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APOSTOLISCHE REISE DES HEILIGEN VATERS 
NACH LITAUEN, LETTLAND UND ESTLAND

[22.-25. SEPTEMBER 2018]

BEGEGNUNG MIT VERTRETERN DER REGIERUNG, DER ZIVILGESELLSCHAFT UND DEM DIPLOMATISCHEN KORPS

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Empfangssaal des Präsidentenpalasts (Lettland)
Montag, 24. September 2018

[Multimedia]


 

Sehr geehrter Herr Präsident,
verehrte Mitglieder der Regierung
und Verantwortungsträger,
werte Mitglieder des Diplomatischen Korps
und Vertreter der Zivilgesellschaft,
meine lieben Freunde,

ich danke Ihnen, Herr Präsident, für Ihre freundlichen Begrüßungsworte wie auch für die Einladung zu diesem Besuch, die sie mir während unserer Begegnung im Vatikan ausgesprochen haben. Es ist mir eine Freude, erstmals hier in Lettland zu sein und in dieser Stadt, die, wie Ihr ganzes Land, von harten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und auch geistlichen Prüfungen gezeichnet wurde – welche von den Spaltungen und Konflikten der Vergangenheit herrührten –, die aber heute zu einem der wichtigsten kulturellen und politischen Zentren und einer der bedeutendsten Hafenstädte der Region geworden ist. Die Vertreter Ihres Landes aus dem Bereich der Kunst und Kultur und insbesondere auch der Musik sind im Ausland wohl bekannt. Auch ich konnte das heute bei meiner Ankunft am Flughafen würdigen. Daher glaube ich, dass die Worte des Psalmisten »Du hast meine Klagen in Tanzen verwandelt« (Ps 30,12) gut hierher passen. Lettland, das Land der „Dainas“, war in der Lage, seine Trauer und seinen Schmerz in Gesang und Tanz zu verwandeln und hat sich bemüht, ein Ort des Dialogs, der Begegnung und des friedlichen Zusammenlebens zu werden, der den Blick in die Zukunft richten will.

Sie feiern hundert Jahre Ihrer Unabhängigkeit, einen wichtigen Moment im Leben der ganzen Gesellschaft. Sie kennen sehr wohl den Preis dieser Freiheit, die Sie erobern und zurückerobern mussten. Diese Freiheit wurde ermöglicht durch die Wurzeln, auf denen Sie gründen, wie es Zenta Maurina einmal formuliert hat, die viele von Ihnen inspiriert hat: »Meine Wurzeln sind im Himmel«. Ohne diese Fähigkeit nach oben zu schauen, ohne diesen Bezug zu dem Höheren, das uns an die „transzendente Würde“ erinnert, die jedem Menschen zusteht (vgl. Ansprache an das Europäische Parlament, 25. November 2014), wäre der Wiederaufbau Ihrer Nation nicht möglich gewesen. Diese spirituelle Fähigkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen, die sich in kleinen, täglichen Gesten der Solidarität, des Mitgefühls und der gegenseitigen Hilfe konkretisiert, hat Ihnen Halt gegeben und Ihnen jeweils die nötige Kreativität verliehen, trotz aller reduktionistischen und ausgrenzenden Bestrebungen, die das soziale Gefüge stets bedrohen, eine neue soziale Dynamik in Gang zu bringen.

Ich freue mich zu hören, dass sich inmitten der Wurzeln, auf denen dieses Land aufbaut, die katholische Kirche befindet, die mit den anderen christlichen Kirchen in vollem Maße zusammenarbeitet. Dies macht deutlich, wie man bei allen Unterschieden dennoch eine Gemeinschaft bilden kann. Eine solche Wirklichkeit ist gegeben, wenn Menschen wagen, über die Ebene des Konflikts hinauszugehen und den anderen in seiner tiefsten Würde zu sehen. Wir können behaupten, dass sich immer dann, wenn wir als Einzelner oder Gemeinschaft lernen, etwas Größeres als uns selbst und unsere persönlichen Interessen anzuzielen, sich gegenseitiges Verständnis und Engagement in Solidarität verwandeln. Diese ist in ihrem tiefsten und herausfordernden Sinn ein Weg, in einem Umfeld Geschichte zu schreiben, wo Konflikte und Spannungen – auch jene, die man einst für unversöhnlich gehalten hätte – zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 228). So wie es das Leben Ihres Volkes genährt hat, kann das Evangelium heute auch weiterhin Wege eröffnen, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen, wobei es die Unterschiede würdigt, vor allem aber die Einheit aller in Gemeinschaft fördert.

Diese Hundertjahrfeier erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich weiterhin für die Freiheit und Unabhängigkeit Lettlands einzusetzen, die sicherlich ein Geschenk, aber auch eine Aufgabe sind, die alle angeht. Für die Freiheit zu arbeiten bedeutet, sich für die integrale und integrative Entwicklung der Menschen und der Gemeinschaft einzusetzen. Dass wir heute feiern können verdanken wir den vielen, die Wege, Türen und Zukunft eröffnet haben und Ihnen als Erbe die gleiche Verantwortung hinterlassen haben. Sie besteht darin, Zukunft zu ermöglichen und dabei ist darauf zu achten, dass alles im Dienst des Lebens steht und Leben hervorbringt. In diesem Sinne werden wir uns am Ende dieser Begegnung zum Freiheitsdenkmal begeben, wo uns Kinder, Jugendliche und Familien erwarten. Sie erinnern uns daran, dass Lettlands „Mütterlichkeit“ – in Analogie zum Motto dieser Reise – an der Fähigkeit sichtbar wird, Strategien zu fördern, die wirklich effektiv sind und ihren Fokus mehr auf die konkreten Gesichter dieser Familien, dieser älteren Menschen, dieser Kinder und Jugendlichen richten als auf einen Primat der Wirtschaft über das Leben. Lettlands „Mütterlichkeit“ zeigt sich auch an der Fähigkeit, Arbeitsplätze so zu schaffen, dass sich niemand zum Aufbau seiner Zukunft seiner Wurzeln entledigen muss. Der Index der menschlichen Entwicklung bemisst sich auch nach der Fähigkeit zu wachsen und sich zu vermehren. Die Entwicklung der Gemeinschaft vollzieht sich nicht und lässt sich auch nicht allein am Umfang der Güter oder Ressourcen ablesen, die man besitzt, sondern am Wunsch, Leben zu zeugen und Zukunft zu schaffen. Dies ist nur insoweit möglich, als es Verwurzelung in der Vergangenheit, Kreativität in der Gegenwart und Vertrauen und Hoffnung in das Morgen gibt. Sie bemisst sich in der Fähigkeit zur Hingabe und zum Einsatz, wie es uns die früheren Generationen bezeugt haben.

Herr Präsident, meine lieben Freunde, ich beginne hier meine Pilgerreise in diesem Land und bitte Gott, Ihr Wirken für diese Nation weiterhin zu begleiten, zu segnen und fruchtbar werden zu lassen.

 


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