ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
BEIM NEUJAHRSEMPFANG FÜR DAS BEIM HEILIGEN STUHL
AKKREDITIERTE DIPLOMATISCHE KORPS
Regia-Saal
Montag, 11. Januar 2016
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
ich heiße Sie herzlich willkommen zu diesem jährlichen Treffen, das mir die Gelegenheit bietet, Ihnen meine Glückwünsche für das neue Jahr zu überbringen, und es mir gestattet, gemeinsam mit Ihnen über die Situation dieser unserer von Gott gesegneten und geliebten und doch von so vielen Übeln geplagten und bedrückten Welt nachzudenken. Ich danke dem neuen Dekan des Diplomatischen Corps, Exzellenz Armindo Fernandes do Espírito Santo Vieira, Botschafter von Angola, für seine freundlichen Worte, die er im Namen des gesamten beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Corps an mich gerichtet hat. Zugleich möchte ich in besonderer Weise der vor fast einem Monat verstorbenen Botschafter von Kuba, Rodney Alejandro López Clemente, und von Liberia, Rudolf P. von Ballmoos, gedenken.
Gerne nehme ich die Gelegenheit wahr, auch einen speziellen Gruß an alle zu richten, die zum ersten Mal an dieser Begegnung teilnehmen, und betone zu meiner Zufriedenheit, dass die Anzahl der in Rom ansässigen Botschafter sich weiter erhöht hat. Das ist ein bedeutsames Zeichen für die Aufmerksamkeit, mit der die internationale Gemeinschaft die diplomatische Aktivität des Heiligen Stuhls verfolgt. Ein weiterer Beweis dafür sind die im eben zu Ende gegangenen Jahr unterzeichneten oder ratifizierten internationalen Verträge. Besonders möchte ich hier die spezifischen steuerlichen Vereinbarungen erwähnen, die mit Italien und den Vereinigten Staaten von Amerika unterschrieben wurden und die das verstärkte Engagement des Heiligen Stuhls für eine umfassendere Transparenz in wirtschaftlichen Angelegenheiten bezeugen. Nicht weniger bedeutend sind die Verträge allgemeiner Art, die darauf ausgerichtet sind, wesentliche Aspekte des Lebens und Handelns der Kirche in den verschiedenen Ländern zu regeln, wie die in Díli mit der Demokratischen Republik Timor-Leste unterzeichnete Vereinbarung.
Gleichfalls möchte ich an den Austausch der Ratifizierungsurkunden des Vertrags mit Tschad über die Rechtsstellung der katholischen Kirche im Land erinnern wie auch an den unterzeichneten und ratifizierten Vertrag mit Palästina. Es handelt sich um zwei Verträge, die – gemeinsam mit der Grundsatzvereinbarung zwischen dem Staatssekretariat und dem Außenministerium von Kuweit – unter anderem beweisen, dass ein friedliches Zusammenleben unter Angehörigen verschiedener Religionen dort möglich ist, wo die Religionsfreiheit anerkannt wird und die effektive Möglichkeit gewährleistet ist, in gegenseitiger Achtung gegenüber der kulturellen Identität eines jeden am Aufbau des Gemeinwohls zusammenzuarbeiten.
Andererseits kann jede authentisch gelebte religiöse Erfahrung nur den Frieden fördern. Daran erinnert uns das Weihnachtsfest, das wir gerade gefeiert und an dem wir die Geburt eines wehrlosen Kindes betrachtet haben, das »Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens« genannt wird (Jes 9,5). Das Geheimnis der Menschwerdung zeigt uns das wahre Gesicht Gottes, für den Macht nicht Gewalt und Zerstörung bedeutet, sondern Liebe und für den Gerechtigkeit nicht Rache bedeutet, sondern Barmherzigkeit. Das ist die Sichtweise, die meiner Absicht zugrunde lag, das außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit auszurufen, das dann ausnahmsweise in Bangui im Laufe meiner apostolischen Reise nach Kenia, Uganda und in die Zentralafrikanische Republik eröffnet wurde. In einem lange von Hunger, Armut und Konflikten heimgesuchten Land, wo die brudermörderische Gewalt der letzten Jahre tiefe Verwundungen in den Herzen der Menschen hinterlassen, die nationale Gemeinschaft zerrissen und materielle wie moralische Not verursacht hat, wollte die Öffnung der Heiligen Pforte der Kathedrale ein Zeichen der Ermutigung sein, den Blick zu erheben, den Weg wieder aufzunehmen und die Argumente für den Dialog wiederzufinden. Dort, wo der Name Gottes missbraucht worden ist, um Unrecht zu verüben, wollte ich gemeinsam mit der muslimischen Gemeinschaft der Zentralafrikanischen Republik bekräftigen: »Wer behauptet, an Gott zu glauben, muss auch ein Mensch des Friedens sein«[1] und folglich ein Mensch der Barmherzigkeit, denn niemals kann man im Namen Gottes töten. Nur eine ideologische und irregeleitete Form von Religion kann daran denken, durch vorsätzlichen Mord an wehrlosen Menschen im Namen Gottes Gerechtigkeit zu erweisen, wie es in den blutigen Terroranschlägen der vergangenen Monate in Afrika, Europa und im Nahen Osten geschehen ist.
Die Barmherzigkeit war gleichsam der „Leitfaden“, der meine Apostolischen Reisen schon im vergangenen Jahr orientiert hat. Ich beziehe mich vor allem auf den Besuch in Sarajevo, einer durch den Balkankrieg zutiefst verwundeten Stadt und Hauptstadt eines Landes – Bosnien und Herzegowina –, das eine spezielle Bedeutung für Europa und für die ganze Welt besitzt. Als Kreuzungspunkt von Kulturen, Nationen und Religionen bemüht es sich mit positiven Ergebnissen, immer neue Brücken zu bauen, das Einende zur Geltung zu bringen und die Unterschiede als eine Gelegenheit anzusehen, im Respekt gegenüber allen zu wachsen. Das ist möglich durch einen geduldigen und vertrauensvollen Dialog, der es versteht, sich die Werte der Kultur eines jeden zu Eigen zu machen und das Gute aus den Erfahrungen der anderen aufzunehmen.[2]
Außerdem denke ich an die Reise nach Bolivien, Ecuador und Paraguay, wo ich Völkern begegnet bin, die angesichts der Schwierigkeiten nicht aufgeben und sich mutig, entschlossen und im Geist der Brüderlichkeit den zahlreichen Herausforderungen stellen, die sie quälen, angefangen von der verbreiteten Armut und den sozialen Ungleichheiten. Im Laufe meiner Reise nach Kuba und in die Vereinigten Staaten von Amerika konnte ich zwei Länder umfangen, die lange voneinander getrennt waren und sich entschlossen haben, eine neue Seite im Buch der Geschichte zu schreiben, indem sie sich auf einen Weg der Wiederannäherung und der Versöhnung begeben haben.
In Philadelphia anlässlich des Weltfamilientreffens wie auch im Laufe der Reise nach Sri Lanka und auf die Philippinen sowie mit der jüngsten Bischofssynode habe ich an die Bedeutung der Familie erinnert: Sie ist die erste und wichtigste Schule der Barmherzigkeit, in der man lernt, das liebevolle Antlitz Gottes zu entdecken, und wo unsere Menschlichkeit wächst und sich entwickelt. Leider wissen wir um die zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die Familie auseinandersetzen muss in dieser Zeit, in der sie »bedroht [ist] durch zunehmende Bemühungen einiger, die Institution der Ehe selbst neu zu definieren, durch Relativismus, durch die Kultur der Kurzlebigkeit und durch mangelnde Offenheit für das Leben«[3]. Es besteht heute eine verbreitete Angst vor der Endgültigkeit, die für die Familie erforderlich ist, und den Preis dafür zahlen vor allem die Jüngsten, die oft schwach und orientierungslos sind, sowie die älteren Menschen, die am Ende vergessen und verlassen werden. Im Gegensatz dazu erwächst »aus der gelebten Geschwisterlichkeit in der Familie […] die Solidarität in der Gesellschaft«[4], die uns in die Verantwortlichkeit füreinander führt. Das ist nur möglich, wenn wir nicht zulassen, dass sich in unseren Familien wie in unseren Gesellschaften ein „Bodensatz“ von Schwierigkeiten und Ressentiments ablagert, und stattdessen dem Dialog Raum geben, der das beste Gegenmittel gegen den in der Kultur unserer Zeit so weit verbreiteten Individualismus ist.
Liebe Botschafter,
eine individualistische Mentalität ist der Nährboden, auf dem jenes Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten reift, das dazu führt, mit ihm umzugehen wie mit einer bloßen Handelsware; das dazu treibt, sich nicht um das Menschsein der anderen zu kümmern, und das die Personen schließlich feige und zynisch werden lässt. Sind das denn nicht die Gefühle, die wir oft gegenüber den Armen, den Ausgegrenzten, den Letzten der Gesellschaft hegen? Und wie viele Letzte haben wir in unseren Gesellschaften! Unter ihnen denke ich vor allem an die Migranten mit ihrer Last an Schwierigkeiten und Leiden, denen sie täglich begegnen auf ihrer manchmal verzweifelten Suche nach einem Ort, wo sie in Frieden und Würde leben können.
Darum möchte ich heute dabei verweilen, mit Ihnen über den schweren Migrations-Notstand nachzudenken, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, um die Ursachen zu erkennen, Lösungen in Aussicht zu stellen und die unvermeidliche Angst zu überwinden, die ein so massives und gewaltiges Phänomen begleitet, das im Laufe des Jahres 2015 vor allem Europa, aber auch verschiedene Regionen Asiens sowie Nord- und Mittelamerika betraf.
»Fürchte dich also nicht und hab keine Angst; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst« (Jos 1,9). Das ist das Versprechen, das Gott dem Josua gibt und das zeigt, wie sehr der Herr jeden Menschen begleitet, vor allem den, der sich in einer Situation der Schwäche befindet wie der eines Zuflucht Suchenden in einem fremden Land. Tatsächlich erzählt uns die ganze Bibel die Geschichte einer Menschheit auf dem Wege, denn das In-Bewegung-Sein ist dem Menschen wesenseigen. Seine Geschichte besteht aus vielen Wanderungen, die manchmal aus dem Bewusstsein seines Rechts auf freie Entscheidung gereift sind, häufig aber von äußeren Umständen vorgeschrieben werden. Von der Vertreibung aus dem irdischen Paradies bis zu Abraham, der unterwegs ist zum Land der Verheißung; von der Erzählung des Exodus bis zur Deportation nach Babylonien schildert die Heilige Schrift Mühen und Leiden, Wünsche und Hoffnungen, die denen von Hunderttausenden von Menschen gleichen, die in unseren Tagen unterwegs sind, mit demselben Ziel wie Mose, ein Land zu erreichen, »in dem Milch und Honig fließen« (Ex 3,17), wo man in Freiheit und Frieden leben kann.
Und so hören wir heute wie damals den Schrei Rachels, die ihre Kinder beweint, »denn sie sind dahin« (Jer 31,15; vgl. Mt 2,18). Es ist die Stimme von Tausenden weinender Menschen auf der Flucht vor schrecklichen Kriegen, vor Verfolgungen und vor Verletzungen der Menschenrechte oder vor politischer bzw. sozialer Instabilität, die oft das Leben in der Heimat unmöglich machen. Es ist der Schrei derer, die gezwungen sind zu fliehen, um den unsäglichen Grausamkeiten, die an schutzlosen Menschen wie Kindern und Behinderten verübt werden, oder dem Martyrium aufgrund der bloßen religiösen Zugehörigkeit zu entgehen.
Wie damals hören wir die Stimme Jakobs, der zu seinen Söhnen sagt: »Zieht hin und kauft dort für uns Getreide, damit wir am Leben bleiben und nicht sterben müssen« (Gen 42,2). Es ist die Stimme derer, die dem extremen Elend entfliehen, weil es ihnen unmöglich ist, ihre Familie zu ernähren, oder weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung haben; die vor dem Niedergang ohne irgendeine Aussicht auf Fortschritt fliehen oder auch aufgrund des Klimawandels und der extremen klimatischen Bedingungen. Leider ist bekanntlich der Hunger noch eine der schwersten Plagen unserer Welt, mit Millionen von Kindern, die jedes Jahr verhungern. Es schmerzt jedoch festzustellen, dass diese Migranten häufig von keinem der internationalen Schutzsysteme aufgefangen werden, die auf den internationalen Verträgen basieren.
Wie kann man in all dem nicht die Frucht jener „Wegwerfkultur“ sehen, die die menschliche Person in Gefahr bringt, indem sie Männer und Frauen den Götzen des Gewinns und des Konsums opfert? Es ist schwerwiegend, wenn man sich an diese Situationen von Armut und Not, an die Tragödien so vieler Menschen gewöhnt und sie zur „Normalität“ werden lässt. Die Menschen werden nicht mehr als ein vorrangiger zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – „noch nicht nützlich sind“ oder – wie die Alten – „nicht mehr nützlich sind“. Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten gehört, wenn es viele Menschen und Familien gibt, die an Hunger und Unterernährung leiden.[5]
Der Heilige Stuhl hofft, dass der erste Weltgipfel für humanitäre Hilfe, der für den kommenden Mai von den Vereinten Nationen einberufen ist, in seiner Zielsetzung, den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt jeder humanitären Antwort zu stellen, im heutigen traurigen Rahmen von Konflikten und Unglücken erfolgreich ist. Es bedarf eines gemeinsamen Einsatzes, der die Wegwerfkultur und die Kultur der Entwürdigung des menschlichen Lebens entschlossen umkehrt, damit niemand sich vernachlässigt oder vergessen fühlt und damit nicht weitere Leben aus Mangel an Hilfsmitteln und – vor allem – an politischem Willen geopfert werden.
Leider hören wir heute wie damals die Stimme Judas, der vorschlägt, den eigenen Bruder zu verkaufen (vgl. Gen 37,26-27). Es ist die Arroganz der Mächtigen, welche die Schwachen instrumentalisieren und sie zu Objekten für egoistische Ziele oder für strategische und politische Kalküle herabwürdigen. Wo eine reguläre Migration unmöglich ist, sind die Migranten häufig zu der Wahl gezwungen, sich an Menschenhändler oder -schmuggler zu wenden, obwohl sie sich großenteils der Gefahr bewusst sind, während der Reise ihre Habe, ihre Würde und sogar ihr Leben zu verlieren. Aus dieser Sicht erneuere ich noch einmal meinen Appell, dem Menschenhandel Einhalt zu gebieten, der die Menschen vermarktet, besonders die schwächsten und schutzlosesten. Immer werden unserer Erinnerung und unseren Herzen die Bilder von Kindern, die im Meer ums Leben kamen, unvergesslich eingeprägt bleiben – Opfer der Skrupellosigkeit der Menschen und der Erbarmungslosigkeit der Natur. Wer dann überlebt und in einer Nation landet, die ihn aufnimmt, behält unauslöschlich die tiefen Wundmale dieser Erfahrungen und dazu die, welche von den Schrecken herrühren, die stets mit Kriegen und Gewalttaten einhergehen.
Wie damals, hört man auch heute wieder die Stimme des Engels, die ruft: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage« (Mt 2,13). Es ist die Stimme, welche die vielen Migranten hören, die niemals ihr Land verlassen würden, wenn sie nicht dazu gezwungen wären. Unter diesen sind zahlreiche Christen, die im Laufe der letzten Jahre zunehmend massenhaft ihre Länder verlassen haben, die sie doch seit den Anfängen des Christentums bewohnten.
Schließlich hören wir auch heute die Stimme des Psalmisten, der wiederholt: »An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten« (Ps 137,1). Es ist das Weinen derer, die gerne in ihre Länder zurückkehren würden, wenn sie dort geeignete Bedingungen für Sicherheit und Auskommen fänden. Auch hier denke ich an die Christen des Nahen Ostens, die sich wünschen, als vollberechtigte Bürger zum geistigen und materiellen Wohl ihrer jeweiligen Nationen beizutragen.
Einen großen Teil der Ursachen für die Migrationen hätte man schon vor Zeiten in Angriff nehmen können. So hätte man vielen Unglücken zuvorkommen oder zumindest ihre grausamsten Folgen abmildern können. Auch heute – und bevor es zu spät ist – könnte man vieles tun, um den Tragödien Einhalt zu gebieten und den Frieden herzustellen. Das würde aber bedeuten, eingefahrene Gewohnheiten und Gepflogenheiten wieder zur Diskussion zu stellen, vom mit dem Waffenhandel verbundenen Fragenkomplex über das Problem der Rohstoff- und Energieversorgung, über die Investitionen, die Finanzpolitik und die politischen Programme für Entwicklungshilfe bis zu der schweren Plage der Korruption. Wir sind uns außerdem bewusst, dass zum Thema der Migration mittel- und langfristige Pläne aufgestellt werden müssen, die über den Notbehelf hinausgehen. Sie müssten einerseits wirklich die Eingliederung der Migranten in die Aufnahmeländer fördern und andererseits zugleich die Entwicklung in den Herkunftsländern begünstigen mit solidarischen politischen Programmen, die jedoch die Hilfen nicht von Strategien und Verfahren abhängig machen, die den Kulturen der Völker, an die sie sich richten, ideologisch fremd sind oder zu ihnen im Widerspruch stehen.
Ohne andere dramatische Situationen zu vergessen, unter denen ich besonders an die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten denke – die ich kurz streifen werde, wenn ich mich im kommenden Februar nach Ciudad Juárez begebe –, möchte ich Europa einen speziellen Gedanken widmen. Tatsächlich ist dieser Kontinent im Laufe des letzten Jahres von einem gewaltigen Strom von Flüchtlingen heimgesucht worden – von denen viele bei dem Versuch, ihn zu erreichen, den Tod gefunden haben –, von einem Flüchtlingsstrom, der in der jüngeren Geschichte Europas keinen Vergleich kennt, nicht einmal am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele Migranten aus Asien und aus Afrika sehen in Europa einen Anhaltspunkt für Grundsätze wie die Gleichheit vor dem Recht und die in die Natur jedes Menschen selbst eingeschriebenen Werte, z. B. die Unveräußerlichkeit der Würde und die Gleichheit aller Menschen, die Nächstenliebe ohne Unterscheidung der Herkunft und Zugehörigkeit, die Gewissensfreiheit und die Solidarität gegenüber den Mitmenschen.
Die massenhaften Landungen an den Küsten des Alten Kontinents scheinen jedoch das System der Aufnahme ins Wanken zu bringen, das auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs mühsam aufgebaut wurde und immer noch ein Leuchtfeuer der Menschlichkeit darstellt, auf das man sich beziehen kann. Angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Ströme und der unvermeidlich damit verbundenen Probleme sind nicht wenige Fragen aufgetaucht nach den realen Möglichkeiten des Empfangs und der Anpassung der Menschen, nach der Veränderung des kulturellen und sozialen Gefüges der Aufnahmeländer wie auch nach einer Umgestaltung einiger regionaler geopolitischer Gleichgewichte. Ebenso relevant sind die Befürchtungen um die Sicherheit, die durch die überhand nehmende Bedrohung durch den internationalen Terrorismus über alle Maßen verschärft werden. Die augenblickliche Migrationswelle scheint die Fundamente jenes „humanistischen Geistes“ zu untergraben, den Europa von jeher liebt und verteidigt.[6] Dennoch darf man sich nicht erlauben, die Werte und die Prinzipien der Menschlichkeit, der Achtung der Würde eines jeden Menschen, der Subsidiarität und der gegenseitigen Solidarität aufzugeben, auch wenn sie in einigen Momenten der Geschichte eine schwer zu tragende Bürde sein können. Ich möchte daher meine Überzeugung bekräftigen, dass Europa, unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel besitzt, um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren.[7]
Zugleich empfinde ich die Notwendigkeit, Dankbarkeit auszudrücken für all die Initiativen, die ergriffen wurden, um eine würdige Aufnahme der Menschen zu fördern, darunter z. B. der Migranten- und Flüchtlingsfonds der Entwicklungsbank des Europarates. Ebenso danke ich für das Engagement jener Länder, die eine großherzige Haltung des Miteinander-Teilens gezeigt haben. Ich beziehe mich vor allem auf die Nationen in der Nachbarschaft Syriens, die unverzüglich mit Hilfe und Aufnahme reagiert haben, vor allem auf den Libanon, wo die Flüchtlinge ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, und auf Jordanien, das seine Grenzen nicht geschlossen hat, obwohl es bereits Hunderttausende von Flüchtlingen beherbergt. In gleicher Weise dürfen die Anstrengungen anderer an vorderster Front engagierter Länder nicht vergessen werden, darunter besonders Türkei und Griechenland. Eine spezielle Anerkennung möchte ich Italien aussprechen, dessen entschiedener Einsatz viele Leben im Mittelmeer gerettet hat und das sich auf seinem Territorium immer noch einer gewaltigen Zahl von Flüchtlingen annimmt. Ich hoffe, dass der traditionelle Sinn für Gastfreundschaft, der das italienische Volk auszeichnet, durch die unvermeidlichen Schwierigkeiten des Augenblicks nicht geschwächt werde, sondern dass es im Licht seiner vieltausendjährigen Tradition fähig sei, den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Beitrag, den die Migranten bieten können, aufzunehmen und zu integrieren.
Es ist wichtig, dass die Nationen an vorderster Front bei ihrer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Notstand nicht allein gelassen werden, und es ist ebenso unerlässlich, einen freimütigen und respektvollen Dialog unter allen von dem Problem betroffenen Nationen – sowohl den Herkunfts- als auch den Durchgangs- oder den Aufnahmeländern – einzuleiten, um mit größerem kreativen Wagemut nach neuen und nachhaltigen Lösungen zu suchen. Tatsächlich ist unter den gegebenen Umständen nicht an Lösungen zu denken, die von den einzelnen Staaten im Alleingang angestrebt werden, denn die Konsequenzen der Entscheidungen eines jeden fallen unvermeidlich auf die gesamte internationale Gemeinschaft zurück. Es ist ja bekannt, dass die Migrationen mehr, als das bisher der Fall war, ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen werden und dass die Antworten nur das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit sein können, die die Menschenwürde und die Menschrechte achtet. Die von den Vereinten Nationen im vergangenen September angenommene Entwicklungs-Agenda für die nächsten 15 Jahre, die viele der Probleme ins Auge fasst, die in die Migration treiben, wie auch andere Dokumente der internationalen Gemeinschaft zur Handhabung der Migrationsfrage werden eine den Erwartungen entsprechende Anwendung finden können, wenn es gelingt, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der politischen Entscheidungen auf allen Ebenen zu stellen und dabei die Menschheit als eine einzige Familie und die Menschen als Geschwister zu betrachten, in der Achtung gegenüber den jeweiligen Unterschieden und Gewissensüberzeugungen.
Wenn man sich mit der Migrationsfrage auseinandersetzt, dürfen nämlich die damit zusammenhängenden kulturellen Hintergründe nicht vernachlässigt werden, angefangen bei denen, die mit der Religionszugehörigkeit verbunden sind. Der Extremismus und der Fundamentalismus finden einen fruchtbaren Boden nicht nur in der Instrumentalisierung der Religion für Ziele der Macht, sondern auch in der Leere der fehlenden Ideale und im Verlust der – auch religiösen – Identität, die den sogenannten Westen dramatisch kennzeichnet. Aus dieser Leere erwächst die Angst, die dazu treibt, den anderen als eine Gefahr und einen Feind anzusehen, sich in sich selbst zu verschließen und sich in vorgefassten Meinungen zu verschanzen. Das Phänomen der Migration wirft also eine ernste kulturelle Frage auf, deren Beantwortung man sich nicht entziehen kann. Die Aufnahme kann daher eine günstige Gelegenheit sein für eine neue Einsicht und Öffnung des Horizontes – sowohl für den Aufgenommenen, der die Pflicht hat, die Werte, Traditionen und Gesetze der gastgebenden Gemeinschaft zu respektieren, als auch für diese Letztere, die aufgefordert ist, alles zum Tragen kommen zu lassen, was jeder Einwanderer zum Nutzen der gesamten Gemeinschaft beisteuern kann. Auf diesem Gebiet erneuert der Heilige Stuhl seinen Einsatz im ökumenischen und interreligiösen Bereich, um einen aufrichtigen und fairen Dialog einzuleiten, der dadurch, dass er die Besonderheiten und die persönliche Identität eines jeden zur Geltung bringt, ein harmonisches Zusammenleben aller sozialen Komponenten fördert.
Sehr geehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
das Jahr 2015 kann den Abschluss bedeutender internationaler Vereinbarungen verzeichnen, die auf eine gute Zukunft hoffen lassen. Ich denke vor allem an das sogenannte Atomabkommen mit dem Iran, das – wie ich hoffe – dazu beitragen möge, ein Klima der Entspannung in der Region zu fördern, wie auch an die Erzielung des erwarteten Klimavertrags im Laufe der Konferenz von Paris. Es handelt sich um eine bedeutungsvolle Vereinbarung, die ein wichtiges Ergebnis für die gesamte internationale Gemeinschaft darstellt und eine starke kollektive Bewusstwerdung der großen Verantwortung deutlich werden lässt, die jeder – Einzelne wie Nationen – dafür hat, die Schöpfung zu bewahren und »eine Kultur der Achtsamkeit [zu] fördern, die die gesamte Gesellschaft erfüllt«[8]. Nun ist es grundlegend, dass die übernommenen Engagements nicht nur ein guter Vorsatz bleiben, sondern für alle Staaten eine wirkliche Verpflichtung darstellen, die notwendigen konkreten Schritte zu unternehmen, um unsere geliebte Erde zu erhalten, zum Wohl der gesamten Menschheit, vor allem der kommenden Generationen.
Das eben begonnene Jahr kündigt sich seinerseits an als ein Jahr voller Herausforderungen, und nicht wenige Spannungen haben sich schon am Horizont blicken lassen. Ich denke vor allem an die schweren Konflikte, die in der Region des Persischen Golfs aufgekommen sind, wie auch an das besorgniserregende militärische Experiment, das auf der koreanischen Halbinsel durchgeführt wurde. Ich hoffe, dass die Gegensätze Raum lassen für die Stimme des Friedens und für den guten Willen, nach Einigungen zu suchen. Aus dieser Perspektive kann ich zu meiner Zufriedenheit feststellen, dass es nicht an bedeutungsvollen und besonders ermutigenden Zeichen fehlt. Ich beziehe mich speziell auf das Klima eines friedlichen Zusammenlebens, in dem sich die jüngsten Wahlen in der Zentralafrikanischen Republik abgespielt haben – ein positives Zeichen für den Willen, den eingeschlagenen Weg zur vollkommenen nationalen Versöhnung fortzusetzen. Außerdem denke ich an die in Zypern eingeleiteten neuen Initiativen, um eine lang andauernde Spaltung zu heilen, und auf die vom kolumbianischen Volk unternommenen Anstrengungen, um die Konflikte der Vergangenheit zu überwinden und den lang ersehnten Frieden zu erreichen. Alle schauen wir außerdem voller Hoffnung auf die wichtigen Schritte, die die internationale Gemeinschaft unternommen hat, um eine politische und diplomatische Lösung der Krise in Syrien zu erzielen, die den allzu lang andauernden Leiden der Bevölkerung ein Ende setzen soll. In gleicher Weise sind die Signale aus Libyen ermutigend, die auf einen erneuerten Einsatz hoffen lassen, um die Gewalttätigkeiten zu beenden und die Einheit des Landes wiederzufinden. Andererseits erscheint immer deutlicher, dass nur eine gemeinsame und abgestimmte politische Aktion dazu beitragen kann, die Ausbreitung des Extremismus und des Fundamentalismus aufzuhalten, mit ihren Hintergründen terroristischer Prägung, die sowohl in Syrien und Libyen als auch in anderen Ländern wie dem Irak und dem Jemen unzählige Opfer fordern.
Möge dieses Heilige Jahr der Barmherzigkeit auch der Anlass zu Dialog und Versöhnung im Hinblick auf den Aufbau des Gemeinwohls in Burundi, in der Demokratischen Republik Kongo und im Süd-Sudan sein. Möge es vor allem eine günstige Zeit sein, um den Konflikt in den östlichen Regionen der Ukraine definitiv zu beenden. Von grundlegender Bedeutung ist die Unterstützung, die die internationale Gemeinschaft, die einzelnen Staaten und die humanitären Organisationen dem Land unter vielfältigen Gesichtspunkten bieten können, damit es die aktuelle Krise überwindet.
Die Herausforderung, die uns mehr als alle anderen erwartet, ist jedoch die, die Gleichgültigkeit zu überwinden, um den Frieden aufzubauen[9], der ein immer anzustrebendes Gut bleibt. Leider befindet sich unter den vielen Teilen unserer geliebten Welt, die ihn brennend herbeisehnen, das Land, das Gott bevorzugt und erwählt hat, um allen das Antlitz seiner Barmherzigkeit zu zeigen. Es ist mein Wunsch, dass dieses neue Jahr die tiefen Wunden heilen möge, die Israelis und Palästinenser trennen, und das friedliche Zusammenleben zweier Völker ermögliche, die – des bin ich gewiss – aus tiefstem Herzen nichts anderes verlangen als Frieden!
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
auf diplomatischer Ebene wird der Heilige Stuhl niemals aufhören dafür zu arbeiten, dass die Stimme des Friedens bis an die äußersten Enden der Erde gehört werden kann. Ich bekräftige daher erneut die völlige Bereitschaft des Staatssekretariats, mit Ihnen bei der Förderung eines ständigen Dialogs zwischen dem Apostolischen Stuhl und den von Ihnen vertretenen Ländern zusammenzuarbeiten, zum Wohl der gesamten internationalen Gemeinschaft. Dabei habe ich die innere Gewissheit, dass dieses Jubiläumsjahr die günstige Gelegenheit sein kann, dass die kalte Gleichgültigkeit vieler Herzen überwunden wird durch die Wärme der Barmherzigkeit, dieses kostbaren Geschenks Gottes, das die Furcht in Liebe verwandelt und uns zu Friedensstiftern macht. Mit diesen Empfindungen übermittle ich erneut jedem von Ihnen, Ihren Familien und Ihren Ländern meine innigsten Glückwünsche für ein von Segen erfülltes Jahr.
Danke.
[2] Vgl. Begegnung mit Vertretern der Regierung und des öffentlichen Lebens (6. Juni 2015).
[3] Begegnung mit den Familien (Manila, 16. Januar 2015).
[4] Begegnung mit Vertretern des öffentlichen Lebens (Quito, 7. Juli 2015).
[5] Vgl. Generalaudienz (5. Juni 2013).
[6] Vgl. Ansprache an das Europäische Parlament (Straßburg, 25. November 2014).
[8] Laudato si’, 231.
[9] Vgl. Überwinde die Gleichgültigkeit und erringe den Frieden, Botschaft zum Weltfriedenstag 2016 (8. Dezember 2015)
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