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BEGEGNUNG VON PAPST FRANZISKUS
MIT DOZENTEN UND STUDENTEN DES MAILÄNDER KOLLEGS "SAN CARLO"

Audienzhalle
Samstag, 6. April 2019

[Multimedia]


 

Adriano Tibaldi (Schüler):

Heiliger Vater, guten Tag! Ich heiße Adriano Tibaldi und bin im letzten Jahr des »International Baccalaureate Diploma Programme«. In diesen Monaten bereite ich mich auf die Abschlussprüfung vor und denke gleichzeitig über die Möglichkeiten für meine Zukunft nach: Welche Universität soll ich besuchen? Wo? Meine Mutter ist Amerikanerin und mein Vater Italiener. In diesen Jahren am »Collegio San Carlo« habe ich viel ehrenamtliche Arbeit geleistet: Im vergangenen Jahr war ich mit einigen Schulkameraden einige Wochen in Peru in einer Mission. Ich habe mit eigenen Augen die extreme Armut gesehen, Kinder und ganze Familien ohne ein Zuhause. Ich habe drei Mädchen in meinem Alter kennengelernt, die von ihren Vätern oder von Unbekannten vergewaltigt wurden und Mütter geworden sind. Ich habe Geschichten gehört über Jugendliche, die von ihren Familien entführt, ermordet und ihrer Organe beraubt wurden für ein paar Dollar. Diese Erfahrung hat mich sehr betroffen gemacht, und ich frage mich: Warum scheint Gott einige Menschen vorzuziehen? Uns, mir, meinen Freunden schenkt er ein wunderbares Leben und anderen nicht… Was können wir in dieser Hinsicht konkret tun? Wir, die wie uns auf das Leben vorbereiten, die wir die besten Universitäten der Welt wählen? Und was kann eine Schule tun? Danke.

Papst Franziskus:

Ich danke dir. »Warum scheint Gott einige Menschen vorzuziehen?« Das ist eine gute Frage. Ich kannte die Fragen, ich habe sie hier aufgeschrieben und greife einige Ideen auf, um zu antworten. Aber zunächst werde ich dir etwas sagen, das ich nicht erfunden habe – etwas, das der große Dostojewskij gesagt hat: Warum müssen Kinder leiden? Es gibt Fragen, auf die es keine Antworten gibt und auch nicht geben wird, und wir müssen uns daran gewöhnen. Wer von euch vorgefertigte Antworten haben will, ist auf dem falschen Weg, er wird in die Irre gehen, und sein Leben wird falsch verlaufen, denn vorgefertigte Antworten nützen nichts, sie sind wie die Klimaanlage in einem Raum. Ich sage dir das, um dein Herz zu beruhigen, aber dein Herz fragt weiter: warum, warum? Es sucht die Antwort, und es gibt Dinge, auf die es keine Antwort gibt.

Denk an die Kinder, die aufwachsen und die Welt sehen und nicht verstehen, und es beginnt das, was man als die »Warum-Phase« bezeichnet. Die Kinder erschrecken sich oder haben Zweifel und schauen Vater und Mutter an und sagen: aber warum, warum? Und wenn der Vater oder die Mutter beginnt, es ihnen zu erklären, dann fügen sie sofort ein weiteres Warum hinzu und hören nicht auf die Antwort. Diese Sache, die wir alle bei den Kindern sehen können und die auch wir als Kinder getan haben, lässt uns verstehen, dass die wahre Antwort, die ein Kind mit dem Warum sucht, nicht das ist, was der Vater oder die Mutter sagt, sondern der Blick des Vaters und der Mutter, und das gibt ihm Kraft, um voranzugehen. Und das ist keine vorgefertigte Antwort. Den Blick eines Mannes, der Vater geworden ist, einer Frau, die Mutter geworden ist, kann man nicht im Kaufhaus kaufen. Es ist das Großartige der Fruchtbarkeit, die dich wachsen lässt. Und die Fragen, auf die es keine Antworten gibt, werden euch wachsen lassen im Sinn für das Mysterium. »Warum scheint Gott Unterschiede zu machen?« Das ist eine gute Frage, wiederholt sie immer: aber warum, warum? Und mit diesem Warum wachsen, unzufrieden, ohne eine vorgefertigte Antwort. Habt ihr das verstanden oder nicht? Oder müsst ihr noch einmal fragen: warum, warum? Noch etwas anderes möchte ich euch sagen.

Warum Gott einige Menschen vorzuziehen scheint… Ich möchte euch etwas anderes sagen: Die Unterschiede machen wir. Wir sind die Urheber der Unterschiede. Warum gibt es heute in der Welt so viele hungernde Menschen? Warum macht Gott diesen Unterschied? Nein! Den Unterschied macht dieses ungerechte Wirtschaftssystem, in dem es jeden Tag weniger Reiche gibt, aber mit viel Geld, und immer mehr Arme, aber ohne alles! Wir sind es, die mit einem ungerechten Wirtschaftssystem die Unterschiede schaffen, die die Ursachen schaffen, dass Kinder hungern!

Jemand könnte zu mir sagen: »Herr Papst, ich wusste nicht, dass Sie Kommunist sind!« Nein! Das hat Jesus uns gelehrt, und wenn wir einmal dort stehen werden, vor Jesus, dann wird er zu uns sagen: Danke, denn ich war hungrig, und du hast mir zu essen gegeben. Und zu denen, die mit diesem System die Kinder und die Menschen verhungern lassen, wird er sagen: Geh weg, denn ich war hungrig, und du hast mich nicht angeschaut. Es tut uns gut, uns mit diesem »Protokoll« auseinanderzusetzen, nach dem wir einst gerichtet werden: Matthäus 25. Wir machen die Unterschiede. Ich bin sicher, dass ihr alle den Frieden wollt. »Und warum gibt es so viele Kriege?« Zum Beispiel im Jemen, in Syrien, in Afghanistan. Warum? Wenn sie keine Waffen hätten, würden sie keinen Krieg führen. Aber warum führen sie einen so grausamen Krieg? Weil andere Länder die Waffen verkaufen, mit denen sie die Kinder, die Menschen töten. Wir machen die Unterschiede! Und das müsst ihr ganz klar sagen, ins Gesicht, ohne Furcht. Und wenn ihr jungen Menschen nicht in der Lage seid, diese Fragen zu stellen, diese Dinge zu sagen, dann seid ihr nicht jung, dann fehlt etwas im Herzen, das dich »kochen« lässt. Hast du verstanden?

Wir sind es, die die Unterschiede machen. Sowohl mit ungerechten Wirtschaftssystemen als auch, indem wir Waffen herstellen, damit andere einander töten können. Ein Volk, das Waffen herstellt und sie verkauft, hat den Tod eines jeden Kindes, der Menschen, die Zerstörung der Familien auf dem Gewissen. Neulich habe ich im L’Osservatore Romano gelesen, dass es auf der Welt – wenn ich mich nicht irre – über 900 Millionen Antipersonenminen gibt. Sie wurden gelegt, und nach einem Krieg stirbt der arme Bauer, der das Land bearbeitet, oder wird verstümmelt, weil eine von ihnen explodiert. Hat Gott das gemacht? Nein, wir haben es gemacht, diejenigen, die die Minen hergestellt haben. Auf der Synode über die Jugend war ein junger Ingenieur, der seine Geschichte erzählt hat. Nach seinem Studium hat er begonnen, Arbeit zu suchen und hat seinen Lebenslauf verschickt, man hat ihn angerufen… Am Ende hat er auf eine Stellenausschreibung geantwortet und hat die Stelle bekommen… Ein großer Industriebetrieb. Es war jedoch ein Betrieb, der auch Waffen herstellte, und er sollte als Ingenieur in der Waffenfabrik arbeiten.

Und dieser junge Mann, der heiraten wollte, der vorankommen wollte, der glücklich war, eine Arbeit zu haben, hat gesagt: Nein. Ich setze meinen Verstand und meine Hände nicht dafür ein, Dinge herzustellen, die andere töten. Solche mutigen jungen Menschen brauchen wir. Zusammenfassend gesagt: Wir müssen uns immer unbequeme Fragen stellen. Es gibt Fragen, auf die es nie eine Antwort geben wird, aber indem wir Fragen stellen, wachsen wir und werden erwachsen mit der Unruhe im Herzen. Und außerdem müssen wir uns bewusst sein, dass wir es sind, die die Unterschiede machen. Und jemand könnte zu mir sagen: »Sie haben über Syrien, über den Jemen, über Afghanistan gesprochen, über diese Kriege…« Sprechen wir über die Schule, in deiner Klasse, wenn ein Junge, ein Jugendlicher ankommt, der nicht spielen kann, wer ist es dann, der das Mobbing erfindet und organisiert? Etwa Gott? Ihr seid es! Und immer, wenn ihr einen Jugendlichen, einen Gefährten mobbt, dann macht ihr durch diese Geste jedes Mal eine Kriegserklärung. Wir alle haben den Samen der Zerstörung anderer in uns. Gebt acht, denn wir haben immer die Neigung, Unterschiede zu machen und uns an der Armut der anderen zu bereichern. Das möchte ich dir sagen, verzeih mir, wenn ich etwas leidenschaftlich geworden bin, aber das bringt mich zum »kochen«!

Silvia Perucca (Dozentin):

 Guten Tag, Heiliger Vater. Ich heiße Silvia und unterrichte seit 13 Jahren am »Collegio San Carlo«. Wir Lehrer stehen immer größeren Herausforderungen gegenüber, denn wir leben in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Als Erzieher möchten wir unseren Schülern beibringen, wie man diese Chancen besser ergreifen und sich dem anderen öffnen kann ohne Furcht vor eventuellen Gegensätzen und in dem starken Bewusstsein, dass dies nicht bedeutet, die eigene Identität zu verlieren, sondern sie zu bereichern. Wir möchten Sie daher heute fragen, wie wir unseren Schülern die in der christlichen Kultur verwurzelten Werte am besten vermitteln und sie gleichzeitig mit der immer unumgänglicheren Notwendigkeit, zur Auseinandersetzung und zur Begegnung mit den anderen Kulturen zu erziehen, in Einklang bringen können. Danke.

Papst Franziskus:

Ich danke dir. Ich beginne beim letzten Teil der Frage, um mich dann nach vorne durchzuarbeiten: »Wie können wir sie in Einklang bringen mit der immer unumgänglicheren Notwendigkeit, zur Auseinandersetzung und zur Begegnung zu erziehen?« Und: »Wie können wir unseren Schülern die in der christlichen Kultur verwurzelten Werte am besten vermitteln?« Das Schlüsselwort lautet hier »verwurzelt«. Und um Wurzeln zu haben, braucht man zwei Dinge: Konsistenz, also Erde – ein Baum hat Wurzeln, weil er Erde hat – und Erinnerung. Das heutige Übel ist den Forschern, den Wissenschaftlern zufolge – wenn man der Schule von Bauman folgt – die »Flüchtigkeit«. Baumans letztes Buch trägt den Titel »Born liquid«, und es sagt, dass ihr jungen Menschen »flüchtig«, ohne Konsistenz geboren seid. In der deutschen Übersetzung heißt es jedoch – und das ist merkwürdig – nicht »Born liquid « [flüchtig geboren], sondern »Die Entwurzelten«. Flüchtigkeit entsteht, wenn du nicht in der Lage bist, deine Identität, also deine Wurzeln zu finden, weil du nicht in der Lage bist, weiterzugehen in deiner Erinnerung und dich auseinanderzusetzen mit deiner Geschichte, mit der Geschichte deines Volkes, mit der Geschichte der Menschheit, mit der Geschichte des Christentums: Das sind die Werte! Das bedeutet nicht, dass ich mich von der Gegenwart abkapseln und mich mit der Vergangenheit zudecken und aus Angst dort bleiben muss. Nein: Das ist Kleinmütigkeit… Sondern ihr müsst zu den Wurzeln gehen, den Saft aus den Wurzeln ziehen und sie durch das Wachstum voranbringen. Die Jugend kann nicht vorangehen, wenn sie nicht verwurzelt ist. Die Werte sind Wurzeln, aber damit musst du wachsen. Diese Wurzeln bewässern durch deine Arbeit, durch die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, aber mit der Erinnerung der Wurzeln wachsen. Darum rate ich so sehr, mit den alten Menschen zu sprechen: Ich verteidige meine Kategorie, aber wir müssen mit den alten Menschen sprechen, weil sie die Erinnerung des Volkes, der Familie, der Geschichte besitzen.

»Ja, aber ich spreche mit Vater und Mutter.« Das ist gut, aber die mittlere Generation ist – heute – nicht so sehr in der Lage, die Werte, die Wurzeln weiterzugeben wie die alten Menschen. Ich erinnere mich, wie ich in der anderen Diözese manchmal zu den Jugendlichen gesagt habe: »Wollen wir etwas machen? Gehen wir ins Seniorenheim, um Gitarre zu spielen für die alten Menschen?« »Vater, wie langweilig. Naja, gehen wir…« Die jungen Leute gingen hin, begannen mit der Gitarre, und die alten Menschen, die eingeschlafen waren, begannen aufzuwachen, Fragen zu stellen: die Jungen den Alten, die Alten den Jungen. Am Ende wollten sie gar nicht wieder gehen. Was faszinierte sie so sehr an den alten Menschen? Die Wurzeln! Denn die alten Menschen ließen sie die Werte ihrer Geschichte, ihrer Persönlichkeit erleben – Werte, die eine Verheißung sind, um voranzugehen. Darum sind die verwurzelten Werte wichtig. Ich benutze dein Wort: Es ist sehr wichtig.

Eine zweite Sache ist die eigene Identität. Wir können keine Dialogkultur schaffen, wenn wir keine Identität haben, denn der Dialog wäre wie Wasser, das versickert. Ich führe mit meiner Identität einen Dialog mit dir, die du deine Identität hast, und beide gehen wir voran. Es ist jedoch wichtig, mir meiner Identität bewusst zu sein und zu wissen, wer ich bin und dass ich anders bin als die anderen. Es gibt Menschen, die nicht wissen, was ihre Identität ist und nach der jeweiligen Mode leben; sie haben kein inneres Licht: Sie leben vom Feuerwerk, das fünf Minuten dauert und dann endet. Die eigene Identität kennen. Das ist sehr wichtig. Warum hast du so und so reagiert? »Weil ich so bin…« Die Identität kennen, deine Geschichte, deine Zugehörigkeit zu einem Volk.

Wir sind keine Pilze, die von allein entstanden sind: Wir sind Menschen, die in einer Familie, in einem Volk geboren sind, und oft lässt diese flüchtige Kultur uns die Zugehörigkeit zu einem Volk vergessen. Ein Kritikpunkt, den ich hätte, ist der Mangel an Patriotismus. Patriotismus bedeutet nicht nur hinzugehen, um die Nationalhymne zu singen oder die Flagge zu ehren: Patriotismus ist Zugehörigkeit zu einem Land, zu einer Geschichte, zu einer Kultur… Und das ist die Identität. Identität bedeutet Zugehörigkeit. Man kann keine Identität ohne Zugehörigkeit haben. Wenn ich wissen will, wer ich bin, muss ich mir die Frage stellen: »Zu wem gehöre ich?« Und die dritte Sache: Du hast zu Beginn von einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft gesprochen. Danken wir Gott dafür! Danken wir Gott, denn der Dialog zwischen den Kulturen, zwischen den Personen, zwischen den Ethnien ist ein Reichtum… Einmal habe ich einen Mann gehört, einen Familienvater, der glücklich war, wenn seine Kinder mit den Kindern anderer Menschen, mit einer anderen Kultur, spielten… Menschen, die wir vielleicht unterbewerten und sogar verachten, aber warum? Vielleicht wachsen deine Kinder nicht rein in deiner Rasse auf? »Vater, was ist reiner als destilliertes Wasser?«, hat einmal ein Mann zu mir gesagt. »Was mich betrifft… für mich hat destilliertes Wasser keinen Geschmack… es kann meinen Durst nicht stillen.« Das Wasser des Lebens, dieser Multiethnizität, dieser Multikulturalität.

Keine Angst haben. Und hier lege ich den Finger in die Wunde: keine Angst haben vor den Migranten. Die Migranten bringen uns Reichtum, immer. Auch Europa wurde von Migranten geschaffen! Die Barbaren, die Kelten… All jene Menschen, die aus dem Norden kamen und die Kulturen gebracht haben, so ist Europa gewachsen, aus der Auseinandersetzung der Kulturen heraus. Aber heute, gebt gut Acht: Heute gibt es die Versuchung, eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde, um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern. Und wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. Weil ihm dieses Anderssein fehlt. »Aber Vater, müssen wir alle Migranten aufnehmen?« Das offene Herz, um Menschen aufzunehmen, vor allem. Wenn ich ein rassistisches Herz habe, muss ich gut untersuchen, warum und zur Umkehr gelangen. Zweitens: Die Migranten müssen empfangen, begleitet, integriert werden; dass sie unsere Werte annehmen und wir ihre Werte kennenlernen, der gegenseitige Austausch von Werten. Um zu integrieren, müssen die Regierenden jedoch kalkulieren: »Mein Land hat die Kapazität, nur so viele zu integrieren.« Sprich mit den anderen Ländern, und sucht gemeinsam nach Lösungen. Das ist die Schönheit der menschlichen Großherzigkeit: aufnehmen, um reicher zu werden. Reicher an Kultur, reicher im Wachstum. Aber Mauern zu errichten nützt nichts. Ich habe vor Kurzem das schöne Wort von Ivo Andric in dem Roman »Die Brücke über die Drina« zitiert, wo er über Brücken spricht und sagt, dass Brücken etwas so Erhabenes und Großartiges sind, dass sie Engel und keine menschlichen Dinge sind. Er sagt: »Die Brücke wurde von Gott mit den Flügeln der Engel gebaut, damit die Menschen untereinander kommunizieren können.« Die Großartigkeit, Brücken zu Menschen zu bauen, liegt in der Kommunikation, und wir wachsen mit der Kommunikation. Uns in uns selbst zu verschließen bringt uns dagegen dahin, nicht zu kommunizieren, »destilliertes Wasser« zu sein, kraftlos. Darum sage ich euch: Lehrt die Jugendlichen, helft den Jugendlichen, in der Kultur der Begegnung zu wachsen, fähig zu sein, verschiedenen Menschen, den Unterschieden zu begegnen und mit den Unterschieden zu wachsen: So wächst man, in der Auseinandersetzung, in der guten Auseinandersetzung.

Es gibt noch etwas anderes, das dem, was du sagst, zugrunde liegt: Heute ist in unserer westlichen Welt eine andere Kultur sehr gewachsen: die Kultur der Gleichgültigkeit. Die Kultur der Gleichgültigkeit, die von einem Relativismus herkommt – meins ist meins, Punkt – und von der Aufhebung jeder Gewissheit. Die Kultur der Gleichgültigkeit ist eine Kultur, die nicht kreativ ist, die dich nicht wachsen lässt. Die Kultur muss jedoch immer an den Werten, an den Geschichten der anderen interessiert sein. Und diese Kultur der Gleichgültigkeit neigt dazu, die Person als unabhängiges, denkendes Wesen auszulöschen, um es zu unterjochen und zu ersticken. Gebt Acht auf diese Kultur der Gleichgültigkeit. Von hier kommt Integralismus, Fundamentalismus und ein sektiererischer Geist. Das müssen wir mehr oder weniger denken: eine offene Kultur, die es uns gestattet, den Fremden, den Migranten, den Angehörigen einer anderen Kultur als Subjekt zu betrachten, das angehört, beachtet und wertgeschätzt werden muss. Danke.

Giulia Missaglia (Förderlehrerin):

Guten Tag, Heiliger Vater! Ich heiße Giulia und bin Lehrerin am »Collegio San Carlo«. In den Jahren meiner Ausbildung bin ich Menschen begegnet, die mich auf dem Weg des persönlichen Wachstums begleitet haben. Meine Berufung als Lehrerin ist dadurch entstanden, dass ich in den Augen der Erzieher, die mich auf diesem Weg begleitet haben, die Leidenschaft dafür gesehen habe. Mein größter Wunsch ist es, dass auch ich für meine Schüler einmal das sein kann, was andere für mich gewesen sind. Heute bin ich in der Schule auch die Förderlehrerin von Stella, einem netten Mädchen, das jetzt hier unter uns ist. In unserer heutigen schnelllebigen Gesellschaft besteht, so meine ich, unsere Aufgabe als Erzieher vor allem darin, den Jugendlichen zu helfen, den Wert der Begegnung mit dem anderen zu erkennen, den anzunehmen, der anders ist als wir, aus welchem Grund auch immer, der aber gerade deshalb eine Ressource für uns ist, eine Quelle, aus der wir schöpfen können. Wir fragen Sie, Heiliger Vater, wie können wir Erzieher für unsere Schülerinnen und Schüler Vorbild und Zeugnis für diese edle, aber ebenso schwierige Aufgabe sein? Ich danke Ihnen.

Papst Franziskus:

Danke! Das Schlüsselwort lautet »Zeugnis und Fördern«. Man kann niemanden fördern, ohne – ich benutze jetzt einen argentinischen Ausdruck – »das ganze Fleisch auf den Rost zu legen«. Wenn du jemanden fördern willst, muss du nicht nur alles geben, sondern mehr: Du musst dich ganz ins Spiel bringen! Das ist Zeugnis. Und durch das Zeugnis fördert man, gibt man Förderung, wahres Zeugnis. Ich habe über destilliertes Wasser gesprochen. Auch ich sage: Ein wahrer Erzieher kann kein »Destillat« sein – etwas, das im Labor erzeugt wurde. Der Erzieher muss sich mit dem Leben auseinandersetzen und sich auch – ich werde noch etwas sagen, das man auch hier in Italien sagt – angesichts der Wirklichkeit »die Hände schmutzig machen«, »die Ärmel hochkrempeln«. Zeugnis bedeutet, keine Angst vor der Wirklichkeit zu haben: Sich ganz ins Spiel einbringen. Das ist wichtig. Und dann die Förderung. Durch dieses Zeugnis gibst du nicht nur Ratschläge und gehst dann nach Hause. Stella – zum Beispiel – oder viele Jugendliche werden spüren, dass hinter den Worten, hinter den Ratschlägen zunächst etwas Anderes ist: die Förderung durch das Zeugnis. Zum Erzieher, der nicht in der Lage ist, Zeugnis zu geben, sage ich: »Er möge sich bekehren oder einen anderen Beruf ergreifen, der wissenschaftlicher ist, eher im Labor.« Erziehen ohne Zeugnis geht jedoch nicht, und mit einem schlechten Zeugnis erziehen ist schlimm, weil es sehr schlechte Auswirkungen hat.

Dann noch etwas anderes. Die Förderung verlangt auch »Liebenswürdigkeit«. Man kann nicht ohne Liebe erziehen. Du kannst keine Worte ohne Gesten lehren, und die erste Geste ist die Liebkosung: die Herzen liebkosen, die Seelen liebkosen. Und was ist die Sprache der Liebkosung? Die Überzeugung. Man erzieht durch die Geduld der Überzeugung. Zeugnis, Liebenswürdigkeit, Liebkosungen, Überzeugung. Jetzt versteht man, was es bedeutet, »das ganze Fleisch auf den Rost zu legen«. Dann noch eine kleine Sache, die euch vielleicht helfen wird, nichts zu verwechseln im Hinblick auf die Erziehung. Erziehen bedeutet, ins Leben einzuführen, und die Größe des Lebens besteht darin, Prozesse in Gang zu setzen. Lehrt die Jugendlichen, Prozesse in Gang zu setzen und nicht Räume zu besetzen! Menschen, die dazu erzogen sind, Räume zu besetzen, enden nur im Wettbewerb, auf einen Posten zu gelangen. Wer jedoch dazu erzogen ist, Prozesse in Gang zu setzen, spielt in der Zeit, nicht für den Augenblick, nicht um die Räume. Die Zeit ist dem Raum übergeordnet. In der Zeit spielen, Prozesse in Gang setzen. Das sind die Dinge, die ich sagen möchte: Förderung, Nähe, Zeugnis, Liebenswürdigkeit und Prozesse in Gang setzen, lehren, Prozesse in Gang zu setzen.

Marta Bucci (Elternvertreterin – Vorsitzende des Schulrats):

Eure Heiligkeit, als Eltern möchten wir Sie um Hilfe bitten, um drei Worte: um ein Wort für unsere Kleinen, wenn wir sie am Abend fest umarmen und versuchen, ihre Ängste zu vertreiben, wenn sie von uns gestärkt und getröstet werden wollen, weil sie lernen, dass nicht immer alles gut ausgeht. Um ein Wort für unsere Jugendlichen, wenn sie den Himmel stürmen möchten, aber noch nicht sicher sind, ob sie Flügel haben. Vor allem aber um ein Wort für uns Eltern, um sie zu ermutigen, daran zu glauben, dass man die Welt noch immer verändern kann.

Papst Franziskus:

Ich danke dir. Drei Worte. Das ist nicht leicht. Du hast ein sehr schönes Wort benutzt: »umarmen«. Und gegenüber den Kleinsten, die Nähe. Denkt an das, was ich vorhin gesagt habe über das Warum. Sie sind der »Warum-Phase« näher, haben sie etwas überwunden, aber sie brauchen die Nähe des Blicks. Umarmen bedeutet Nähe. Nähe zu den Kleinen. Denn sie brauchen eine Führung, die ihnen näher steht, damit sie nicht fallen oder wenigstens nicht ausrutschen, was Menschen passiert, die unterwegs sind. Für die Jugendlichen gilt das Umgekehrte: Sie zu ermutigen, voranzugehen, unterwegs zu sein, nicht allein, immer in der Gruppe. Und so, wie bei den Kleinen, musst du durch die Nähe dafür sorgen, dass sie nicht fallen; lass die Jugendlichen fallen, damit sie lernen, aber sie müssen wissen, dass das Fallen kein Scheitern ist. Es ist eine Prüfung im Leben. Aber dann mit ihnen sprechen, ihnen helfen, wieder aufzustehen. Es gibt ein Alpenlied, das mir viel bedeutet. Ihr, die ihr aus jener Gegend kommt, kennt es vielleicht: »Bei der Kunst des Aufstiegs ist es nicht wichtig, nicht zu fallen, sondern nicht liegenzubleiben.«

Diese Geste lehren. Denkt daran, dass man auf einen anderen nur herabschauen darf, um ihm zu helfen, sich zu erheben! Andernfalls darf man nie auf jemanden herabschauen, nie! Aber in dem Augenblick darf man es. Ihr Jugendlichen müsst vorangehen, nicht allein, sondern in der Gruppe. Es gibt ein berühmtes Sprichwort: »Wenn du eilig gehen und als Erster ankommen willst, dann geh allein. Wenn du aber sicher unterwegs sein willst, dann geh in der Gruppe.« Immer die Gemeinschaft, immer die Gruppe, die Freunde, die einander unterstützen. Und über das Fallen habe ich bereits gesprochen.  Außerdem gibt es für euch Eltern ein Wort, das die Psychologen oft gebrauchen und das ich sehr mag, und auch für euch Erzieher, die Erfahrung, die die Erzieher am letzten Tag haben, wenn sie endgültig gehen: das »Empty-Nest-Syndrom «, wie die Psychologen es nennen, wenn zuhause erst der eine und dann der andere heiratet und das Paar allein bleibt, wie zu Beginn ihres Lebens, aber allein, das »leere Nest«. Ihr Eltern und Erzieher, habt keine Angst vor der Einsamkeit! Es ist eine fruchtbare Einsamkeit. Und denkt an viele Kinder, die heranwachsen und andere Nester bauen – kulturelle, wissenschaftliche, der politischen, sozialen Gemeinschaft. Gegenüber den Kleinen Nähe, um ihnen beim Laufen zu helfen, damit sie nicht fallen; die Jugendlichen anspornen, voranzugehen, und wenn sie fallen, sollen sie sich erheben, oder man muss ihnen helfen, sich zu erheben, und immer daran denken, dass man nur dann auf jemanden herabschauen darf. Und ihr [Eltern] mit jener sehnsüchtigen, aber schönen Trauer um das »leere Nest«: Kraft schöpfen, um voranzugehen, damit das Nest in der Familie sich mit Enkeln füllt; und für euch Erzieher wird es sich füllen mit anderen, die kommen. Vielen Dank für das, was ihr tut. Jetzt lade ich euch ein, gemeinsam für einander zu beten. Und betet auch für mich, denn bei der Arbeit gibt es immer Schwierigkeiten, jeder hat seine eigenen. Beten wir für einander.

[Gegrüßet seist du, Maria…]

 



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