APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH CHILE UND PERU
(15.-22. JANUAR 2018)
BESUCH DER KATHOLISCHEN UNIVERSITÄT
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Santiago de Chile
Mittwoch, 17. Januar 2018
Sehr geehrter Herr Großkanzler Kardinal Ricardo Ezzati,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
sehr geehrter Herr Rektor Dr. Ignacio Sánchez,
verehrte Amtsträger der Universität,
liebe Professoren, Amtsträger und Angestellte der Universität,
liebe Studierende,
es ist mir eine Freude, mit Ihnen in diesem Haus des Studiums zusammen sein zu können, das in den fast 130 Jahren seines Bestehens dem Land einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat. Ich danke dem Herrn Rektor für seine Willkommensworte im Namen aller. Ebenso danke ich Ihnen, Herr Rektor, für das Gute, das Sie mit ihrer „Klugheit“ hinsichtlich der Leitung der Universität und der mutigen Verteidigung der Identität der katholischen Universität tun. Vielen Dank.
Die Geschichte dieser Universität ist in gewisser Weise mit der Geschichte Chiles verwoben. Es sind Tausende von Männern und Frauen, die nach ihrer Ausbildung hier bedeutende Aufgaben für die Entwicklung des Heimatlandes übernommen haben. Ich möchte besonders an die Persönlichkeit des heiligen Alberto Hurtado erinnern, der hier vor nunmehr 100 Jahren seine Studien begonnen hat. Sein Leben wird zu einem klaren Zeugnis dafür, wie die Intelligenz, die akademische Exzellenz und die Professionalität im Berufsalltag mit dem Glauben, der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe in Einklang gebracht – weit davon entfernt, geringer zu werden – eine Kraft erlangen, die eine Prophetie ist, die fähig ist, Horizonte zu eröffnen und den Pfad zu erleuchten, vor allem für die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen, insbesondere heute, wo diese Wegwerfkultur beliebt ist.
In diesem Sinn möchte ich Ihre Worte, Herr Rektor, nochmals aufgreifen, da Sie betonten: »Wir stehen vor Herausforderungen, die für unser Heimatland wichtig sind, die in Beziehung stehen mit dem nationalen Zusammenleben und mit der Fähigkeit, gemeinsam vorwärtszukommen.«
1. Nationales Zusammenleben.
Von Herausforderungen zu sprechen, bedeutet anzuerkennen, dass es Situationen gibt, die an einen Punkt gelangt sind, an dem sie neu bedacht werden müssen. Was bis gestern ein Faktor der Einheit und des Zusammenhalts sein konnte, erfordert heute neue Antworten. Der beschleunigte Rhythmus und die fast atemberaubende Einführung einiger Abläufe und Veränderungen, die sich in unseren Gesellschaften durchsetzen, laden uns – in gelassener Weise, aber ohne Aufschub – zu einer Reflexion ein, die nicht naiv, utopisch und noch weniger voluntaristisch sein darf. Das bedeutet nicht, den Erkenntnisfortschritt zu bremsen, sondern aus der Universität einen privilegierten Raum zu machen, »um die Grammatik des Dialogs zu praktizieren, die zur Begegnung heranbildet«.[1]Denn »die wahre Weisheit [ist] Ergebnis der Reflexion, des Dialogs und der großzügigen Begegnung zwischen Personen«.[2]
Das nationale Zusammenleben ist möglich – unter anderem – in dem Maß, in dem wir Bildungsprozesse schaffen, die in gleicher Weise transformierend, einbeziehend und vom Miteinander geprägt sind. Zum Zusammenleben heranzubilden besteht nicht nur darin, der Bildungsarbeit Werte hinzuzufügen, sondern darin, eine Dynamik des Zusammenlebens innerhalb des eigenen Bildungssystems zu erzeugen. Es ist nicht so sehr eine Frage der Inhalte, sondern es geht darum, darin zu unterweisen, in integrierender Weise zu denken und zu urteilen. Das ist, was die Klassiker forma mentis zu nennen pflegten.
Und um dies zu erreichen, ist es notwendig, eine integrierende Alphabetisierung zu entwickeln, die es versteht, die Transformationsprozesse, die im Schoß unser Gesellschaften erzeugt werden, aufeinander abzustimmen.
Ein solcher Prozess der Alphabetisierung verlangt, gleichzeitig an der Integration der verschiedenen Sprachen zu arbeiten, die uns als Personen ausmachen. Das bedeutet eine Bildung – Alphabetisierung –, die den Intellekt, die Affekte und die Aktion einbezieht und in Einklang bringt, das heißt den Kopf, das Herz und die Hände. Das bietet und ermöglicht den Studierenden, nicht nur harmonisch auf persönlicher Ebene, sondern gleichzeitig auf sozialer Ebene zu wachsen. Es ist dringend notwendig, Räume zu schaffen, in denen die Fragmentierung nicht das dominierende Muster – sogar des Denkens – ist; dafür ist es notwendig, darin zu unterweisen, zu denken, was man spürt und tut; zu spüren, was man denkt und tut; zu tun, was man denkt und spürt. Ein Dynamismus der Fähigkeiten im Dienst der Person und der Gemeinschaft.
Die Alphabetisierung, die auf der Integration der unterschiedlichen Sprachweisen, die uns formen, basiert, wird die Studierenden immer mehr in ihren eigenen Bildungsprozess einbeziehen; ein Prozess im Hinblick auf die Herausforderungen, die die nahe Zukunft ihm bringen wird. Die »Scheidung« zwischen dem Wissen und den Sprechweisen sowie der Analphabetismus, wie die unterschiedlichen Dimensionen des Lebens integriert werden können, erreichen einzig Fragmentierung und sozialen Bruch.
In dieser flüchtigen Gesellschaft,[3] oder Gesellschaft der Leichtigkeit,[4] wie einige Denker sie nennen wollten, schwinden allmählich die Bezugspunkte, von denen aus die Personen ihr Leben individuell und sozial aufbauen können. Es scheint, dass heute die »Wolke« der neue Ort der Begegnung ist, der vom Mangel an Stabilität geprägt ist, da ja alles sich verflüchtigt und deshalb an Konsistenz verliert.
Und solch ein Mangel an Konsistenz könnte einer der Gründe für den Verlust des Bewusstseins für den öffentlichen Raum sein. Ein Raum, der ein Minimum an Transzendenz über die privaten Interessen (mehr und besser zu leben) hinaus verlangt, um auf Fundamenten aufzubauen, die diese so wichtige Dimension unseres Lebens offenbaren, wie es das »Wir« ist. Ohne dieses Bewusstsein – aber besonders ohne diese Empfindung und deshalb ohne diese Erfahrung – ist es sehr schwierig und wird es weiter schwierig sein, die Nation aufzubauen, und dann mag es scheinen, dass das einzig Wichtige und Gültige das ist, was dem Individuum angehört, und dass alles, was außerhalb dieser Jurisdiktion bleibt, obsolet wird. Eine solche Kultur hat das Gedächtnis verloren, hat die Bindungen verloren, die das Leben tragen und ermöglichen. Ohne das »Wir« eines Volkes, einer Familie, einer Nation und zugleich ohne das »Wir« der Zukunft, der Kinder und des Morgens, ohne das »Wir« einer Stadt, die »Mich« übersteigt und reicher ist als die individuellen Interessen, wird das Leben nicht nur immer mehr zerstückelt, sondern reicher an Konflikt und Gewalt.
Die Universität steht in diesem Sinn vor der Herausforderung, die neuen Dynamiken innerhalb ihres eigenen Lehrkörpers zu erzeugen, die jegliche Fragmentierung des Wissens überwinden und zu einer wahrhaftigen universitas anregen sollen.
2. In Gemeinschaft vorankommen
Von daher ist das zweite für dieses Haus des Studiums so wichtige Element: die Fähigkeit, in Gemeinschaft voranzukommen.
Ich habe mit Freude von der Evangelisierungsbemühung und von der fröhlichen Lebendigkeit Ihrer Universitätspastoral erfahren, Zeichen einer jungen, lebendigen Kirche »im Aufbruch«. Die Missionen, die Sie jedes Jahr an verschiedenen Orten des Landes durchführen, sind ein starkes und sehr bereicherndes Ereignis. Bei diesen Gelegenheiten gelingt es Ihnen, den Horizont Ihres Blicks zu weiten, und Sie treten in Kontakt mit den verschiedenen Situationen, die Sie – über das punktuelle Ereignis hinaus – mobilisiert sein lassen. Der »Missionar« – im etymologischen Sinn des Wortes – kehrt nie als der Gleiche aus der Mission zurück; er erfährt den Vorübergang Gottes im Sinne der Begegnung mit so vielen Gesichtern, die er entweder nicht kannte, oder die ihm nicht vertraut oder fern waren.
Diese Erfahrungen können nicht vom universitären Geschehen abgesondert bleiben. Die klassischen Forschungsmethoden erfahren gewisse Grenzen, umso mehr, wenn es sich um eine Kultur wie die unsere handelt, die die direkte und unmittelbare Partizipation der Subjekte anregt. Die aktuelle Kultur erfordert neue Formen, die geeignet sind, alle Akteure einzubeziehen, die das soziale Geschehen und daher das Bildungsgeschehen mitgestalten. Von daher ergibt sich die Bedeutsamkeit, das Konzept der Bildungsgemeinschaft zu erweitern.
Die Gemeinschaft ist herausgefordert, nicht isoliert zu bleiben von den Erkenntnisweisen; ebenso dazu, keine Erkenntnis unter Ausschluss der Adressaten der Erkenntnisse zu konstruieren. Es ist notwendig, dass der Erkenntniserwerb dazu befähigt, eine Interaktion zwischen dem Hörsaal und der Weisheit der Völker hervorzubringen, die diese gesegnete Erde mitgestalten. Eine Weisheit reich an Intuitionen, an „Spürsinn“, den man nicht ignorieren kann, will man Chile geistig voranbringen. Auf diese Weise wird diese so bereichernde Synergie zwischen wissenschaftlicher Strenge und der Intuition des Volkes hergestellt werden. Die enge Interaktion zwischen beiden verbietet die Scheidung zwischen dem Verstand und der Aktion, zwischen dem Denken und dem Spüren, zwischen dem Erkennen und dem Leben, zwischen dem Beruf und dem Dienst. Das Erkennen muss sich immer zum Dienst am Leben berufen fühlen und sich mit dem Leben konfrontieren, um weiter Fortschritte machen zu können. Von daher kann sich die Bildungsgemeinschaft nicht auf Hörsäle und Bibliotheken reduzieren, sondern muss kontinuierlich zur Partizipation gelangen. Einen solchen Dialog kann man nur ausgehend von einer Episteme realisieren, die fähig ist, eine plurale Logik zu übernehmen; das heißt, dass sie die Interdisziplinarität und die Interdependenz des Wissens übernimmt. »In diesem Sinne ist es unumgänglich, den Gemeinschaften der Ureinwohner mit ihren kulturellen Traditionen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sind nicht eine einfache Minderheit unter anderen, sie müssen vielmehr die wesentlichen Ansprechpartner werden, vor allem wenn man mit großen Projekten vordringt, die ihre Gebiete einbeziehen.«[5]
Die Bildungsgemeinschaft bewahrt in sich eine Unzahl an Möglichkeiten und Leistungsfähigkeiten, wenn sie sich bereichern und anfragen lässt von allen Akteuren, die das Bildungsgeschehen mitgestalten. Dies erfordert eine verstärkte Bemühung in der Qualität und in der Integration. Der universitäre Dienst muss nämlich immer darauf abzielen, von Qualität und Exzellenz zu sein, die in den Dienst des nationalen Zusammenlebens gestellt werden. Wir könnten sagen, dass die Universität zu einem Labor für die Zukunft des Landes wird, da es ihr gelingt, in ihrem Schoß das Leben und das Unterwegssein des Volkes aufzunehmen, indem sie jede antagonistische und elitäre Logik des Wissens überwindet.
Eine alte Tradition der Kabbala erzählt, dass der Ursprung des Bösen in der Spaltung liegt, die der Mensch verursacht, indem er vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse isst. Auf diese Weise erlangte die Erkenntnis eine Vorherrschaft über die Schöpfung und unterwarf sie ihren Schemata und Wünschen.[6]Die latente Versuchung in jedem akademischen Umfeld ist wohl, die Schöpfung auf einige interpretative Schemata zu reduzieren und sie so des eigentlichen Mysteriums zu berauben, das ganze Generationen dazu bewegt hat, das unbedingt Notwendige, Gute, Schöne und Wahre zu suchen. Und dann, wenn der Professor – aufgrund seiner Weisheit – zu einem »Lehrmeister« wird, ja dann ist er imstande, die Fähigkeit des Staunens in unseren Studierenden zu wecken. Staunen angesichts einer Welt und eines Universums, die zu entdecken sind!
Heute erweist sich die Mission, die Sie in Händen haben, als eine prophetische. Sie sind aufgefordert, Prozesse zu schaffen, die die aktuelle Kultur erleuchten, indem sie einen neuen Humanismus vorstellen, der es vermeidet, in irgendeine Art von Reduktionismus zu verfallen. Diese Prophetie, die von uns verlangt ist, treibt dazu an, Räume zu suchen, die mehr auf Dialog als auf Konfrontation zurückgreifen; Räume mehr der Begegnung als der Trennung; Wege der freundschaftlichen Auseinandersetzung, damit man sich voneinander unterscheidet mit Respekt unter Personen, die unterwegs sind auf der ehrlichen Suche, in Gemeinschaft auf ein erneuertes nationales Zusammenleben hin voranzuschreiten.
Und wenn Sie das erbitten, so zweifle ich nicht daran, dass der Heilige Geist Ihre Schritte leiten wird, auf dass dieses Haus weiterhin Frucht bringe zum Wohl des Volkes von Chile und zur Ehre Gottes.
Ich danke Ihnen nochmals für diese Begegnung und bitte Sie, nicht zu vergessen, für mich zu beten. Vielen Dank!
[1] Ansprache von Papst Franziskus an die Teilnehmer der Vollversammlung der Kongregation für das Katholische Bildungswesen (9. Februar 2017).
[2] Enzyklika Laudato si’, 47.
[3] Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne,Frankfurt/M. 2003 (Original: Modernidad líquida, Buenos Aires 1999).
[4] Vgl. Gilles Lipovetsky, De la Légèretè. Essai. Paris 2015.
[5] Enzyklika Laudato si’, 146.
[6] Vgl. Gershom Scholem, La mystique juive, Paris 1985, 86.
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