ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE MITGLIEDER DER STIFTUNG
"CENTESIMUS ANNUS - PRO PONTIFICE"
Samstag, 22. Mai 2010
Herr Kardinal,
verehrte Mitbrüder im bischöflichen
und priesterlichen Dienst,
sehr verehrte und liebe Freunde!
Es freut mich, euch anläßlich der von der Stiftung »Centesimus Annus – Pro Pontifice« organisierten Studientagung willkommenheißen zu dürfen. Ich grüße Herrn Kardinal Attilio Nicora, Erzbischof Claudio Maria Celli und alle weiteren hier anwesenden Bischöfe und Priester. Ein besonderer Gedanke gilt dem Präsidenten, Dr. Domingo Sugranyes Bickel, dem ich für seine freundlichen Worte danke, sowie euch, liebe Berater und Mitglieder der Stiftung, die ihr zusammen mit euren Familienangehörigen zu mir gekommen seid.
Ich schätze es sehr, daß eure Begegnung die Beziehung zwischen »Entwicklung, Fortschritt und Gemeinwohl« in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens stellt. Die Menschheitsfamilie kann nämlich heute mehr denn je nur dann als eine freie Gesellschaft von freien Völkern wachsen, wenn die Globalisierung von der Solidarität und dem Gemeinwohl wie auch von der dazugehörigen sozialen Gerechtigkeit geleitet wird, die in der Botschaft Christi und der Kirche eine kostbare Quelle finden. Die Krise und die Schwierigkeiten, unter denen zum gegenwärtigen Zeitpunkt die internationalen Beziehungen, die Staaten, die Gesellschaft und die Wirtschaft leiden, sind nämlich in hohem Maße durch den Mangel an Vertrauen und an einer angemessenen Ausrichtung an kreativer und dynamischer, auf das Gemeinwohl ausgerichteter Solidarität verursacht, die zu echt menschlichen Beziehungen der Freundschaft, der Solidarität und der Gegenseitigkeit auch »im Binnenbereich« der wirtschaftlichen Tätigkeit führen könnte. Das Gemeinwohl ist das Ziel, das dem Fortschritt und der Entwicklung Sinn gibt, die sich andernfalls allein auf die Produktion von materiellen Gütern beschränken würden; sie sind notwendig, doch ohne die Ausrichtung auf das Gemeinwohl kommt es am Ende zur Vorherrschaft von Konsumismus, Verschwendung, Armut und Ungleichgewicht; letztere sind Faktoren, die der Entwicklung entgegenstehen.
Wie ich in der Enzyklika Caritas in veritate festgestellt habe, besteht eine der größten Gefahren der gegenwärtigen Welt darin, »daß der tatsächlichen Abhängigkeit der Menschen und der Völker untereinander keine ethische Wechselbeziehung von Gewissen und Verstand der Beteiligten entspricht, aus der eine wirklich menschliche Entwicklung als Ergebnis hervorgehen könnte« (Nr. 9). Eine derartige Wechselbeziehung scheint zum Beispiel bei jenen Regierenden zu schwach ausgeprägt zu sein, die angesichts der sich wiederholenden Episoden von unverantwortlichen Spekulationen gegenüber den schwächsten Ländern nicht mit angemessenen Entscheidungen zur Leitung des Finanzwesens reagieren. Die Politik muß den Vorrang vor dem Finanzwesen haben, und die Ethik muß allem Handeln Orientierung geben.
Ohne den Bezugspunkt des universalen Gemeinwohls kann man nicht sagen, daß es ein wahres Weltethos und den ihm entsprechenden Willen gibt, es mit angemessenen Institutionen zu verwirklichen. Es ist daher entscheidend, daß jene Güter ermittelt werden, zu denen alle Völker im Hinblick auf ihre menschliche Erfüllung Zugang erhalten müssen. Und dies darf nicht in irgendeiner Art und Weise geschehen, sondern in geordneter und harmonischer Weise. Das Gemeinwohl setzt sich nämlich aus verschiedenen Gütern zusammen: aus materiellen, kognitiven und institutionellen Gütern sowie aus moralischen und geistlichen Gütern; letztgenannte sind die höheren Güter, denen erstere unterzuordnen sind. Der Einsatz für das Gemeinwohl der Familie der Völker wie für jede Gesellschaft bedeutet, die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen, so daß auf diese Weise die pólis, die Stadt des Menschen, Gestalt annimmt (vgl. ebd., 7). Es ist daher sicherzustellen, daß die wirtschaftlich-produktive Ordnung sozial verantwortlich und nach dem Maß des Menschen ausgerichtet wird und zwar durch gemeinsames und einheitliches Handeln in verschiedenen Bereichen, auch auf internationaler Ebene (vgl. ebd., 57.67). Gleichzeitig wird die Festigung der Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungssysteme in den Ländern, die sich dieser Güter noch nicht vollkommen erfreuen, gefördert werden müssen. Neben der wirtschaftlichen Hilfe bedarf es also der Unterstützung, um die dem Rechtsstaat eigenen Garantien, ein gerechtes und wirksames System der öffentlichen Ordnung unter Einhaltung der Menschenrechte sowie wirklich demokratische und Anteil haben lassende Institutionen zu stärken (vgl. ebd., 41).
Was jedoch hinsichtlich der Entwicklung der ganzen Familie der Völker grundlegend und vorrangig ist, ist der Einsatz für die Anerkennung der wahren Werte und Güter-Skala. Allein dank einer korrekten Hierarchie der menschlichen Güter ist es möglich zu verstehen, welche Art von Entwicklung gefördert werden muß. Die ganzheitliche Entwicklung der Völker ergibt sich nicht allein aus der Verbreitung der unternehmerischen Tätigkeit (vgl. ebd.), der materiellen und kognitiven Güter wie Wohnung und Bildung und der zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten. Sie ist besonders mit dem Wachstum jener guten Entscheidungen gegeben, die möglich sind, wenn ein Begriff von integralem menschlichen Wohl gegeben ist, wenn es ein »télos«, ein Ziel, gibt, in dessen Licht die Entwicklung konzipiert und gewollt wird.
Der Begriff der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung setzt präzise Koordinaten wie Subsidiarität und Solidarität sowie die wechselseitige Abhängigkeit von Staat, Gesellschaft und Markt voraus. In einer Weltgesellschaft, die sich aus vielen Völkern und unterschiedlichen Religionen zusammensetzt, müssen das Gemeinwohl und die ganzheitliche Entwicklung mit dem Beitrag aller erlangt werden. Dabei sind die Religionen von entscheidender Bedeutung, besonders wenn sie die Brüderlichkeit und den Frieden lehren, da sie dazu erziehen, in unseren von der Säkularisierung gezeichneten Gesellschaften Gott Raum zu geben und offen zu sein für die Transzendenz. Der Ausschluß der Religion vom öffentlichen Bereich wie andererseits der religiöse Fundamentalismus behindern die Begegnung zwischen den Menschen und ihre Zusammenarbeit für den Fortschritt der Menschheit; das Leben der Gesellschaft verarmt an Motivationen, und die Politik nimmt ein unerträgliches und aggressives Gesicht an (vgl. ebd., 56). Liebe Freunde, die christliche Sicht der Entwicklung, des Fortschrittes und des Gemeinwohls, wie sie aus der Soziallehre der Kirche hervorgeht, entspricht den tiefsten Erwartungen des Menschen, und euer Einsatz zu ihrer Vertiefung und Verbreitung bildet einen wertvollen Beitrag zur Errichtung der »Zivilisation der Liebe«. Daher bringe ich euch meine Dankbarkeit und meine besten Wünsche zum Ausdruck und erteile euch allen von Herzen meinen Segen.
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