weitergegeben wurde.
Ich danke Erzbischof Julián Barrio Barrio, dem Hirten dieser Teilkirche, für seine freundlichen Worte des Willkommens und Ihren Königlichen Hoheiten, dem Prinzenpaar von Asturien, den Kardinälen wie auch den zahlreichen Mitbrüdern im Bischofs- und Priesteramt, für ihre werte Anwesenheit. Einen aufrichtigen Gruß richte ich auch an die Abgeordneten des Europaparlaments, die Mitglieder der Vereinigung »Camino de Santiago« sind, sowie an die Vertreter des öffentlichen Lebens auf nationaler, regionaler und örtlicher Ebene, die heute an dieser Feier zugegen sein wollten. All das ist Zeichen der Verehrung gegenüber dem Nachfolger Petri und auch der tiefen Empfindung, die der heilige Jakobus von Compostela in Galicien und in anderen Orten Spaniens, das diesen Apostel als seinen Patron und Beschützer bekennt, wachruft. Herzlich grüße ich ebenso die Personen des geweihten Lebens, die Seminaristen und Gläubigen, die an dieser Eucharistiefeier teilnehmen, und mit besonderer Gemütsbewegung die Pilger, die den echten »jakobischen« Geist bilden, ohne den man wenig oder nichts von dem, was hier stattfindet, verstehen würde.
Ein Satz aus der ersten Lesung sagt mit bewundernswerter Einfachheit: »Mit großer Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn« (Apg 4,33). In der Tat steht am Ausgangspunkt von all dem, was das Christentum war und weiter ist, nicht eine menschliche Initiative oder ein menschlicher Plan, sondern Gott, der Jesus gerecht und heilig erklärt gegenüber dem Urteil jenes menschlichen Gerichts, das ihn als Gotteslästerer und Umstürzler verurteilte; Gott, der Jesus Christus dem Tod entrissen hat; Gott, der allen Gerechtigkeit verschafft, die ungerechterweise die Gedemütigten der Geschichte sind.
»Zeugen dieser Ereignisse sind wir und der Heilige Geist, den Gott allen verliehen hat, die ihm gehorchen« (Apg 5,32), sagen die Apostel. So gaben sie nämlich Zeugnis vom Leben, vom Tod und von der Auferstehung Jesu Christi, den sie von der Zeit her kannten, als er predigte und Wunder wirkte. An uns liegt es heute, liebe Brüder, dem Beispiel der Apostel zu folgen, den Herrn jeden Tag mehr kennenzulernen und ein klares und gültiges Zeugnis seines Evangeliums zu geben. Es gibt keinen größeren Schatz, den wir unseren Zeitgenossen anbieten können. So ahmen wir auch den heiligen Paulus nach, der inmitten vieler Plagen froh ausrief: »Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, daß das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt« (2 Kor 4,7).
Zusammen mit diesen Worten des Völkerapostels sind da die Worte des Evangeliums selbst, das wir soeben vernommen haben, die dazu einladen, nach der Demut Christi zu leben, der in allem dem Willen des Vater gehorchte und gekommen ist, »um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). Dem Bruder zu dienen ist für die Jünger, die Christus nachfolgen wollen, nicht eine bloße Option, sondern wesentlicher Teil des eigenen Seins. Es ist ein Dienst, der nicht anhand der weltlichen Kriterien des Unmittelbaren, des Materiellen und des Scheins gemessen wird. Vielmehr macht er die Liebe Gottes zu allen Menschen und in allen Aspekten gegenwärtig und gibt selbst in den einfachsten Gesten Zeugnis von Ihm. Wenn Jesus diese neue Weise der Beziehung in Gemeinschaft auf der Grundlage der Logik der Liebe und des Dienens vorschlägt, wendet er sich auch an die »Herrscher der Völker«, denn wo es keinen Einsatz für die anderen gibt, entstehen Formen von Anmaßung und Ausnutzung, die einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen keinen Raum lassen. Und ich möchte, daß diese Botschaft vor allem die jungen Menschen erreicht: Gerade euch zeigt dieser wesentliche Inhalt des Evangeliums den Weg, damit ihr im Verzicht auf eine egoistische Denkweise von kurzer Reichweite, die euch oft vorgeschlagen wird, und in der Annahme der Denkweise Jesu euch voll verwirklichen und Samen der Hoffnung sein könnt.
Daran erinnert uns auch die Feier dieses Heiligen Jahres von Compostela. Das ist es, was viele Pilger, die nach Santiago de Compostela gehen, um den Apostel zu umarmen, im Innersten ihres Herzens erleben – deutlich bewußt oder in einem Spüren, ohne es in Worte fassen zu können. Die Beschwerlichkeit des Gehens, der Abwechslungsreichtum der Landschaft, die Begegnung mit Personen anderer Nationalität machen sie offen für das, was uns zutiefst und gemeinsam mit den Menschen verbindet: Wir sind Wesen, die auf der Suche sind, Wesen, die der Wahrheit und Schönheit bedürfen, der Erfahrung von Gnade, Liebe und Frieden, Vergebung und Erlösung. Und ganz tief verborgen in all diesen Menschen hallen Gottes Gegenwart und das Wirken des Heiligen Geistes wider. Ja, jeder Mensch, der in seinem Inneren still wird und sich von seinen Leidenschaften, Wünschen und unmittelbaren Tätigkeiten löst, der Mensch, der betet, den erleuchtet Gott, damit er ihm begegne und Christus erkenne. Wer nach Santiago pilgert, tut das im Grunde, um vor allem Gott zu begegnen, der im Abbild der Majestät Christi ihn bei seiner Ankunft am Portikus der Glorie empfängt und segnet.
Von hier aus möchte ich als Botschafter des Evangeliums, das Petrus und Jakobus mit ihrem Blut bekräftigten, einen Blick auf Europa werfen, das nach Compostela pilgerte. Welche sind die großen Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen Europas? Was ist der besondere und grundlegende Beitrag der Kirche für dieses Europa, das in den letzten fünfzig Jahren einen Weg hin zu neuen Gestaltungsformen und Entwürfen zurückgelegt hat? Ihr Beitrag geht um eine Wirklichkeit so einfach und entscheidend wie diese: Gott existiert, und er hat uns das Leben gegeben. Er allein ist absolut, er ist treue und unvergängliche Liebe, unendliches Ziel, das hinter allem Guten, hinter aller wunderbaren Wahrheit und Schönheit dieser Welt durchscheint – alles wunderbar, aber für das Herz des Menschen nicht genug. Dies hat die heilige Teresa von Jesus gut erfaßt, als sie schrieb: »Gott allein genügt«.
Es ist eine Tragödie, daß sich in Europa, besonders im 19. Jahrhundert, die Überzeugung durchsetzte und verbreitete, daß Gott der Gegenspieler des Menschen und der Feind seiner Freiheit sei. Damit wollte man den wahren biblischen Glauben an Gott verdunkeln, der seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt hat, damit keiner zugrunde gehe, sondern alle das ewige Leben haben (vgl. Joh 3,16).
Gegenüber einem Heidentum, dem zufolge Gott den Menschen beneidet und verachtet, bekräftigt der Verfasser des Buches der Weisheit entschieden: Weshalb hätte Gott alles erschaffen, wenn er es nicht geliebt hätte, Er, der in seiner unbegrenzten Fülle keiner Sache bedarf? (vgl. Weish 11,24-26). Weshalb hätte er sich den Menschen offenbart, wenn er sie nicht hätte beschützen wollen? Gott ist der Ursprung unseres Seins und das Fundament und der Gipfel unserer Freiheit, nicht ihr Gegner. Wie kann der sterbliche Mensch sich auf sich selbst gründen, und wie kann der sündige Mensch sich mit sich selbst versöhnen? Wie ist es möglich, daß über diese erste und wesentliche Wahrheit des menschlichen Lebens in der Öffentlichkeit geschwiegen wird? Wie kann das, was im Leben am meisten maßgebend ist, in die bloße Privatsphäre verwiesen oder in den Halbschatten verbannt werden? Wir Menschen können nicht im Finstern leben, ohne das Licht der Sonne zu sehen. Und wie ist es nun möglich, daß Gott, der Sonne des Verstandes, der Kraft des Willens und dem Magnet unserer Herzen, das Recht abgesprochen wird, dieses Licht anzubieten, das jede Finsternis vertreibt? Es ist deshalb notwendig, daß der Name Gottes unter dem Himmel Europas freudig wieder erklingt; daß dieses heilige Wort nie achtlos ausgesprochen wird; daß es nie verdreht wird und für ihm fremde Zwecke verwendet wird. Es muß heilig ausgesprochen werden. Es ist erforderlich, daß wir es so im täglichen Leben, im Schweigen der Arbeit, in der brüderlichen Liebe und in den Schwierigkeiten, die die Jahre mit sich bringen, wahrnehmen.
Europa muß sich Gott öffnen, muß ohne Angst heraustreten hin zur Begegnung mit Ihm, muß mit seiner Gnade für die Würde des Menschen arbeiten, die von den besten Traditionen erschlossen worden ist: Neben der biblischen, die diesbezüglich grundlegend ist, sind dies die Traditionen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, aus denen die großen philosophischen und literarischen, kulturellen und sozialen Schöpfungen Europas hervorgingen.
Dieser Gott und dieser Mensch sind es, die sich in Christus konkret und historisch kundgetan haben. Diesen Christus können wir auf den Wegen finden, die nach Compostela führen, da auf ihnen stets ein Kreuz ist, das uns an den Kreuzungen empfängt und uns die Richtung weist. Dieses Kreuz, Zeichen der höchsten Liebe, die bis zum Äußersten ging, und deshalb Gabe und Vergebung zugleich, muß unser Leitstern sein in der Nacht der Zeit. Kreuz und Liebe, Kreuz und Licht sind Synonyme unserer Geschichte, weil sich Christus in dieser Geschichte annageln ließ, um uns das höchste Zeugnis seiner Liebe zu geben, um uns zu Vergebung und Versöhnung einzuladen, um uns zu lehren, das Böse durch das Gute zu besiegen. Hört nicht auf, die Lehre dieses Christus der Kreuzungen auf den Lebenswegen zu lernen. In ihm kommt uns Gott entgegen als Freund, Vater und Führer. O gesegnetes Kreuz, leuchte immerzu in den Ländern Europas!
Laßt mich von hier aus die Größe des Menschen verkünden und vor den Bedrohungen seiner Würde durch die Aberkennung seiner ursprünglichen Werte und Reichtümer, durch Ausgrenzung oder Tod, die den Schwächsten und Ärmsten zugefügt werden, warnen. Man kann Gott keine Verehrung erweisen, ohne den Menschen als sein Kind zu beschützen, und man kann dem Menschen nicht dienen, ohne zu fragen, wer sein Vater sei, und auf diese Frage Antwort zu geben. Das Europa der Wissenschaft und Technologien, das Europa der Zivilisation und Kultur muß zugleich ein Europa sein, das offen ist für die Transzendenz wie auch für die Brüderlichkeit mit den anderen Kontinenten, offen für den lebendigen und wahren Gott vom lebendigen und wahren Menschen her. Das ist es, was die Kirche Europa bringen will: auf Gott und auf den Menschen zu achten aus dem Wissen heraus, daß uns beides in Jesus Christus dargeboten wird.
Liebe Freunde, richten wir einen hoffnungsvollen Blick auf alles, was Gott uns versprochen hat und uns anbietet. Er schenke uns seine Kraft, stärke die Erzdiözese Compostela, belebe den Glauben seiner Kinder und helfe ihnen, ihrer Berufung treu zu bleiben, das Evangelium auszusäen und ihm Nachdruck zu verleihen, auch in anderen Ländern. Der heilige Jakobus, der Freund des Herrn, erwirke reichen Segen für Galicien, für die anderen Völker Spaniens, Europas und vieler anderer Orte jenseits des Meeres, wo der Apostel Zeichen christlicher Identität und Förderer der Verkündigung Christi ist. Amen!
© Copyright 2010 - Libreria Editrice Vaticana
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana