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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTAE"

 

Der Mann mit geschlossenem Auge

Montag, 16. Dezember 2013

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 1, 3. Januar 2014

 

Wenn der prophetische Geist verschwindet, dann wird dessen Platz vom Klerikalismus eingenommen, vom starren Schema der Befolgung der Gesetze, das dem Menschen die Tür vor der Nase zuschlägt. Das ist der Anlass für das Gebet, dass sich in der Vorbereitungszeit auf Weihnachten der prophetische Geist unter den Menschen ausbreiten möge.

Papst Franziskus wollte in der Frühmesse, die er am Montag, 16. Dezember, in der Kapelle von Santa Marta feierte, daran erinnern, dass alle Getauften berufen sind, Propheten zu sein. Wie gewohnt tat er dies, indem er von der Schriftlesung zum Tage ausging. Der Papst wiederholte die Worte des Buchs Numeri (24,2-7.15-17b), die die Gestalt des Propheten nachzeichnen, »Spruch Bileams, des Sohnes Beors, Spruch des Mannes mit geschlossenem Auge, Spruch dessen, der Gottesworte hört.« Das, so erläuterte er, »das ist der Prophet «: ein Mann, »der geschlossene Augen hat und Gottesworte hört und verkündet, der den Augenblick zu schauen und zur Zukunft zu gehen vermag. Der aber zuvor das Wort Gottes gehört, das Wort Gottes vernommen hatte.« Und in der Tat »vereint der Prophet diese drei Momente in sich.« Zunächst »die Vergangenheit: der Prophet«, so sagte der Heilige Vater, »ist sich der  Verheißung bewusst und trägt die Verheißung Gottes in seinem Herzen, er hält sie lebendig, erinnert sich ihrer, wiederholt sie.« Aber »dann schaut er auf die Gegenwart, sieht auf sein Volk und verspürt die Kraft des Geistes, um ihm ein Wort zu sagen, das ihm dabei hilft, sich wieder aufzuraffen und den Weg in die Zukunft fortzusetzen.«

Folglich, so fuhr der Papst fort, »ist der Prophet ein Mann dreier Zeiten: der Verheißung der Vergangenheit, der Kontemplation der Gegenwart und des Mutes, den Weg in die Zukunft zu weisen.« Und, so erinnerte er, »der Herr hat sein Volk in schwierigen Augenblicken stets behütet, durch die Propheten: zu jenen Zeiten, in denen das Volk entmutigt oder zerstört war; als es keinen Tempel gab; als Jerusalem der Macht der Feinde unterworfen war; als das Volk sich fragte: Aber Herr, du hast uns das verheißen! Und was geschieht jetzt?« Der Papst fügte diesbezüglich noch hinzu: »Vielleicht ist dasselbe auch im Herzen der Muttergottes geschehen, als sie unter dem Kreuz stand: Herr, du hast mir gesagt, dass dies der Befreier Israels sei, der König, der, der uns die Erlösung bringen werde – und was jetzt?« »In jenem Augenblick der Geschichte des Volkes Israel«, so fuhr der Papst fort, »ist der Eingriff eines Propheten erforderlich. Und nicht immer wird der Prophet gut aufgenommen. Oft wird er abgewiesen. Jesus selbst sagt zu den Pharisäern, dass ihre Väter die Propheten töteten, weil sie unbequeme Wahrheiten sagten, sie sagten die Wahrheit, erinnerten an die Verheißung.« Aber, so bekräftigte der Papst, »wenn beim Volk Gottes die Prophezeiung fehlt, dann fehlt etwas: es fehlt das Leben des Herrn.«

Exemplarisch hierfür ist etwa die Geschichte des jungen Samuel, der »den Ruf des Herrn vernommen hatte, während er schlief, aber er wusste nicht, womit er es zu tun hatte. Und die Bibel sagt es: ›In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig‹« (1 Sam 3,1). Es war eine Zeit, zu der »Israel keine Propheten hatte.« Aber der Bischof von Rom machte darauf aufmerksam, dass »dasselbe geschieht, wenn ein Prophet kommt und das Volk ihn nicht aufnimmt «, wie in der Schriftlesung aus Matthäus (21,24-27) zu lesen stehe. »Wenn es keine Prophezeiung gibt,«, so kommentierte er, dann wird alle Kraft für die Befolgung der Gesetze aufgewandt.

Und diese Priester sind zu Jesus gegangen, um dessen Rechtstitel zu hinterfragen: Mit welchem Recht tust du diese Dinge?« Es sei, als hätten sie gesagt: »Wir sind die Herren des Tempels; du aber, mit welchem Recht tust du diese Dinge?« In Wirklichkeit »verstanden sie die Prophezeiungen nicht, sie hatten die Verheißung vergessen. Sie waren außerstande, die Zeichen der Zeit zu lesen, sie hatten weder die geschlossenen Augen noch Gehör für das Wort Gottes. Das einzige, was sie hatten, war die Autorität.« So »geschah zur Zeit Samuels, als das Wort des Herrn selten und Visionen nicht häufig waren, genau dasselbe. Befolgung der Gesetze und Autorität.« Und das geschah deshalb, weil, »wenn es im Volk Gottes keine Prophezeiung gibt, die Leere, die diese zurücklässt, vom Klerikalismus ausgefüllt wird. Und es ist gerade dieser Klerikalismus, der Jesus fragt: Welche Autorität hast du, diese Dinge zu tun, mit welchem Recht tust du sie?« So »werden die Erinnerung an die Verheißung und die Hoffnung, vorwärtsgehen zu können, auf die bloße Gegenwart beschränkt: weder Vergangenheit noch Zukunft und Hoffnung.« Das sei, als ob zum Vorwärtsgehen nur das zähle, was »Gegenwart« sei, das, was »zur Befolgung der Gesetze« gehöre.

Gewiss, so erklärte der Papst, »vielleicht weinte das Volk Gottes, das glaubte, das zum Beten in den Tempel ging, in seinem Herzen, weil es den Herrn nicht fand. Es fehlte die Prophezeiung. Es weint in seinem Herzen so, wie Anna, die Mutter Samuels, weinte, als sie um Fruchtbarkeit für das Volk bat.« Jene Fruchtbarkeit, so führte der Papst weiter aus, »die aus der Kraft Gottes kommt, wenn er unsere Erinnerung an seine Verheißung wiedererweckt und uns hoffnungsvoll zur Zukunft hindrängt. Das ist der Prophet. Das ist der ›Mann mit geschlossenem Auge, der Gottesworte hört‹.«

Papst Franziskus beendete seine Predigt mit der Anregung, »während dieser Tage, in denen wir uns auf die Geburt des Herrn vorbereiten, zu beten.« Ein Gebet zum Herrn, damit, wie er forderte, »es deinem Volke nicht an Propheten mangeln möge. Wir alle, die wir getauft sind, sind Propheten. Herr, lasse uns deine Verheißung nicht vergessen; lass uns nicht müde werden, vorwärtszugehen; lass uns nicht in der Befolgung der Gesetze verschlossen sein, die die Türen schließt. Herr, befreie dein Volk vom Geist des Klerikalismus, und hilf ihm mit dem prophetischen Geist!«

 

 



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