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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER
3. INTERNATIONALEN
BEGEGNUNG DER VOLKSBEWEGUNGEN

Aula Paolo VI
Samstag, 5. November 2016

[Multimedia]


 

Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!

Bei dieser – unserer dritten – Begegnung bringen wir wieder dasselbe Verlangen, das Verlangen nach Gerechtigkeit, denselben Schrei zum Ausdruck: Land, Obdach und Arbeit für alle. Ich danke den Delegierten, die aus den urbanen, ländlichen und industriellen Randgebieten der fünf Kontinente gekommen sind, aus über 60 Ländern. Sie sind gekommen, um erneut darüber zu debattieren, wie die Rechte verteidigt werden können, deretwegen wir hier versammelt sind. Ich danke den Bischöfen, die sie hierher begleitet haben. Mein Dank gilt auch den Tausenden von Italienern und Europäern, die sich heute dem Abschluss dieser Begegnung angeschlossen haben. Ich danke den Beobachtern und den jungen Menschen, die sich im öffentlichen Leben einsetzen und die in Demut gekommen sind, um zuzuhören und zu lernen. Wie viel Hoffnung setze ich in die jungen Menschen! Ebenso danke ich Ihnen, Herr Kardinal Turkson, für die Arbeit, die im Dikasterium getan wurde. Und ich möchte auch den Beitrag des ehemaligen Präsidenten von Uruguay, José Mujica, erwähnen, der hier anwesend ist.

Bei unserer letzten Begegnung, in Bolivien, wo die Mehrheit Lateinamerikaner waren, haben wir über die Notwendigkeit zur Veränderung gesprochen, um ein Leben in Würde zu ermöglichen, über einen Strukturwandel; und auch darüber, dass Sie, die Volksbewegungen, Sämänner der Veränderung sind, Förderer eines Prozesses, in den Millionen großer und kleiner Aktionen einfließen, die kreativ miteinander verbunden sind, wie in einem Gedicht. Daher habe ich Sie als »soziale Poeten« bezeichnet. Ebenso haben wir einige unverzichtbare Aufgaben aufgezählt, um angesichts der Globalisierung der Gleichgültigkeit in Richtung auf eine menschliche Alternative voranzuschreiten: 1. die Wirtschaft in den Dienst der Völker stellen; 2. Frieden und Gerechtigkeit aufbauen; 3. die Mutter Erde verteidigen. An jenem Tag wurden durch die Stimmen einer Müllsortiererin und eines Bauern die Schluss folgerungen verlesen, die zehn Punkte von »Santa Cruz de la Sierra«, in denen das Wort »Veränderung « sehr inhaltsschwer war. Es war verknüpft mit den grundlegenden Dingen, die Sie fordern: würdige Arbeit für alle, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind; Land für die Bauern und Ureinwohner; Wohnungen für obdachlose Familien; Integration der Armenviertel in das urbane Gefüge; Beseitigung von Diskriminierung, Gewalt gegen Frauen und neuen Formen der Sklaverei; das Ende aller Kriege, des organisierten Verbrechens und der Unterdrückung; Meinungsfreiheit und demokratische Kommunikation; Wissenschaft und Technik im Dienst der Völker.

Wir haben auch gehört, dass Sie sich verpflichtet haben, einen Lebensplan anzunehmen, der Konsumdenken ablehnt und Solidarität, Liebe untereinander und die Achtung der Natur als wesentliche Werte zurückgewinnt. Sie verlangen das Glück, »gut zu leben«, das »Wohlleben« – und nicht jenes egoistische Ideal, das betrügerisch die Worte verdreht und uns das »Leben im Wohlstand « anpreist. Wir, die wir heute hier versammelt sind, sind unterschiedlich in Herkunft, Glauben und Vorstellungen. anchmal sind wir nicht mit allem einverstanden, sicher haben wir unterschiedliche Meinungen über viele Dinge, aber gewiss stimmen wir in diesen Punkten überein.

Ich habe auch von Begegnungen und Workshops erfahren, die in verschiedenen Ländern veranstaltet wurden, wo sie zu vermehrten Debatten im Licht der Wirklichkeit einer jeden Gemeinschaft geführt haben. Das ist sehr wichtig, denn die realen Lösungen für die gegenwärtigen Probleme gehen nicht aus einem Vortrag und auch nicht aus drei oder tausend Vorträgen hervor: Sie müssen Frucht einer kollektiven Entscheidungsfindung sein, die in im eigenen Umfeld gemeinsam mit den Brüdern und Schwestern heranreift – eine Entscheidungsfindung, die zur verwandelnden Aktion wird »gemäß der Orte, der Zeiten und der Personen«, wie der heilige Ignatius sagte. Sonst laufen wir Gefahr, zu Abstraktionen zu greifen, »plakativen Allgemeinbegriffen (Slogans), die schöne Worte sind, das Leben unserer Gemeinschaften jedoch nicht stützen können« (Schreiben an den Präsidenten der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika, 19. März 2016; in O.R. dt., Nr. 19). Es sind Slogans. Der globalisierende ideologische Kolonialismus versucht, überkulturelle Patentrezepte aufzuzwingen, die die Identität der Völker nicht respektieren. Sie dagegen gehen einen anderen Weg, der gleichzeitig lokal und universal ist – einen Weg, der mich daran erinnert, wie Jesus darum bat, die Menschen- menge in Gruppen zu 50 zusammenzusetzen, um das Brot zu verteilen (vgl. Predigt am Hochfest Fronleichnam, Buenos Aires, 12. Juni 2004).

Vorhin konnten wir das Video sehen, das Sie zum Abschluss dieser dritten Begegnung vorgestellt haben. Wir haben Ihre Gesichter gesehen bei der Debatte darüber, was man tun kann angesichts der »Ungerechtigkeit, die Gewalt erzeugt «. Viele Vorschläge, viel Kreativität, viel Hoffnung in Ihren Stimmen. Dabei hätten Sie oft am meisten Grund, sich zu beklagen, in Konflikten gefangen zu bleiben, in die Versuchung der Negativität zu geraten. Zweifellos blicken Sie jedoch  nach vorn, denken nach, diskutieren, machen Vorschläge und handeln. Ich beglückwünsche Sie, ich begleite Sie und bitte Sie, auch weiterhin Wege zu öffnen und zu kämpfen. Das gibt mir Kraft, das gibt uns Kraft. Ich glaube, dass unser Dialog, der zu den Bemühungen vieler Millionen Menschen hinzukommt, die sich täglich für die Gerechtigkeit in der ganzen Welt einsetzen, Wurzeln schlägt. Ich möchte einige spezifischere Themen ansprechen, die ich Ihrer Arbeit entnommen habe. Sie haben mich zum Nachdenken gebracht, und ich lege sie Ihnen jetzt in diesem Augenblick dar.

Erstens: der Terror und die Mauern

Zweifellos ist dieses Aufkeimen, das langsam vor sich geht und wie alles Werden seine Zeit braucht, bedroht durch die Schnelligkeit eines zerstörerischen Mechanismus, der ihm entgegenwirkt. Es gibt machtvolle Kräfte, die das Heranreifen eines Wandlungsprozesses, der die Vorrangstellung des Geldes verdrängt und den Menschen, den Mann und die Frau, wieder in den Mittelpunkt stellt, neutralisieren können. Dieser »unsichtbare Faden«, über den wir in Bolivien gesprochen haben, diese ungerechte Struktur, die alle Formen der Ausgrenzung, unter denen ihr leidet, miteinander verknüpft, kann sich verhärten und zu einer Geißel werden, einer existentiellen Geißel, die – wie im alttestamentlichen Ägypten – Menschen versklavt, ihnen die Freiheit raubt, die einen unbarmherzig schlägt und andere ständig bedroht, um alle wie Vieh dorthin zu treiben, wo das vergötzte Geld sie haben will.

Wer regiert also? Das Geld. Wie regiert es? Mit der Geißel der Angst, der Ungleichheit, der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und militärischen Gewalt, die immer mehr Gewalt erzeugt, in einer absteigenden Spirale, die nie zu enden scheint. Wie viel Leid und wie viel Angst! Es gibt – das habe ich vor kurzem gesagt – es gibt einen »grundlegenden Terrorismus«, der von der globalen Kontrolle des Geldes auf der Erde ausgeht und die gesamte Menschheit angreift. Aus diesem grundlegenden Terrorismus werden die daraus hervorgehenden Terrorismen genährt – wie der Drogenterrorismus, der Staatsterrorismus oder der, den einige fälschlicherweise als ethnischen oder religiösen Terrorismus bezeichnen – aber kein Volk, keine Religion ist terroristisch. Gewiss, es gibt überall kleine fundamentalistische Gruppen. Der Terrorismus beginnt jedoch hier: »Du hast das Wunder der Schöpfung vertrieben, den Mann und die Frau, und hast das Geld an seine Stelle gesetzt« (Pressekonferenz auf dem Rückflug der Apostolischen Reise nach Polen, 31. Juli 2016; in O.R. dt., Nr. 32-33). Das ist ein terroristisches System.

Vor fast 100 Jahren sah Pius XI. das Heranwachsen einer weltweiten Wirtschaftsdiktatur voraus, die er als »Imperialismus des internationalen Finanzkapitals« bezeichnete (Enzyklika Quadragesimo anno, 15. Mai 1931, 109). Ich spreche von 1931! Die Aula, in der wir uns jetzt befinden, trägt den Namen »Paul VI.«, und Paul VI. war es, der vor fast 50 Jahren »eine neue, unzulässige Form wirtschaftlicher Macht … und zwar auf dem sozialen Gebiet, in der geistigen Bildung und auch in der Politik« anprangerte (Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens,

14. Mai 1971, 44). Das war im Jahr 1971. Es sind harte, aber gerechte Worte meiner Vorgänger im Hinblick auf die Zukunft. Schon vor Jahrtausenden haben die Kirche und die Propheten das gesagt, was jetzt so viel Anstoß erregt, wenn der Papst es in dieser Zeit wiederholt, in der all das nie gekannte Ausdrucksformen erreicht. Die ganze Soziallehre der Kirche und das Lehramt meiner Vorgänger lehnen sich auf gegen den »Götzen Geld«, der herrscht, statt zu dienen, und der die Menschheit tyrannisiert und terrorisiert. Keine Tyrannei, keine Tyrannei kann sich halten, ohne unsere Ängste auszunutzen. Das ist der Schlüssel. Daher ist jede Tyrannei terroristisch.

Und wenn dieser Terror, der in den Randgebieten durch Massaker, Plünderungen, Unterdrückung und Ungerechtigkeit gesät wurde, in den Zentren durch verschiedene Formen der Gewalt, ja sogar durch abscheuliche und feige Attentate zum Ausbruch kommt, dann können die Bürger, die noch einige Rechte wahren, versucht werden durch die falsche Sicherheit physischer oder sozialer Mauern: Mauern, die die einen einschließen und andere vertreiben. Auf der einen Seite stehen eingemauerte, terrorisierte Bürger, auf der anderen Seite Ausgegrenzte, Vertriebene, die noch stärker terrorisiert sind. Ist das das Leben, das unser Vater für seine Kinder will? Angst wird genährt, sie wird manipuliert… Denn die Angst ist nicht nur ein gutes Geschäft für Waffenhändler und jene, die den Tod verkaufen.

Sie schwächt uns, bringt uns aus dem Gleichgewicht, zerstört unsere psychologischen und spirituellen Abwehrkräfte, sie betäubt uns gegenüber dem Leiden anderer und macht uns letzten Endes grausam. Wenn wir hören, dass man den Tod eines jungen Mannes feiert, der vielleicht den falschen Weg gegangen ist, wenn wir sehen, dass man den Krieg dem Frieden vorzieht, wenn wir sehen, dass Fremdenfeindlichkeit sich allgemein verbreitet, wenn wir feststellen, dass intolerante Vorschläge an Boden gewinnen: Hinter dieser Grausamkeit, die zum Massenphänomen zu werden scheint, steht der kalte Hauch der Angst. Ich bitte Sie: Beten wir für alle, die Angst haben. Beten wir, dass Gott ihnen Kraft schenken möge und dass wir in diesem Jahr der Barmherzigkeit unsere Herzen erweichen können.

Die Barmherzigkeit ist nicht einfach, sie ist nicht einfach… sie erfordert Mut. Daher sagt Jesus zu uns: »Fürchtet euch nicht!« (Mt <14,27), denn die Barmherzigkeit ist das beste Gegenmittel gegen die Angst. Sie ist viel besser als Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Viel wirksamer als Mauern, Gitter, Alarmanlagen und Waffen. Und sie ist unentgeltlich: Sie ist ein Geschenk Gottes. Liebe Brüder und Schwestern: Alle Mauern fallen. Alle. Lassen wir uns nicht täuschen. Sie selbst haben gesagt: »Wir wollen weiter daran arbeiten,  Brücken zwischen den Völkern zu bauen, Brücken, durch die wir die Mauern der Ausgrenzung und der Ausbeutung niederreißen können« (Schlussdokument der Zweiten Internationalen Begegnung der Volksbewegungen, 11. Juni 2015, Cruz de la Sierra, Bolivien). Setzen wir dem Terror Liebe entgegen.

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: die Liebe und die Brücken

An einem Tag wie heute, einem Sabbat, tat Jesus zwei Dinge, die – so sagt uns das Evangelium – die Verschwörung, ihn zu töten, beschleunigten. Er ging mit seinen Jüngern über ein Feld, ein Saatfeld. Die Jünger hatten Hunger und aßen die Ähren. Nichts wird gesagt über den »Eigentümer « des Feldes… dem zugrunde lag die universale Bestimmung der Güter. Sicher ist, dass Jesus angesichts des Hungers die Würde der Kinder Gottes über eine formalistische, anpassungsfähige und eigennützige Auslegung der Norm setzte. Als die Gesetzeslehrer Empörung heuchelten, erinnerte Jesus sie daran, dass Gott »Barmherzigkeit will und keine Opfer«, und er erklärte ihnen, dass der Sabbat für den Menschen da sei und nicht der Mensch für den Sabbat (vgl. Mk 2,27). Er begegnete der selbstgefälligen Heuchelei mit der demütigen Einsicht des Herzens (vgl. Predigt, Erster Kongress zur Evangelisierung der Kultur, Buenos Aires, 3. November 2006), die immer dem Menschen die Priorität gibt und nicht will, dass gewisse Logiken seiner Freiheit zu leben, zu lieben und dem Nächsten zu dienen, im Weg stehen.

Und dann tat Jesus am selben Tag etwas noch »Schlimmeres«, etwas, das die Heuchler und die Hochmütigen, die ihn überwachten, weil sie einen Vorwand suchten, ihn gefangen zu nehmen, noch mehr entrüstete. Er heilte die verdorrte, verkümmerte Hand eines Mannes: die Hand, das starke Zeichen der Tätigkeit, der Arbeit. Jesus gab diesem Mann die Fähigkeit zu arbeiten zurück, und damit gab er ihm die Würde zurück. Wie viele Hände sind verkümmert, wie viele Menschen sind der Würde der Arbeit beraubt, weil die Heuchler sich ihrer Heilung widersetzen, um ungerechte Systeme zu verteidigen. Manchmal denke ich, dass Sie, die organisierten Armen, wenn Sie ihre eigene Arbeit erfinden, indem sie eine Genossenschaft gründen, ein Konkurs gegangenes Unternehmen wieder aufbauen, den Abfall der Konsumgesellschaft wiederverwerten,sich den Unbilden der Witterung aussetzen, um etwas auf dem Markt zu verkaufen, ein Stück Land beanspruchen, um es zu bebauen und die Hungernden zu speisen – dass Sie, wenn sie das tun, Jesus nachahmen, weil Sie versuchen, die Verkümmerung des herrschenden sozioökonomischen Systems – also die Arbeitslosigkeit – zu heilen, wenn auch nur ein wenig, wenn auch in prekärer Form. Es wundert mich nicht, dass auch Sie manchmal überwacht oder verfolgt werden, und es wundert mich auch nicht, dass es die Hochmütigen nicht interessiert, was Sie sagen. An jenem Sabbat setzte Jesus sein Leben aufs Spiel, denn nachdem er jene Hand geheilt hatte, stellten die Pharisäer und die Anhänger des Herodes (vgl. Mk 3,6), zwei einander entgegengesetzte Parteien, die das Volk und auch das Reich fürchteten, Berechnungen an und verschworen sich, um ihn zu töten. Ich weiß, dass viele von Ihnen das Leben aufs Spiel setzen. Ich weiß – ich will es in Erinnerung rufen, will sie in Erinnerung rufen –, dass einige heute nicht hier sind, weil sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben… es gibt jedoch keine größere Liebe als sein Leben hinzugeben. Das lehrt uns Jesus.

Die »3T« – Ihr Schrei, den ich mir zu eigen mache – haben etwas von dieser demütigen, aber gleichzeitig starken und heilenden Einsicht. Ein Brücken-Plan der Völker gegenüber dem Mauer-Plan des Geldes. Ein Plan, der auf die ganzheitliche Entwicklung des Menschen abzielt. Einige wissen, dass unser Freund, Kardinal Turkson, jetzt dem Dikasterium vorsteht, das jenen Namen trägt: Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Das Gegenteil von Entwicklung, könnte man sagen, ist die Verkümmerung, die Lähmung. Wir müssen dazu beitragen, dass die Welt von ihrer moralischen Verkümmerung gerettet wird. Dieses verkümmerte System kann bestimmte kosmetische Maßnahmen anbieten, die keine wahre Entwicklung sind: wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt, größere »Effizienz« in der Produktion von Dingen, die man kaufen, benutzen und wegwerfen kann. Wir alle werden in eine schwindelerregende Dynamik des Wegwerfens eingebunden… diese Welt lässt jedoch die ganzheitliche Entwicklung des Menschen nicht zu – die Entwicklung, die nicht auf den Konsum reduziert ist, die nicht auf den Wohlstand einiger weniger reduziert ist, sondern alle Völker und Menschen in ihrer vollen Würde einschließt, die brüderlich die Wunder der Schöpfung genießen. Diese Entwicklung brauchen wir: menschlich, ganzheitlich, achtsam gegenüber der Schöpfung, diesem gemeinsamen Haus.

Ein weiterer Punkt: Bankrott und Rettung

Liebe Brüder, ich möchte Ihnen einige Überlegungen mitteilen über weitere zwei Themen, die – zusammen mit den »3T« und der ganzheitlichen Ökologie – im Mittelpunkt Ihrer Debatten in den letzten Tagen standen und die in diese Epoche der Geschichte im Mittelpunkt stehen. Ich weiß, dass Sie einen Tag dem Drama der Migranten, der Flüchtlinge und der Vertriebenen gewidmet haben. Was kann man angesichts dieser Tragödie tun? In dem Dikasterium, dem Kardinal Turkson vorsteht, gibt es eine Abteilung, die sich mit diesen Situationen befasst. Ich habe beschlossen, dass diese Abteilung, zumindest vorläufig, unmittelbar vom Papst abhängen soll, denn hier herrscht eine beschämende Situation, die ich nur mit einem Wort beschreiben kann, das mir auf Lampedusa spontan in den Sinn kam: Schande. Dort, ebenso wie auf Lesbos, konnte ich aus nächster Nähe das Leiden so vieler Familien spüren, die aus wirtschaftlichen Gründen oder aufgrund von Gewalt aller Art aus ihrer Heimat vertrieben wurden: Unmengen von Menschen, die – das habe ich gegenüber den Autoritäten aus aller Welt gesagt – vertrieben wurden infolge eines ungerechten sozioökonomischen Systems sowie kriegerischer Konflikte, die nicht von jenen gesucht und geschaffen wurden, die heute die schmerzliche Entwurzelung aus ihrer Heimat erleiden, sondern vielmehr viele von denen, die sich weigern, sie aufzunehmen.

Ich mache mir die Worte meines Bruders, des Erzbischofs Hieronymus von Griechenland, zu eigen: »Wer die Augen der Kinder sieht, denen wir in den Flüchtlingslagern begegnen, ist in der Lage, den ›Bankrott‹ der Menschheit unmittelbar in vollem Umfang zu erkennen« (Ansprache im Flüchtlingslager Moria, Lesbos, 16. April 2016). Was geschieht mit der heutigen Welt? Wenn eine Bank bankrottgeht, tauchen sofort skandalöse Summen auf, um sie zu retten, wenn jedoch dieser Bankrott der Menschheit erzeugt wird, gibt es fast nicht einmal ein Tausendstel davon, um diese Brüder zu retten, die so sehr leiden. So hat sich das Mittelmeer in einen Friedhof verwandelt, und nicht nur das Mittelmeer… Viele Friedhöfe gibt es an den Mauern – den Mauern, die von unschuldigem Blut befleckt sind. In den Tagen dieser Begegnung haben Sie es im Video gesagt: Wie viele Menschen sind im Mittelmeer gestorben? Die Angst verhärtet das Herz und wird zu blinder Grausamkeit, die sich weigert, das Blut, den Schmerz, das Gesicht des anderen zu sehen. Das sagte mein Bruder, der Patriarch Bartolomaios: »Wer Angst vor euch hat, hat euch nicht in die Augen geschaut. Wer Angst vor euch hat, hat nicht eure Gesichter gesehen. Wer Angst hat, sieht eure Kinder nicht. Er vergisst, dass die Würde und die Freiheit alle Angst und jede Spaltung übersteigen. Er vergisst, dass die Migration kein Problem des Nahen Ostens oder Nordafrikas, Europas oder Griechenlands ist. Sie ist ein Problem der Welt« (Ansprache im Flüchtlingslager Moria, Lesbos, 16. April 2016). Sie ist in der Tat ein Problem der Welt. Niemand darf sich gezwungen sehen, aus seiner Heimat zu fliehen. Es ist jedoch doppelt schlimm, wenn der Migrant gegenüber diesen schrecklichen Umständen in die Klauen der Menschenschmuggler gerät, um über die Grenzen zu gelangen, und es ist dreimal so schlimm, wenn er bei der Ankunft in dem Land, wo er meinte, eine bessere Zukunft zu finden, verachtet, ausgebeutet oder sogar versklavt wird. Das kann man überall in hunderten von Städten sehen. Oder man lässt ihn einfach nicht herein. Ich bitte Sie, alles zu tun, was Sie können. Vergessen Sie nie, dass Jesus, Maria und Josef ebenfalls das Flüchtlingsdrama erlebt haben. Ich bitte Sie, jene so besondere Solidarität zu üben, die unter jenen vorhanden ist, die gelitten haben. Sie verstehen es, Konkurs gegangene Unternehmen wieder aufzubauen; das wiederzuverwerten, was andere wegwerfen; Arbeitsplätze zu schaffen; das Land zu bebauen; Nahrung zu produzieren; abgesonderte Elendsviertel zu integrieren und unermüdlich Forderungen zu stellen, wie jene Witwe aus dem Evangelium, die inständig forderte, ihr Recht zu verschaffen (vgl. Lk 18,1-8).

Manchmal öffnen einige Staaten und internationale Organisationen durch euer Beispiel und eure inständigen Forderungen die Augen und ergreifen angemessene Mittel, um alle, die aufgrund dieser oder jener Umstände weit von zuhause entfernt Zuflucht suchen, aufzunehmen und vollständig zu integrieren – und auch, um den tieferen Ursachen zu begegnen, aus denen heraus Tausende von Männern, Frauen und Kindern jeden Tag aus ihrer Heimat vertrieben werden. Ein Vorbild sein und Forderungen zu stellen ist eine Form, sich an der Politik zu beteiligen, und das bringt mich zu dem zweiten wichtigen Punkt, über den Sie in Ihrer Begegnung diskutiert haben: die Beziehung zwischen Volk und Demokratie. Diese Beziehung sollte natürlich und fließend sein, läuft jedoch Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit verwischt zu werden. Die Kluft zwischen den Völkern und unseren gegenwärtigen Formen der Demokratie wird immer größer infolge der enormen Macht der wirtschaftlichen Gruppen und der Medien, die alles zu beherrschen scheinen. Ich weiß, dass die Volksbewegungen keine politischen Parteien sind. Und ich möchte Ihnen sagen, dass ihr Reichtum in großem Maße darin wurzelt, weil sie Ausdruck einer anderen, dynamischen und lebendigen Form der gesellschaftlichen Beteiligung am öffentlichen Leben sind. Haben Sie jedoch keine Angst, in die großen Debatten einzugreifen, in die »echte« Politik. Und ich zitiere erneut Paul VI.: »Die politische Kunst stellt eine schwierige und harte – jedoch nicht die einzige – Weise dar, jene schwere Pflicht zu erfüllen, nach der ein Christ den anderen zu dienen gehalten ist« (Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, 14. Mai 1971, 46). Oder jenes Wort, das ich oft wiederhole und wo ich mir immer nicht sicher bin, ob es von Paul VI. oder von Pius XII. stammt: »Die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe.« Ich möchte auf zwei Gefahren hinweisen, die die Beziehung zwischen den Volksbewegungen und der Politik betreffen: die Gefahr, sich in ein Korsett zwängen zu lassen, und die Gefahr, sich bestechen zu lassen.

Erstens darf man sich nicht in ein Korsett zwängen lassen. Denn einige sagen: die Genossenschaft, die Armenküche, das biologische Anbaugebiet, das Mikrounternehmen, die Fürsorgepläne… bis hierher ist alles in Ordnung. Solange sie im Korsett der »Sozialpolitik« bleiben, solange sie nicht die Wirtschaftspolitik oder die »wahre« Politik hinterfragen, werden sie toleriert. Diese Vorstellung von einer Sozialpolitik, die verstanden wird als eine Politik »gegenüber« den Armen, aber nie »mit« den Armen, die nie die Politik »der« Armen ist und schon gar nicht in einen Plan integriert ist, der die Völker wieder miteinander vereint, erscheint mir manchmal wie eine Art verschönerter Kipplaster, der den Abfall des Systems enthält. Wenn Sie sich aus Ihrer Verwurzelung im nahen Umfeld, aus Ihrer täglichen Wirklichkeit, aus dem Stadtviertel, aus der unmittelbaren Umgebung, aus der Organisation der gemeinschaftlichen Arbeit, aus den zwischenmenschlichen Beziehungen heraus sich trauen, die »Makro-Beziehungen« in Frage zu stellen, wenn Sie schreien, wenn Sie rufen, wenn Sie sich anmaßen, den Mächtigen einen ganzheitlicheren Plan aufzuzeigen – dann wird das bereits nicht mehr geduldet.

Es wird nicht mehr geduldet, weil sie das Korsett verlassen, sich auf das Gebiet der großen Entscheidungen begeben, von denen einige den Anspruch erheben, das Monopol darauf kleinen Kasten zuzuschreiben. So verkümmert die Demokratie, wird sie zum Nominalismus, zur Formalität, verliert sie ihre Repräsentativität, wird sie entleiblicht, weil sie das Volk außen vor lässt in seinem Kampf um die Würde, beim Aufbau seines Schicksals. Sie, die Organisationen der Ausgegrenzten und viele Organisationen anderer Sektoren der Gesellschaft, sind aufgerufen, die Demokratien, die eine wahre Krise durchmachen, neu zu beleben, neu zu gründen. Geraten Sie nicht in die Versuchung, ein Korsett anzulegen, das Sie zu Nebenfiguren oder, noch schlimmer, zu reinen Verwaltern des bestehenden Elends macht. In dieser Zeit der Lähmung, der Desorientierung und der destruktiven Angebote kann der Protagonismus der Völker, die nach dem Gemeinwohl streben, mit Hilfe Gottes über die falschen Propheten siegen, die Angst und Hoffnungslosigkeit ausnutzen und magische Formeln des Hasses oder der Grausamkeit oder eines egoistischen Wohlstands und einer illusorischen Sicherheit verkaufen.

Wir wissen: »Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel« (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 202). Daher habe ich gesagt und sage noch einmal: »Die Zukunft der Menschheit liegt nicht allein in den Händen der großen Verantwortungsträger, der bedeutenden Mächte und der Eliten. Sie liegt grundsätzlich in den Händen der Völker; in ihrer Organisationsfähigkeit und auch in ihren Händen, die in Demut und mit Überzeugung diesen Wandlungsprozess ›begießen‹« (Ansprache auf der Zweiten Internationalen Begegnung der Volksbewegungen; Santa Cruz de la Sierra, Bolivien, 9. Juli 2015). Auch die Kirche kann und muss, ohne das Wahrheitsmonopol zu beanspruchen, die Stimme erheben und handeln, »vor allem dann, wenn es um Situationen geht, in denen man mit Wunden und dramatischem Leiden konfrontiert ist und die die Werte, die Ethik, die Sozialwissenschaften und den Glauben betreffen« (Ansprache beim Gipfeltreffen der Richter und Staatsanwälte gegen den Menschenhandel und das organisierte Verbrechen, Vatikan, 3. Juni 2016). Das war die erste Gefahr: die Gefahr, sich in ein Korsett zwängen zu lassen, und die Aufforderung, sich in die große Politik einzumischen.

Die zweite Gefahr besteht wie gesagt darin, sich bestechen zu lassen. So wie die Politik nicht Angelegenheit der »Politiker« ist, so betrifft die Untugend der Korruption nicht ausschließlich die Politik. Es gibt Korruption in der Politik, es gibt Korruption in den Unternehmen, es gibt Korruption in den Kommunikationsmitteln, es gibt Korruption in den Kirchen, und es gibt auch Korruption in den sozialen Organisationen und in den Volksbewegungen. Es ist richtig zu sagen, dass es eine Korruption gibt, die sich in einigen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens eingebürgert hat, besonders im Finanzwesen, und die weniger in die Schlagzeilen gerät als die Korruption, die unmittelbar mit dem politischen und dem sozialen Bereich verbunden ist.

Es ist richtig zu sagen, dass die Korruptionsfälle oft böswillig manipuliert werden. Aber es ist auch richtig klarzustellen, dass jene, die sich für ein Leben im Dienst anderer entschieden haben, außer der Ehrlichkeit, mit der ein jeder Mensch im Leben handeln muss, noch eine zusätzliche Verpflichtung besitzen. Die Messlatte hängt höher: Die Berufung zum Dienen muss mit einem starken Sinn für Austerität und Demut gelebt werden. Das gilt für die Politiker ebenso wie für die sozialen Verantwortungsträger und für uns, die Hirten. Ich sagte »Austerität«. Ich möchte erklären, was ich mich mit dem Wort »Austerität« meine. Es kann ein zweideutiges Wort sein. Moralische Austerität, Austerität in der Lebensweise, Austerität in meiner Lebensführung, in meinem Familienleben. Moralische und menschliche Austerität. Denn im wissenschaftlichen Bereich – im wirtschaftswissenschaftlichen, wenn man so will – oder in den Marktwissenschaften ist Austerität gleichbedeutend mit Ausgleich. Das meine ich nicht. Davon ist hier nicht die Rede.

Jedem Menschen, der zu sehr an den materiellen Dingen oder am eigenen Spiegelbild hängt, der Gefallen findet an Geld, üppigen Banketten, prunkvollen Häusern, raffinierter Kleidung, luxuriösen Autos, würde ich raten, zu ergründen, was in seinem Herzen vorgeht, und darum zu beten, dass Gott ihn von diesen Fesseln befreien möge. Aber in Anlehnung an das, was der ehemalige lateinamerikanische Präsident, der hier anwesend ist, gesagt hat: Wer an all diesen Dingen hängt, soll bitte nicht in die Politik gehen. Er soll nicht in eine soziale Organisation oder eine Volksbewegung eintreten, denn er wird sich selbst und seinem Nächsten viel Schaden zufügen und das edle Anliegen, das er vertritt, beflecken. Er soll auch nicht ins Seminar eintreten.

Gegen die Versuchung der Korruption gibt es kein besseres Mittel als die Austerität; die moralische und die persönliche Austerität. Und Austerität zu praktizieren bedeutet außerdem, durch das Vorbild zu predigen. Ich bitte Sie, den Wert des Vorbilds nicht unterzubewerten, denn es hat mehr Kraft als tausend Worte, als tausend Flugblätter, als tausend »Likes«, als tausend »Retweets « als tausend »Youtube«-Videos. Das Vorbild eines austeren Lebens im Dienst des Nächsten ist die beste Form, das Gemeinwohl zu und den Brücken-Plan der »3T« zu fördern. Ich bitte die Verantwortungsträger, nicht müde zu werden, diese moralische, persönliche Austerität zu praktizieren, und ich bitte alle, von den Verantwortungsträgern diese Austerität zu fordern, die sie andererseits sehr glücklich machen wird. Liebe Schwestern und Brüder: Korruption, Hochmut, Exhibitionismus der Verantwortungsträger mehren den kollektiven Misskredit, das Gefühl der Hilflosigkeit und schüren den Mechanismus der Angst, der dieses ungerechte System unterstützt.

Abschließend möchte ich Sie bitten, auch weiterhin der Angst entgegenzutreten durch ein Leben des Dienens, der Solidarität und Demut zugunsten der Völker und insbesondere jener, die am meisten leiden. Sie mögen oft Fehler machen, wir alle machen Fehler, aber wenn wir diesen Weg beharrlich fortsetzen, werden wir früher oder später die Früchte sehen. Und ich sage noch einmal: Das beste Gegenmittel gegen den Terror ist die Liebe. Die Liebe heilt alles. Einige wissen, dass ich nach der Synode über die Familie ein Dokument geschrieben habe mit dem Titel Amoris laetitia: die Freude der Liebe. Ein Dokument über die Liebe in der Familie eines jeden Menschen, aber auch in jener anderen Familie: dem Stadtviertel, der Gemeinschaft, dem Volk, der Menschheit. Jemand von Ihnen hat mich gebeten, ein kleines Heft zu verteilen, das einen Abschnitt aus dem vierten Kapitel dieses Dokuments enthält. Ich glaube, es wird Ihnen am Ausgang übergeben. Es geht also mit meinem Segen. Dort gibt es einige »nützliche Ratschläge«, um das wichtigste Gebot Jesu in die Tat umzusetzen.

In Amoris laetitia zitiere ich eine verstorbene afroamerikanische Führungsgestalt, Martin Luther King, der sich für die brüderliche Liebe entschieden hat, auch inmitten der schlimmsten Verfolgungen und Demütigungen. Ich möchte euch heute daran erinnern, was er gesagt hat: »Wenn du dich auf die Ebene der Liebe, ihrer großen Schönheit und Macht, erhebst, trachtest du nur danach, bösartige Systeme zu besiegen. Die Menschen, die in diesem System gefangen sind, die liebst du, versuchst aber, das System zu besiegen […] Hass gegen Hass steigert nur die Existenz des Hasses und des Bösen im Universum. Wenn ich dich schlage und du mich schlägst und ich dir den Schlag zurückgebe und du mir den Schlag zurückgibst und so weiter, dann ist klar, das geht ewig so weiter. Es endet einfach niemals. Irgendwo muss irgendjemand ein bisschen Verstand haben, und das ist der starke Mensch. Der starke Mensch ist derjenige, welcher die Kette des Hasses, die Kette des Bösen durchschneiden kann« (Nr. 118; Sermon delivered at Dexter Avenue Baptist Church, Montgomery, Alabama, 17. November 1957).

Ich danke Ihnen erneut für Ihre Arbeit und Ihre Anwesenheit. Ich bitte Gott, unseren Vater, Sie zu begleiten und Sie zu segnen, Sie mit seiner Liebe zu erfüllen und Sie auf dem Weg zu schützen. Er gebe Ihnen in ganzer Fülle jene Kraft, die uns auf den Beinen hält und uns den Mut schenkt, die Kette des Hasses zu durchschneiden: Diese Kraft ist die Hoffnung. Ich bitte Sie, für mich zu beten. Und wer nicht beten kann, weiß schon Bescheid: Halten Sie mich gut im Gedächtnis und sende Sie mir eine »gute Welle«. Danke.

 


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