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ANSPRACHE VON PAPST BENEDIKT XVI.
AN DIE TEILNEHMER DER INTERNATIONALEN STUDIENTAGUNG DER STIFTUNG
CENTESIMUS ANNUS-PRO PONTIFICE
ZUM THEMA
"FAMILIE, UNTERNEHMEN: DIE KRISE MIT NEUEN FORMEN DER SOLIDARITÄT ÜBERWINDEN.
ZWANZIG JAHRE
CENTESIMUS ANNUS"
(ROM, 13.-15. OKTOBER 2011)


Sala Clementina
Samstag, 15. Oktober 2011

  

Verehrte Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,
liebe Brüder und Schwestern!

Ich freue mich, euch anläßlich der Jahrestagung der Stiftung »Centesimus Annus – Pro Pontifice« zu empfangen, bei der ihr euch an zwei Studientagen dem Thema Beziehung zwischen Familie und Unternehmen gewidmet habt. Ich danke dem Präsidenten, Dr. Domingo Sugranyes Bickel, für die freundlichen Worte, die er an mich gerichtet hat, und begrüße euch alle herzlich. In dieses Jahr fällt – wie erwähnt – der 20. Jahrestag der Veröffentlichung der Enzyklika Centesimus annus des sel. Johannes Paul II., die 100 Jahre nach Rerum novarum erschienen ist, aber auch das 30-Jahr-Jubiläum des Apostolischen Schreibens Familiaris consortio. Dieses zweifache Gedenken macht euer Thema noch aktueller und angemessener. In diesen 120 Jahren der Entwicklung der kirchlichen Soziallehre hat es in der Welt große Veränderungen gegeben, die zur Zeit der historischen Enzyklika von Papst Leo XIII. nicht annähernd vorstellbar gewesen wären. Dennoch hat sich mit der Veränderung der äußeren Verhältnisse das Anliegen des sozialen Lehramtes nicht geändert, das nach wie vor den Menschen als Person und die Familie in ihrem Lebensumfeld, zu dem auch das Unternehmen gehört, fördert.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat von der Familie in Begriffen wie »Hauskirche« und »unantastbares Heiligtum« gesprochen, wo der Mensch als Person in den Gefühlen, in der Solidarität, in der Spiritualität heranreift. Auch die Wirtschaft muß mit ihren Gesetzen das Anliegen und den Schutz dieser Keimzelle der Gesellschaft beachten; der Begriff »Ökonomie« enthält in seinem etymologischen Ursprung einen Hinweis auf die Bedeutung der Familie: oikia und nomos, das Gesetz des Hauses. In dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio hat der sel. Johannes Paul II. für die Institution Familie vier Aufgaben genannt, die ich hier kurz in Erinnerung rufen möchte: die Bildung einer Gemeinschaft von Personen; der Dienst am Leben; die Zugehörigkeit zur Gesellschaft und die Teilnahme am kirchlichen Leben. Das sind Funktionen, denen die Liebe zugrunde liegt, und zu dieser erzieht und bildet die Familie aus. Der verehrte Papst führt hierzu aus: »Die Liebe zwischen Mann und Frau in der Ehe und, in abgeleiteter und erweiterter Form, die Liebe zwischen den Mitgliedern derselben Familie – zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern, Verwandten und Hausgenossen – ist von einer inneren und bleibenden Dynamik beseelt und getragen, die die Familie zu einer immer tieferen und intensiveren Einheit führt, der Grundlage und Seele der Ehe- und Familien-Gemeinschaft « (Nr. 18). In gleicher Weise liegt die Liebe dem Dienst am Leben zugrunde, der auf die Mitwirkung gegründet ist, welche die Familie für den Fortbestand der Schöpfung, für die Zeugung des nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen erbringt.

Vor allem in der Familie lernt man, daß die richtige Lebenshaltung im Bereich der Gesellschaft sowie in der Arbeitswelt, in der Wirtschaft, in den Unternehmen von der Caritas, der christlichen Liebe in ihrer Logik der Unentgeltlichkeit, der Solidarität und der gegenseitigen Verantwortung geleitet sein muß. »Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familiengemeinschaft «, schreibt der sel. Johannes Paul II. weiter, »werden vom Gesetz des unentgeltlichen Schenkens geprägt und geleitet, das in allen und in jedem einzelnen die Personenwürde als einzig entscheidenden Wertmaßstab achtet und fördert, woraus dann herzliche Zuneigung und Begegnung im Gespräch, selbstlose Einsatzbereitschaft und hochherziger Wille zum Dienen sowie tiefempfundene Solidarität erwachsen können« (Nr. 43). Unter diesem Blickwinkel wird die Familie vom bloßen Objekt zum aktiven Subjekt, das fähig ist, an das »menschliche Antlitz« zu erinnern, das die Welt der Wirtschaft haben muß. Wenn dies für die Gesellschaft im allgemeinen gilt, so erhält es in der kirchlichen Gemeinschaft eine noch größere Bedeutung. Denn auch in der Evangelisierung hat die Familie einen wichtigen Platz, worauf ich vor kurzem in Ancona hingewiesen habe: Sie ist nicht bloße Empfängerin der pastoralen Sorge der Kirche, sondern wirkt an ihr mit, da sie berufen ist, sich auf ihre eigene, ursprüngliche Weise an der Evangelisierung zu beteiligen, indem sie ihr Sein und Handeln als innige Liebes- und Lebensgemeinschaft in den Dienst an Kirche und Gesellschaft stellt (vgl. Familiaris consortio, 50). Familie und Arbeit sind die bevorzugten Bereiche für die Verwirklichung der Berufung des Menschen, der im Heute am Schöpfungswerk Gottes mitarbeitet. Wie ihr im Rahmen eurer Arbeit dargelegt habt, erleben wir in der schwierigen Situation, die wir zur Zeit durchleben, leider eine Krise des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft, die mit einer Krise der Familie einhergeht: Konflikte unter Eheleuten, Konflikte zwischen den Generationen, Konflikte zwischen den Zeiten, die für die Familie bestimmt sind, und der Arbeitszeit, sowie die Krise auf dem Arbeitsmarkt erzeugen eine komplexe Situation des Unbehagens, die das soziale Leben belastet. Es muß daher ein neues, harmonisches Miteinander von Familie und Arbeit geschaffen werden, wozu die Soziallehre der Kirche ihren wertvollen Beitrag leisten kann. In der Enzyklika Caritas in veritate habe ich herausgestellt, daß das Modell der Familie mit seiner Logik der Liebe, der Unentgeltlichkeit und des Geschenks auf eine universale Dimension ausgeweitet werden muß. Die Austauschgerechtigkeit – also »geben, um zu haben« – und die Verteilungsgerechtigkeit – »geben aus Verpflichtung« – reichen im sozialen Zusammenleben nicht aus. Damit es dort wirkliche Gerechtigkeit gibt, müssen die Unentgeltlichkeit und die Solidarität dazukommen. »Solidarität bedeutet vor allem, daß sich alle für alle verantwortlich fühlen, und daher kann sie nicht allein dem Staat übertragen werden. Während man früher der Ansicht sein konnte, daß man zuerst für Gerechtigkeit sorgen müsse und daß die Unentgeltlichkeit danach als ein Zusatz hinzukäme, muß man heute festhalten, daß ohne die Unentgeltlichkeit auch die Gerechtigkeit nicht erreicht werden kann… Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, daß jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen« (Nr. 38). »Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit, und eine Haltung der Unentgeltlichkeit kann nicht per Gesetz verordnet werden. Dennoch brauchen sowohl der Markt als auch die Politik Menschen, die zur Hingabe aneinander bereit sind« (Nr. 39).

Es ist nicht Aufgabe der Kirche, Wege aus der derzeitigen Krise zu zeigen. Dennoch haben die Christen die Pflicht, die Übel anzuprangern, von den Werten, auf die sich die Menschenwürde gründet, Zeugnis zu geben und sie hochzuhalten und jene Formen der Solidarität zu fördern, die das Gemeinwohl begünstigen, damit die Menschheit immer mehr zur Familie Gottes wird.

Liebe Freunde, ich wünsche mir, daß die Überlegungen, die ihr bei eurem Kongreß angestellt habt, euch helfen mögen, eure Rolle bei der Verbreitung und Anwendung der kirchlichen Soziallehre immer aktiver wahrzunehmen, ohne zu vergessen, daß »die Entwicklung Christen braucht, die die Arme zu Gott erheben in der Geste des Gebets, Christen, die von dem Bewußtsein getragen sind, daß die von Wahrheit erfüllte Liebe, caritas in veritate, von der die echte Entwicklung ausgeht, nicht unser Werk ist, sondern uns geschenkt wird« (Nr. 79). Mit diesem Wunsch und während ich euch der Fürsprache der Jungfrau Maria anvertraue, erteile ich euch allen und euren Lieben von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen.

 

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