VIDEOBOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
ZUM 5. FESTIVAL DER KIRCHLICHEN SOZIALLEHRE
[VERONA, 26.-29. NOVEMBER 2015]
Meine Lieben!
Herzlich grüße ich euch alle, die ihr am V. Festival der Soziallehre der Kirche teilnehmt. Ich weiß, dass ihr in diesem Jahr als Thema gewählt habt: »Die Herausforderung der Realität.« Dabei bezieht ihr euch auf das, was ich im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium geschrieben habe: »Es gibt auch eine bipolare Spannung zwischen der Idee und der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist etwas, das einfach existiert, die Idee wird erarbeitet. Zwischen den beiden muss ein ständiger Dialog hergestellt und so vermieden werden, dass die Idee sich schließlich von der Wirklichkeit löst. Es ist gefährlich, im Reich allein des Wortes, des Bildes, des Sophismus zu leben« (Nr. 231). Um der Gefahr vorzubeugen, außerhalb der Wirklichkeit zu leben, ist es notwendig, die Augen und das Herz zu öffnen.
Unser Leben besteht aus so vielen Dingen, einem Wust von Nachrichten, so viele Probleme: All das führt uns dazu, die Probleme der Menschen in unserer Umgebung nicht zu sehen, sie nicht zu bemerken. Die Gleichgültigkeit scheint ein Heilmittel zu sein, das uns davor schützt involviert zu werden, sie wird ein Weg, um in Ruhe gelassen zu werden. Das ist die Gleichgültigkeit. Aber diese Distanziertheit ist ein Mittel, den Egoismus zu verteidigen, und sie macht uns traurig. Den Menschen nahe sein, das Öl des Trostes ausgießen, das Fleisch des anderen berühren, sich seiner Probleme annehmen, das macht das Herz weit, lässt die Liebe wieder zirkulieren und bewirkt, dass es uns gut geht. Und diese Konkretheit und Nähe ist der Weg, den Jesus uns weist, wenn er sagt: »Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben…« (vgl. Mt 25,31-46). Sich zum anderen hinabbeugen – das ist das Wort: sich hinabbeugen – ist die konkreteste Weise, das Herz weit zu machen, die Liebe zu entzünden, das Denken zu inspirieren, um konkrete und neue Antworten auf die Probleme zu erfinden.
Die Herausforderung der Realität erfordert auch die Fähigkeit zum Dialog, Brücken anstelle von Mauern zu bauen. Jetzt ist die Zeit des Dialogs, nicht die Zeit der verhärteten Gegensätze. Ich lade euch ein, »die Herausforderung« anzunehmen, »die ›Mystik‹ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt« (Evangelii gaudium, 87). Der Dialog macht offen für die Verschiedenheit, er setzt die vielen Teile unserer Gesellschaft zu einem Bild zusammen und schafft die Bedingungen für eine harmonische Darstellung.
Die Herausforderung der Realität jedoch macht eine Änderung notwendig. Alle sehen diese Notwendigkeit der Veränderung, weil man merkt, dass da etwas ist, was nicht gut ist. Der Konsumismus, der Götzendienst des Geldes, zu viele Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die Anpassung an das vorherrschende Denken sind eine Last, von der wir uns befreien wollen durch die Wiedererlangung unserer Würde und indem wir uns einsetzen für das Teilen, da wir wissen, dass die Lösungen für konkrete Probleme nicht vom Geld kommen, sondern von der Brüderlichkeit, die sich um den anderen kümmert. Wahre Veränderung beginnt vor allem bei uns selbst, und sie ist eine Frucht des Heiligen Geistes. Menschen, die innerlich verwandelt sind vom Heiligen Geist, führen auch zu einer gesellschaftlichen Veränderung. Veränderung ist dann auch gefragt bei unseren Strukturen: Es ist besser, flexibel zu sein, um besser auf die konkreten Bedürfnisse antworten zu können, als Strukturen zu verteidigen und erstarrt zu sein. Ein wenig sauber machen, die Transparenz vergrößern, Frische zurückgewinnen, Echtheit und Behendigkeit werden den Strukturen und den Menschen gut tun: Wir werden neu den Eifer und die Begeisterung finden, etwas Schönes im Dienst der Brüder und Schwestern zu tun. Auf die neuen Nöte und die neuen Formen der Armut müssen neue Antworten gefunden werden. Wenn wir den Menschen nahe sind, werden wir auch Inspiration und Kraft finden, um dem von allen ersehnten Wandel eine konkrete Form zu geben.
Abschließend möchte ich die ökologische Herausforderung unterstreichen. Sie verlangt, den Schrei der Mutter Erde zu hören: Die Achtung der Geschöpfe und der Schöpfung stellt eine große Herausforderung für die Zukunft des Menschen dar. Der Mensch und die Schöpfung sind unauflöslich miteinander verbunden: »Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde« (Enzyklika Laudato si’, 49).
Das Thema der Sorge für die Erde, das heißt für das gemeinsame Haus ist sehr umfangreich. Jemand könnte meinen, dass das, was wir tun können, keine konkreten Auswirkungen hat und nicht ausreicht, um eine Veränderung zu bewirken. Das Thema betrifft sicherlich die Politik, die Wirtschaft, die strategischen Entscheidungen im Hinblick auf den Fortschritt, aber nichts kann unser persönliches Engagement ersetzen. Maß, verantwortungsbewusster Konsum, ein Lebensstil, der die Schöpfung als Geschenk annimmt und Formen der Ausbeutung und des exklusiven Besitzes ausschließt, ist die konkrete Art und Weise, durch die eine neue Sensibilität geschaffen wird. Wenn wir viele sind, die so leben, dann wird sich das auf die gesamte Gesellschaft positiv auswirken und der Schrei der Erde und der Schrei der Armen wird von allen gehört werden können.
Meine Lieben, blicken wir mutig nach vorne! Die Herausforderungen der Realität sind zahlreich, unsere Aufgabe und Freude ist es, sie in Chancen zu verwandeln.
Erneut grüße ich herzlich alle Teilnehmer am V. Festival der Soziallehre der Kirche und insbesondere die vielen freiwilligen Helfer, die ihren Dienst unentgeltlich leisten. Ein Gruß gilt dem Bischof von Verona, wo diese Veranstaltung stattfindet, und mein Dank richtet sich an Don Vincenzi für alles, was er für die Verbreitung, die Kenntnis und die Umsetzung der Soziallehre der Kirche getan hat. Danke!
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