ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
AN DIE VINZENTINISCHE FAMILIE ZUM 400. GRÜNDUNGSTAG
Petersplatz
Samstag, 14. Oktober 2017
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Danke für euren herzlichen Empfang. Auch dem Generaloberen danke ich für die einleitenden Worte zu dieser unserer Begegnung. Ich begrüße euch, und gemeinsam mit euch danke ich dem Herrn für die 400 Jahre eures Charismas.
Der heilige Vinzenz hat einen Elan der Nächstenliebe ins Leben gerufen, der durch die Jahrhunderte hindurch anhält: ein Elan, der aus seinem Herzen kam. Daher haben wir heute hier die Reliquie: das Herz des heiligen Vinzenz. Ich möchte euch heute ermutigen, diesen Weg fortzusetzen, indem ich euch drei einfache Verben vor Augen stelle, die – so glaube ich – für den vinzentinischen Geist, aber auch für das christliche Leben allgemein sehr wichtig sind: anbeten, aufnehmen, aufbrechen.
Anbeten. Zahllos sind die Aufforderungen des heiligen Vinzenz, das innere Leben zu pflegen und sich dem Gebet zu widmen, das das Herz öffnet und läutert. Für ihn ist das Gebet grundlegend. Es ist der Kompass eines jeden Tages, es ist wie ein Handbuch des Lebens, es ist – so schrieb er – »das große Buch des Apostels«: Nur im Gebet schöpft man aus Gott Liebe, mit der man sich der Welt zuwendet; nur betend berührt man die Herzen der Menschen bei der Verkündigung des Evangeliums (vgl. Brief an A. Durand, 1685).
Aber für den heiligen Vinzenz ist das Gebet nicht nur eine Pflicht und noch weniger eine Ansammlung von Formeln. Gebet heißt, vor Gott zu verweilen, um mit ihm zusammen zu sein, sich ihm ganz zu widmen. Das ist das reinste Gebet: das Gebet, das dem Herrn und dem Lobpreis Raum gibt, und nichts anderem – die Anbetung. Hat man die Anbetung einmal entdeckt, dann wird sie unverzichtbar, weil sie reine Vertrautheit mit dem Herrn ist, die Frieden und Freude schenkt und die Kümmernisse des Lebens löst. So riet der heilige Vinzenz jemandem, der besonderem Druck ausgesetzt war, auch im Gebet zu verweilen, »ohne Spannung, sich mit einfachen Blicken in Gott zu versenken, ohne sich zu bemühen, seine Gegenwart mit spürbaren Anstrengungen zu erreichen, sondern sich ihm überlassend« (Brief an G. Pesnelle, 1659). Das ist Anbetung: sich vor den Herrn begeben, mit Respekt, Ruhe und in Stille, ihm den ersten Platz einzuräumen, sich vertrauensvoll ihm überlassend. Um ihn dann zu bitten, dass sein Geist zu uns komme und dass unsere Angelegenheiten zu ihm gelangen.
So gehören auch die Bedürftigen, die dringenden Probleme, die belastenden und schwierigen Situationen zur Anbetung, so dass der heilige Vinzenz aufforderte, sogar die Gründe, die man nur schwer verstehen und akzeptieren kann, »in Gott anzubeten« (vgl. Brief an F. Get, 1659). Wer anbetet, wer die lebendige Quelle der Liebe regelmäßig aufsucht, muss davon sozusagen »angesteckt« werden. Und er beginnt, sich den anderen gegenüber so zu verhalten, wie dies der Herr ihm gegenüber tut: Er wird barmherziger, verständnisvoller, bereitwilliger, überwindet die eigene Starrheit und öffnet sich den anderen.
Und so kommen wir zum zweiten Verb: annehmen. Wenn wir dieses Wort hören, denken wir sofort an etwas, das wir tun müssen. In Wirklichkeit aber ist Annahme eine tiefere Haltung: sie erfordert nicht nur, jemandem Platz einzuräumen, sondern aufnahmebereite, verfügbare Menschen zu sein, die es gewohnt sind, sich den anderen zu schenken: wie Gott uns gegenüber, so wir auch gegenüber den anderen. Annehmen bedeutet das eigene Ich zu verkleinern, die Art und Weise des Denkens zurechtzurücken, zu verstehen, dass das Leben nicht mein Privatbesitz ist und dass die Zeit nicht mir gehört. Es ist eine langsame Loslösung von all dem, was mir gehört: meine Zeit, meine Erholung, meine Rechte, meine Projekte, mein Terminkalender.
Wer annimmt, verzichtet auf das Ich und lässt das Du und das Wir in das eigene Leben eintreten. Der annehmende Christ ist ein wahrer Mann, eine wahre Frau der Kirche, weil die Kirche Mutter ist, und eine Mutter nimmt das Leben an und begleitet es. Und wie ein Kind der Mutter ähnelt, deren Gesichtszüge trägt, so trägt der Christ diese Züge der Kirche. Dann ist der ein wirklich treues Kind der Kirche, der aufnahmebereit ist, der ohne zu klagen Eintracht und Gemeinschaft aufbaut und mit Großherzigkeit Frieden sät, auch wenn es ihm nicht vergolten wird. Der heilige Vinzenz möge uns helfen, diese kirchliche »DNA« der Aufnahme, der Verfügbarkeit, der Gemeinschaft wertzuschätzen und zu nutzen, und aus unserem Leben »jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse zu verbannen« (vgl. Eph 4,31).
Das letzte Verb ist aufbrechen. Liebe ist dynamisch, sie geht aus sich heraus. Wer liebt, bleibt nicht im Sessel sitzen, um zuzuschauen und auf eine bessere Welt zu warten, sondern mit Begeisterung und Einfachheit steht er auf und geht. Der heilige Vinzenz hat das gut ausgedrückt: »Unsere Berufung ist daher aufzubrechen und zu gehen, nicht in eine Pfarrei und auch nicht nur in eine Diözese, sondern in die ganze Welt. Um was zu tun? Um die Herzen der Menschen zu entflammen, indem wir tun, was der Sohn Gottes getan hat, der gekommen ist, um Feuer auf die Erde zu bringen, um sie mit seiner Liebe zu entflammen« (Vortrag am 30. Mai 1659). Diese Berufung gilt immer und für alle. Sie stellt jedem Fragen: »Gehe ich auf die anderen zu, wie der Herr es will? Bringe ich dort, wo ich hingehe, dieses Feuer der Liebe, oder bleibe ich eingeschlossen, um mich an meinem Kaminfeuer zu wärmen?« Liebe Brüder und Schwestern, ich danke euch, weil ihr auf den Straßen der Welt in Bewegung seid, wie der heilige Vinzenz es auch heute von euch fordern würde. Ich wünsche euch, dass ihr nicht stehenbleibt, sondern dass ihr fortfahrt, jeden Tag aus der Anbetung die Liebe Gottes zu schöpfen und sie in der Welt zu verbreiten durch die »gute Ansteckung« der Liebe, der Verfügbarkeit, der Eintracht. Ich segne euch alle und die Armen,bdenen ihr begegnet. Und ich bitte euch umbeine Geste der Liebe: Vergesst nicht, für mich zubbeten!
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