SCHREIBEN VON BENEDIKT XVI.
AN KARDINAL WALTER KASPER
ANLÄSSLICH DER II. INTERNATIONALEN KONFERENZ
ÜBER FRIEDEN UND TOLERANZ
(ISTANBUL, 7.-9. NOVEMBER 2005)
An meinen verehrten Mitbruder
Kardinal WALTER KASPER
Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und
Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum
Mit Freude habe ich von der II. Konferenz über Frieden und Toleranz erfahren, die gemeinsam vom Ökumenischen Patriarchat und von der »Appeal of Conscience Foundation« organisiert wird unter dem Thema: »Dialogue and Understanding in South-East Europe, the Caucasus and Central Asia« [Dialog und Verständigung in Südosteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien]. Sie, verehrter Bruder, betraue ich mit der Aufgabe, den Teilnehmern, die sich in den kommenden Tagen in Istanbul versammeln, meine herzlichen Grüße zu übermitteln sowie meine Wertschätzung für ihr intensives Bemühen, die Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen zu fördern. Insbesondere bitte ich Sie, Seiner Heiligkeit Bartholomaios I., Erzbischof von Konstantinopel, meine besten brüderlichen Wünsche auszusprechen und Rabbiner Arthur Schneider in diesem Moment meiner geistlichen Nähe zu versichern.
Die Themen Frieden und Toleranz sind von entscheidender Bedeutung in einer Welt, in der starre Haltungen so oft mangelndes Verständnis und Leiden hervorrufen und sogar zu tödlicher Gewalt führen können. Der Dialog ist gewiß unerläßlich, wenn man Lösungen für verheerende Konflikte und Spannungen finden will, die der Gesellschaft so sehr schaden. Nur auf dem Weg des Dialogs kann die Hoffnung bestehen, daß die Welt ein Ort des Friedens und der Geschwisterlichkeit wird.
Es ist Pflicht jedes Menschen guten Willens und besonders jedes Gläubigen, zum Aufbau einer friedlichen Gesellschaft beizutragen und der Versuchung zur aggressiven und nutzlosen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen ethnischen Kulturen und Gruppen zu widerstehen. Jedes Volk der Welt hat die Pflicht, seinen Beitrag zu Frieden und Eintracht zu leisten, indem es sein geistliches und kulturelles Erbe und seine ethischen Werte in den Dienst der Menschheitsfamilie in aller Welt stellt. Zu erreichen ist dieses Ziel, wenn die rechte Achtung des Lebens und der Würde jeder menschlichen Person im Mittelpunkt der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung jeder Gemeinschaft stehen. Eine gesunde Gesellschaft fördert immer die Achtung der unantastbaren und unveräußerlichen Rechte aller Personen. »Ohne eine objektive sittliche Verankerung kann auch die Demokratie keinen stabilen Frieden sicherstellen« (Evangelium vitae, 70). Das bedeutet, daß der moralische Relativismus das Funktionieren der Demokratie aushöhlt, die allein die Toleranz und Achtung unter den Völkern nicht sicherstellen kann.
Deshalb sind die Hinführung zum Glauben und die Förderung der Versöhnung, überall wo es Verletzungen gegeben hat, von entscheidender Bedeutung. Die Achtung der Rechte des anderen, die im echten, aufrichtigen Dialog Frucht bringt, wird die praktischen Schritte weisen, die getan werden können. Jeder Mensch guten Willens hat die Pflicht, dieses Ziel anzustreben. Um so wichtiger ist das für diejenigen, die in Gott den Vater aller erkennen, dessen Barmherzigkeit allen unentgeltlich geschenkt wird, der gerecht urteilt und seine lebenspendende Freundschaft anbietet. Für die Christen ist die Hochherzigkeit des Schöpfers im Antlitz dessen sichtbar geworden, »der keine Sünde kannte, aber für uns zur Sünde gemacht wurde, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden« (vgl. 2 Kor 5,21), nämlich in Christus, der unser Frieden und unsere wahre Versöhnung ist.
Während ich Ihnen, verehrter Bruder, diese Gedanken übermittle, bitte ich Sie, anläßlich dieses Kongresses das entschlossene Bemühen der katholischen Kirche herauszustellen, sich unermüdlich für die Zusammenarbeit unter den Völkern, den Kulturen und den Religionen einzusetzen, damit reiche Gnaden und der Segen des Himmels auf alle Kinder Gottes herabkommen.
Aus dem Vatikan, am 4. November 2005
BENEDIKT XVI.
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