ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER KONFERENZ DES INTERNATIONALEN VERBANDS DER KATHOLISCHEN ÄRZTEORGANISATIONEN
Clementina-Saal
Freitag, 20. September 2013
Ich bitte um Verzeihung für die Verspätung, weil heute … dieser Vormittag ist allzu kompliziert, wegen der Audienzen … ich bitte um Entschuldigung.
1. Die erste Überlegung, die ich mit euch teilen will, ist folgende: Wir erleben heutzutage eine paradoxe Situation, was den Arztberuf angeht. Einerseits stellen wir fest – und dafür danken wir Gott –, dass die Medizin dank der Arbeit von Wissenschaftlern Fortschritte macht, die sich voller Leidenschaft und ohne sich zu schonen der Suche nach neuen Therapien widmen. Andererseits sehen wir aber auch die Gefahr, dass der Arzt seine Identität als Diener des Lebens verliert.
Die kulturelle Orientierungslosigkeit hat mittlerweile auch jenem Gebiet Schaden zugefügt, das unantastbar zu sein schien: das eure, die Medizin! Obwohl die Berufe im Gesundheitswesen ihrer Natur nach im Dienst des Lebens stehen, werden sie mitunter dazu verleitet, keine Achtung mehr vor dem Leben selbst zu haben. Dagegen steht, wie uns die Enzyklika Caritas in veritate erinnert, »die Offenheit für das Leben […] im Zentrum der wahren Entwicklung«. Es gibt keine wahre Entwicklung ohne diese Offenheit für das Leben. »Wenn der persönliche und gesellschaftliche Sinn für die Annahme eines neuen Lebens verlorengeht, verdorren auch andere, für das gesellschaftliche Leben hilfreiche Formen der Annahme. Die Annahme des Lebens stärkt die moralischen Kräfte und befähigt zu gegenseitiger Hilfe« (Nr. 28). Dieses Paradox ist der Tatsache zu entnehmen, dass man, während man den Menschen neue Rechte zubilligt, mitunter auch nur vorgebliche Rechte, nicht immer das Leben als primären Wert und als ursprüngliches Recht eines jeden Menschen schützt. Das ultimative Ziel des ärztlichen Handelns ist und bleibt stets der Schutz und die Förderung des Lebens.
2. Der zweite Punkt: In diesem widersprüchlichen Kontext appelliert die Kirche an die Gewissen, an die Gewissen aller Fachleute und Freiwilligen im Gesundheitswesen, vor allem an euch Gynäkologen, die ihr dazu berufen seid, an der Geburt neuen menschlichen Lebens mitzuwirken. Eure Berufung und Aufgabe ist einzigartig und erfordert Professionalität, Gewissenhaftigkeit und Menschlichkeit.
Einst wurden die Frauen, die bei der Geburt halfen, »comadre« genannt: sie waren, zusammen mit der anderen, der wirklichen Mutter, wie eine Mutter. Auch ihr seid »Co-Mütter« und »Co-Väter«. Die weit verbreitete Mentalität des Nützlichkeitsdenkens, die »Wegwerfkultur «, die heute Herz und Verstand vieler Menschen versklavt, hat einen hohen Preis: Sie erfordert die Eliminierung menschlicher Wesen, vor allem dann, wenn diese physisch oder sozial schwach sind. Unsere Antwort auf diese Mentalität besteht in einem entschiedenen, ohne zu zögern ausgesprochenen »Ja« zum Leben. »Das erste Recht einer menschlichen Person ist das Recht auf Leben. Sie hat andere Güter und einige wertvollere, aber dieses ist grundlegend, weil Voraussetzung für alle anderen« (Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über den Schwangerschaftsabbruch, 18. November 1974, 11). Die Dinge haben einen Preis und sind verkäuflich, aber die Menschen haben eine Würde, sie sind mehr wert als die Dinge und haben keinen Preis. Wir befinden uns oft in Situationen, wo wir sehen, dass das, was am wenigsten kostet, das Leben ist. Deshalb ist in letzter Zeit die Aufmerksamkeit für das menschliche Leben in seiner Ganzheit zu einer wahren Priorität für das Lehramt der Kirche geworden, vor allem für das Leben, das am schutzlosesten ist, die Behinderten, die Kranken, die Ungeborenen, die Kinder, die Alten, deren Leben den geringsten Schutz genießt. Ein jeder von uns ist aufgefordert, im zerbrechlichen Menschen das Antlitz des Herrn wiederzuerkennen, der in seinem menschlichen Leib die Gleichgültigkeit und Einsamkeit erfahren hat, zu der wir oft die Ärmsten verdammen, sei das nun in den Entwicklungsländern, sei es in den Wohlstandsgesellschaften. Jedes ungeborene, aber ungerechterweise zur Abtreibung verurteilte Kind hat das Antlitz Jesu Christi, hat das Gesicht des Herrn, der noch bevor er geboren wurde und dann gleich nach seiner Geburt die Ablehnung der Welt erfahren hat. Und jeder alte Mensch – ich habe über das Kind gesprochen, gehen wir über zu den alten Menschen, ein weiterer Punkt! Und jeder alte Mensch, auch wenn er krank oder dem Ende seiner Tage nahe ist, trägt in sich das Antlitz Christi. Man darf sie nicht ausgrenzen, wie es uns die »Wegwerfkultur« vorschlägt! Man darf sie nicht aussondern!
3. Der dritte Gesichtspunkt besteht in einem Auftrag: Seid Zeugen dieser »Kultur des Lebens« und verbreitet sie. Ihr als Katholiken habt eine größere Verantwortung: zunächst einmal euch selbst gegenüber, aufgrund der Verpflichtung zur Kohärenz gegenüber der christlichen Berufung; und dann der zeitgenössischen Kultur gegenüber, um dazu beizutragen, die transzendente Dimension, die Spur des Schöpferwerkes Gottes im menschlichen Leben zu erkennen, vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an. Das ist eine Aufgabe der Neuevangelisierung, die oft von uns verlangt, gegen den Strom zu schwimmen und dafür persönlich einzustehen. Der Herr zählt bei der Verbreitung des »Evangeliums des Lebens« auch auf euch.
In dieser Hinsicht sind die gynäkologischen Abteilungen der Krankenhäuser privilegierte Orte des Zeugnisses und der Evangelisierung, denn da, wo die Kirche sich zum »Werkzeug der Gegenwart« des lebendigen Gottes macht, wird sie zugleich zum »Werkzeug einer wahren Humanisierung des Menschen und der Welt« (Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung, 9).
Im Heranreifen des Bewusstseins, dass im Mittelpunkt der Tätigkeit des Arztes und der Mitarbeiter im Gesundheitswesen der Mensch im Zustand der Schwäche steht, wird das Krankenhaus »ein Ort, an dem die Pflegebeziehung nicht Beruf ist, sondern Berufung und Sendung« – eure Pflegebeziehung ist kein Beruf –, »wo die Liebe des Barmherzigen Samariters der erste Lernort und das Antlitz des leidenden Menschen das Antlitz Christi selbst ist« (Benedikt XVI., Ansprache an der Katholischen Universität »Sacro Cuore« in Rom, 3. Mai 2012).
Liebe Freunde im Arztberuf, ihr, die ihr dazu berufen seid, euch des menschlichen Lebens in seiner Anfangsphase anzunehmen, mögt jeden in Wort und Tat daran erinnern, dass dieses Leben in all seinen Phasen und in jedem Alter heilig ist und immer Qualität besitzt. Und nicht aus Gründen des Glaubens – nein, nein! –, sondern aus Gründen der Vernunft, aufgrund eines wissenschaftlichen Diskurses! Kein menschliches Leben ist heiliger als ein anderes, so wie es kein menschliches Leben gibt, das qualitativ bedeutsamer ist als ein anderes. Die Glaubwürdigkeit eines Gesundheitswesens misst man nicht nur an seiner Effizienz, sondern vor allem an der Aufmerksamkeit und Liebe den Menschen gegenüber, deren Leben stets heilig und unantastbar ist.
Versäumt es nie, den Herrn und die Jungfrau Maria um die Kraft zu bitten, eure Arbeit gut zu tun und mutig – mutig! heutzutage braucht man Mut – das »Evangelium des Lebens« zu bezeugen! Vielen Dank.
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