GEDENKTAG »UNSERE LIEBE FRAU VON GUADALUPE«
MESSE FÜR LATEINAMERIKA
PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS
Vatikanische Basilika
Mittwoch, 12. Dezember 2018
»Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut« (Lk 1,46-48). So beginnt der Lobgesang des Magnificat und durch ihn wird Maria die erste »Pädagogin des Evangeliums« (CELAM, Puebla, Nr. 290): Sie erinnert uns an die Verheißungen, die an unsere Väter ergangen sind, und lädt uns ein, die Barmherzigkeit des Herrn zu besingen. Maria lehrt uns, dass in der Kunst der Mission und der Hoffnung weder viele Worte noch Programme notwendig sind, ihre Methode ist sehr einfach: Sie ging und sang.
So zeigt sie uns das Evangelium nach der Verkündigung des Engels. In Eile – aber ohne ängstliche Sorge – ging sie zum Haus von Elisabet, um diese in der Schlussphase ihrer Schwangerschaft zu begleiten; eilig ging sie zu Jesus, als beim Hochzeitsfest der Wein ausging; und sie ging – wegen der vorgerückten Jahre bereits mit grauen Haaren – nach Golgota, um unter dem Kreuz zu stehen: An jener Schwelle der Dunkelheit und des Schmerzes verbarg sie sich nicht und entfernte sich nicht; sie ging hin, um dort zu sein.
Sie ging bis nach Tepeyac, um Juan Diego zu begleiten, und sie ist weiterhin auf dem Kontinent unterwegs, wenn sie durch ein Gemälde oder ein Bildchen, eine Kerze oder eine Medaille, einen Rosenkranz oder ein Ave Maria ein Haus betritt oder die Zelle eines Gefängnisses, das Zimmer eines Krankenhauses, ein Altenheim, eine Schule, eine Reha-Klinik… »Bin ich, deine Mutter, etwa nicht hier?« (Nican Mapohua, Nr. 119). Sie kennt die Nähe mehr als jeder andere. Sie ist eine Frau, die mit dem Feingefühl und der Zärtlichkeit einer Mutter geht. Sie lässt sich im Familienleben aufnehmen, sie löst alle Knoten der vielen Schwierigkeiten, die zu verursachen uns gelungen ist, und sie lehrt uns, inmitten von Stürmen aufrecht stehen zu bleiben. In der Schule Marias lernen wir, auf dem Weg zu bleiben, um dorthin zu gelangen, wo wir sein müssen: zu Füßen und aufrecht stehend unter den vielen Leben, die die Hoffnung verloren haben oder denen man sie geraubt hat.
In der Schule Marias lernen wir, durch das Stadtviertel und die Stadt zu gehen, nicht mit den bequemen Schuhen des alles lösenden Zauberwortes, improvisierten Antworten mit sofortiger Wirksamkeit; nicht mit den phantastischen Versprechungen eines Pseudo-Fortschritts, der nach und nach nichts anderes tut, als kulturelle und familiäre Identitäten zu besetzen und unsere Völker jenes Lebensgefüges zu entleeren, das ihre Stütze war, und dies mit dem anmaßenden Vorsatz, ein einziges einheitliches Denken zu etablieren.
In der Schule Marias lernen wir, durch die Stadt zu gehen und unser Herz vom multikulturellen Reichtum, der auf dem Kontinent wohnt, nähren zu lassen. Das geschieht, wenn wir in der Lage sind, jenes verborgene Herz zu hören, das in unseren Völkern schlägt und das – wie unter der Asche glimmendes Feuer – den Sinn für Gott und seine Transzendenz, für die Heiligkeit des Lebens, die Achtung der Schöpfung, die Bande der Solidarität, für die Freude der Kunst des guten Lebens und die Fähigkeit des Glücklichseins und Feste Feierns ohne Bedingungen bewahrt, und so werden wir verstehen können, was Amerika im Tiefsten ist (vgl. Begegnung mit dem Leitungskomitee des CELAM, Kolumbien, 7. September 2017).
Maria ging und brachte die Freude derer, die die Wunder besang, die Gott in der Niedrigkeit seiner Magd gewirkt hatte. Mit ihrem Besuch weckt sie als gute Mutter den Lobgesang und gibt den vielen eine Stimme, die auf die eine oder andere Weise meinen, nicht singen zu können. Sie gibt Johannes das Wort, der im Schoß seiner Mutter hüpft. Sie gibt Elisabet das Wort, die zu segnen beginnt. Und auch dem betagten Simeon, den sie veranlasst, zu prophezeien und zu träumen. Und sie lehrt das göttliche Wort, seine ersten Worte zu stammeln.
In der Schule Marias lernen wir, dass ihr Leben nicht vom Protagonismus geprägt ist, sondern von der Fähigkeit zu bewirken, dass die anderen die Protagonisten sind. Sie schenkt Mut, sie lehrt zu sprechen und vor allem ermutigt sie dazu, die Kühnheit des Glaubens und der Hoffnung zu leben. Auf diese Weise wird sie transparent für das Antlitz des Herrn, der seine Macht zeigt, indem er zur Teilnahme am Aufbau seines lebendigen Tempels einlädt und beruft. So hat er es beim Indio Juan Diego getan und bei vielen anderen, die er aus der Anonymität hervortreten ließ, indem er ihnen eine Stimme gab, sie ihr eigenes Antlitz und ihre eigene Geschichte kennenlernen ließ und sie zu Protagonisten letzterer machte, unserer Heilsgeschichte. Der Herr sucht keinen egoistischen Applaus oder weltliche Bewunderung. Sein Ruhm ist es, seine Söhne und Töchter zu Protagonisten der Schöpfung zu machen. Mit dem Herzen einer Mutter möchte Maria all jene aufrichten und ihnen ihre Würde zurückgeben, die aus verschiedenen Gründen und Umständen allein gelassen und vergessen worden sind.
In der Schule Marias lernen wir den Protagonismus, der es nicht nötig hat, die anderen zu demütigen, zu misshandeln, zu verleumden und zu verspotten, um sich wertvoll und wichtig vorzukommen; der keine physische oder psychologische Gewalt anwendet, um sich sicher und geschützt zu fühlen. Es ist ein Protagonismus, der keine Angst hat vor Zärtlichkeit und Liebkosung und der weiß, das seine beste Seite das Dienen ist. In ihrer Schule lernen wir echten Protagonismus, allem, was gefallen ist, die Würde zurückgeben, und dies mit der allmächtigen Kraft der göttlichen Liebe zu tun, die die unwiderstehliche Macht seiner verheißenen Barmherzigkeit ist. In Maria widerspricht der Herr der Versuchung, der Stärke der Einschüchterung und der Macht, dem Schrei des Stärkeren und dem Sich-Durchsetzen aufgrund von Lüge und Manipulation zum Protagonismus zu verhelfen. Mit Maria bewahrt der Herr die Gläubigen, damit sich ihr Herz nicht verhärtet und sie fortwährend die erneuerte und erneuernde Macht der Solidarität kennenlernen können und so in der Lage sind, den Herzschlag Gottes in den Herzen der Männer und Frauen unserer Völker zu hören.
Maria, die »Pädagogin des Evangeliums«, ging und sang auf unserem Kontinent, und daher wird der Jungfrau von Guadalupe nicht nur als indigener, spanischer, hispanischer oder afroamerikanischer Frau gedacht. Sie ist ganz einfach lateinamerikanisch: sie ist Mutter fruchtbaren und großherzigen Landes, wo wir alle auf die ein oder andere Weise einander begegnen und beim Aufbau des heiligen Tempels der Familie Gottes die Rolle von Protagonisten einnehmen können. Lateinamerikanischer Sohn und Bruder, sing und geh ohne Angst, wie es deine Mutter getan hat.
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