ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER STUDIENTAGUNG DER DIÖZESE ROM
Basilika St. Johann im Lateran
Donnerstag, 9. Mai 2019
Danke für eure Wortbeiträge und für euer Zuhören.
Nachdem wir von so vielen Schwierigkeiten, so vielen Problemen, so vielem, was fehlt, gehört haben, könnte die erste Versuchung leicht darin bestehen zu sagen: »Nein, nein, wir müssen die Stadt aufräumen, die Diözese aufräumen, alles zurechtrücken, in Ordnung bringen.« Das würde bedeuten, auf uns selbst zu blicken, wieder nach innen zu blicken. Ja, die Dinge werden aufgeräumt
und wir werden so das »Museum« in Ordnung gebracht haben, das kirchliche Museum der Stadt, alles in Ordnung… Das bedeutet, die Dinge zu domestizieren, zu zähmen: die Jugendlichen zu zähmen, das Herz der Menschen zu zähmen, die Familien zu zähmen. Schönschrift schreiben, alles perfekt. Aber das wäre die größte Sünde der Weltlichkeit und des weltlichen Geistes im Widerspruch zum Evangelium. Es geht nicht darum, wieder »aufzuräumen«. Wir haben [in den vorangegangenen Beiträgen] von den Ungleichgewichten der Stadt gehört, dem Ungleichgewicht der Jugendlichen, der alten Menschen, der Familien…
Das Ungleichgewicht der Beziehungen zu den Kindern… Wir sind heute aufgerufen, dieses Ungleichgewicht auszuhalten. Wir können nichts Gutes, dem Evangelium Entsprechendes tun, wenn wir vor der Unausgeglichenheit Angst haben. Wir müssen das Ungleichgewicht in die Hand nehmen: Das ist es, was der Herr uns sagt, denn das Evangelium – ich glaube, ihr werdet mich verstehen – ist eine »unausgeglichene« Lehre. Nehmt die Seligpreisungen: Sie verdienen den Nobelpreis für Unausgeglichenheit! Das Evangelium ist so.
Die Apostel sind nervös geworden, als es dunkel wurde und als jene Menge – es waren allein 5.000 Männer – Jesus weiter zuhörte. Sie haben auf die Uhr geschaut und gesagt: »Das ist zuviel, wir müssen die Vesper beten, die Komplet… und dann essen…« Und sie haben einen Weg gesucht, die Dinge »in Ordnung zu bringen«. Sie sind zum Herrn gegangen und haben gesagt: »Herr, lass sie weggehen, denn es ist ein einsamer Ort. Sie sollen gehen und sich etwas zu essen kaufen«, in dieser Einöde. Das ist die Illusion vom Gleichgewicht, die sogenannte »Kirchenleute« haben. Und ich glaube – ich habe das gesagt, aber ich weiß nicht mehr wo –, dass da der Klerikalismus begonnen hat: »Entlass die Menschen, sie sollen weggehen, und wir werden essen, was wir haben.« Vielleicht ist das der Beginn des Klerikalismus, der ein schönes »Gleichgewicht« ist, um die Dinge »aufzuräumen«.
Ich habe mir hier Notizen gemacht über das, was ich gehört habe und was mein Herz berührt hat… Und dann werden wir auf diesem Weg des »Aufräumens« eine schöne funktionalisierte Diözese haben. Klerikalismus und Funktionalismus. Ich denke dabei – ich sage das mit Nächstenliebe, aber ich muss es sagen – an eine Diözese – es gibt sehr viele, aber ich denke an eine davon –, die alles funktionalisiert hat: eine Abteilung für dies, eine Abteilung für jenes, und in jeder Abteilung gibt es vier, fünf, sechs Fachleute, die die Dinge prüfen… Diese Diözese hat mehr Angestellte als der Vatikan! Und jene Diözese – aus Liebe möchte ich ihren Namen nicht nennen –, jene Diözese entfernt sich heute jeden Tag mehr von Jesus, weil sie die »Harmonie« verehrt, nicht die Harmonie der Schönheit, sondern die der funktionalistischen Weltlichkeit. Und in diesen Fällen sind wir ein Opfer der Diktatur des Funktionalismus geworden. Das ist eine neue ideologische Kolonialisierung, die davon zu überzeugen versucht, dass das Evangelium eine Weisheit, eine Lehre ist, aber keine Verkündigung, kein Kerygma. Viele lassen das Kerygma beiseite, erfinden Synoden und Gegensynoden…, die in Wirklichkeit keine Synoden sind, sondern nur ein »Umräumen«. Warum? Denn um eine Synode zu sein – und das gilt auch für euch [als Diözesanversammlung] –, ist der Heilige Geist notwendig, und der Heilige Geist gibt dem Tisch einen Tritt, wirft ihn um und beginnt von vorne. Bitten wir den Herrn um die Gnade, nicht dem Fehler einer funktionalistischen Diözese zu verfallen. Aber nach dem, was ich gehört habe, denke ich, dass die Dinge hier in die richtige Richtung gehen. Gehen wir voran.
Dann möchte ich heute Abend den Hilfeschrei der Menschen der Diözese besser verstehen: das wird uns helfen, besser zu verstehen, was die Menschen vom Herrn erbitten. Es ist ein Schrei, den auch wir häufig nicht hören oder den wir leicht vergessen. Und das geschieht, weil wir aufgehört haben, »mit dem Herzen zu bewohnen «. Wir bewohnen Ideen, Pastoralpläne, Neugier, vorgefertigte Lösungen. Aber man muss mit dem Herzen bewohnen. Mich hat berührt, was Don Ben [Caritas-Direktor] bei jenem Jungen empfunden hat [er hatte gesehen, wie dieser ein Stück Brot aus einer Mülltonne nahm]: Er hat sich für sich selbst geschämt, er konnte nicht zu ihm hingehen und ihn fragen: »Was denkst du? Was fühlt dein Herz? Was suchst du?« Wenn die Kirche diese Schritte nicht geht, wird sie auf der Stelle stehenbleiben, weil sie es nicht versteht, mit dem Herzen zuzuhören. Die Kirche, die taub ist für den Hilferuf der Menschen, zu taub, um auf die Stadt zu hören.
Ich möchte einige Überlegungen mit euch teilen, die ich hier vor mir liegen habe – die man mir vorbereitet hat und die ich ein wenig »aufgekocht « habe –, Überlegungen, die den Weg für das nächste Jahr erhellen. Wir können von einem Abschnitt aus dem Evangelium ausgehen, dann werde ich an einige Absätze aus der Ansprache erinnern, die ich in Florenz an die Kirche in Italien gehalten habe [10. November 2015], was genau dem Stil unserer Kirche entspricht. »Was für eine schöne Ansprache! Ah, der Papst hat gut gesprochen, er hat den Weg gut aufgezeigt«, und du streust ihm Weihrauch… Aber wenn ich heute fragen würde: »Nennt mir etwas aus der Ansprache von Florenz!« – »Ehm, ja, ich erinnere mich nicht…« Verschwunden. Sie ist in den Kolben der intellektuellen Destillate geraten und kraftlos geworden, wie eine Erinnerung. Wir wollen die Ansprache von Florenz wieder aufgreifen, die zusammen mit Evangelii gaudium der Plan für die Kirche in Italien ist und die der Plan für die Kirche von Rom ist.
Wir können mit einem Abschnitt aus dem Evangelium beginnen. [Matthäus 18,1-14 wird vorgelesen. Anschließend fährt der Papst fort:] Merkt euch das Folgende gut, im Gedächtnis und im Herzen. Wenn der Herr seine Kirche bekehren will, das heißt, wenn er bewirken will, dass sie näher bei Ihm ist, christlicher wird, dann tut er das immer so: Er nimmt den Kleinsten und stellt ihn in die Mitte. Dabei lädt er alle ein, klein zu werden und sich zu »demütigen« – so heißt es im Text des Evangeliums wörtlich –, um klein zu werden, so wie er, Jesus, es getan hat. Die Reform der Kirche beginnt bei der Demut, und die Demut entsteht und wächst mit den Demütigungen. Auf diese Weise neutralisiert sie unsere Ansprüche auf Größe. Der Herr nimmt ein Kind, nicht weil es unschuldiger ist oder weil es einfacher ist, sondern weil Kinder unter 12 Jahren damals keine soziale Bedeutung hatten. Nur wer Jesus auf diesem Weg der Demut folgt und klein wird, kann wirklich zur Sendung beitragen, die der Herr uns anvertraut.
Wer seinen eigenen Ruhm sucht, wird nicht auf die anderen und auch nicht auf Gott hören können, wie sollte er an der Sendung mitarbeiten können? Vielleicht hat jemand von euch – ich erinnere mich nicht, wer – mir gesagt, dass er nicht inzensieren möchte: Aber es gibt viele fehlgeleitete »Liturgiker«, die das Inzensieren mit dem Weihrauchfass nicht richtig gelernt haben: statt den Herrn zu inzensieren, inzensieren sie sich selbst und leben so. Wie kann jemand, der nur die eigene Ehre sucht, Jesus in den Kleinen, die zu Gott schreien, erkennen und annehmen?
Der gesamte Raum seiner Innerlichkeit wird von ihm selbst oder von der Gruppe, zu der er gehört, eingenommen – oft sind es Menschen wie wir –, und deshalb hat er weder Augen noch Ohren für die anderen. Damit man zuhören kann, muss also die erste Haltung des Herzens die Demut sein. Und man muss sich davor hüten, die Kleinen zu verachten, wer auch immer sie sein mögen: verwaiste Kinder; junge Menschen, die in Drogenabhängigkeit geraten sind; Familien, die vom Alltag hart geprüft werden oder deren Beziehungen zerbrochen sind; Sünder, Arme, Fremde; Menschen, die den Glauben verloren haben; Menschen, die nie gläubig waren; alte Menschen, Behinderte; junge Menschen, die ihr Brot im Abfall suchen, wie wir gehört haben… Wehe dem, der von oben auf die Kleinen herabschaut und sie verachtet. Nur in einem Fall ist es gerechtfertigt, auf einen Menschen von oben herabzuschauen: um ihm beim Aufstehen zu helfen. Das ist der einzige Fall. In anderen Fällen ist es nicht erlaubt. Wehe dem, der von oben herab blickt, um die Kleinen zu verachten, auch wenn deren Lebensstile, Denkweisen meilenweit vom Evangelium entfernt wären.
Nichts rechtfertigt unsere Verachtung. Wer ohne Demut ist und verachtet, wird niemals ein guter Verkünder des Evangeliums sein, denn er wird nie über den äußeren Anschein hinausblicken. Er wird denken, dass die anderen nur Feinde sind, »Gottlose«, und er wird die Gelegenheit verpassen, den Schrei zu hören, der in ihrem Inneren ist, jenen Schrei, der häufig Schmerz ist und der Traum eines »Anderswo«, in dem sich das Heilsbedürfnis offenbart. Wenn der Stolz und die vorgebliche moralische Überlegenheit uns nicht die Ohren verschließen, werden wir merken, dass hinter dem Schrei vieler Menschen nichts anderes steht als ein authentisches Seufzen des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist es, der noch einmal dazu drängt, sich nicht mit den Dingen abzufinden, sich neu auf den Weg zu machen. Der Heilige Geist ist es, der uns vor diesem diözesanen »Umräumen« bewahren wird. Was im den Roman Il gattopardo (Der Leopard) von Giuseppe Tomasi di Lampedusa]: alles verändern wollen, damit alles bleibt, wie es ist. Die zweite notwendige Eigenschaft – die erste ist die Demut: um zu hören, musst du dich klein machen –, die zweite Eigenschaft, die notwendig ist, um den Hilferuf zu hören ist die Uneigennützigkeit.
Sie kommt im Evangelium beim Gleichnis vom Hirten zum Ausdruck, der sich auf die Suche nach dem verirrten Schaf macht. Er hat keine persönlichen Interessen zu verteidigen, dieser gute Hirte: die einzige Sorge ist, dass niemand verloren geht. Haben wir persönliche Interessen, wir, die wir heute Abend hier sind? Jeder kann darüber nachdenken: Was ist mein verborgenes, persönliches Interesse, das ich bei meiner kirchlichen Aktivität habe? Ist es Eitelkeit? Ich weiß nicht… Jeder hat sein eigenes Interesse. Sorgen wir uns um unsere pastoralen Strukturen? Um die Zukunft unseres Ordens? Um gesellschaftlichen Konsens? Um das, was die Leute sagen, wenn wir uns um Arme, Migranten, Sinti und Roma kümmern? Oder hängen wir an dem bisschen Macht, die wir noch über die Menschen unserer Gemeinde oder unseres Stadtviertels ausüben? Wir alle haben Gemeinden gesehen, die, vom Heiligen Geist inspiriert, ernsthafte Entscheidungen getroffen haben, und viele Gläubige, die dorthin gingen, sind dann ferngeblieben, denn sie sagten: »Ach, dieser Pfarrer verlangt zu viel und er ist auch ein wenig Kommunist.« Und sie bleiben weg. Wenn die Klagen dann zum Bischof kommen… Wenn der Bischof nicht mutig ist, wenn er kein Mann der Demut ist, kein selbstloser Mann, dann ruft er den Priester und sagt ihm: »Nicht übertreiben, weißt du, ein bisschen Ausgeglichenheit…« Aber der Heilige Geist versteht Ausgeglichenheit nicht, er versteht sie nicht. Ohne Eigeninteresse sein, das ist die notwendige Voraussetzung, um voller Interesse für Gott und für die anderen sein zu können, um sie wirklich hören zu können.
Es gibt da die »Sünde des Spiegels«. Und wir als Priester, Schwestern, Laien mit der Berufung zu arbeiten, fallen oft in diese Sünde des Spiegels: Sie heißt Narzissmus und Selbstbezogenheit, die Sünden des Spiegels, die uns ersticken. Der Herr hat den Schrei der Menschen gehört, denen er begegnet ist, und er ist ihnen nahe gekommen, denn er hatte nichts zu verteidigen und nichts zu verlieren, er hatte keinen »Spiegel«: er hatte sein Bewusstsein im Gebet, in Kontemplation mit dem Vater und gesalbt vom Heiligen Geist. Das ist sein Geheimnis, und aus diesem Grund ging er voran. Er verlässt die 99, die in Sicherheit sind, und macht sich auf die Suche nach denen, die sich verirrt haben. Wir dagegen, wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten gesagt habe, sind oft ganz auf die wenigen Schafe fixiert, die im Pferch geblieben sind. Und viele hören auf, Hirten der Schafe zu sein, um auserlesene Schafe zu »kämmen «. Und sie verbringen die gesamte Zeit damit, sie zu kämmen. Viele? Nein. Zehn…, wenig… Das ist schlimm. Wir finden nie den Mut, die anderen zu suchen, die sich verirrt haben, die auf Wegen gehen, wo wir noch nie waren. Bitte, wir wollen uns überzeugen lassen, dass für die Mission alles andere beiseite gelassen und geopfert werden kann. Den Stolz beenden, demütig sein, diesen Wohlstand lassen, dieses Eigeninteresse. Mose hatte angesichts seiner Mission Angst, er hatte tausend Widerstände und Einwände. Er hat versucht, Gott davon zu überzeugen, sich an jemand anderen zu wenden. Aber letztendlich ist er mit Gott mitten unter sein Volk hinabgestiegen und hat zugehört. Der Herr möge unser Herz mit der Kühnheit und der Freiheit dessen erfüllen, der nicht an eigene Interessen gebunden ist und sich mit Empathie und Sympathie mitten in das Leben der anderen versetzen will.
Die letzte Eigenschaft des Herzens, die notwendig ist, um den Hilfeschrei zu hören und das Evangelium zu verkünden, besteht darin, eine Erfahrung der Seligpreisungen gemacht zu haben. Heute habe ich mit einem Rabbiner gesprochen, einem sehr guten Freund, der aus Buenos Aires gekommen ist und der mir gesagt hat: »In Bezug auf die Gebote meine ich, dass unser Ausgangspunkt für den jüdisch-christlichen Dialog das Gebot der Liebe ist: Du sollst Gott lieben mit ganzer Kraft und den Nächsten wie dich selbst. Und im Evangelium, in den christlichen Texten, welcher Text könnte uns da eine große Hilfe sein?« Ich habe ihm sofort gesagt: »Die Seligpreisungen.« Die Seligpreisungen sind eine christliche Botschaft, aber auch eine menschliche. Sie ist die Botschaft, die dich leben lässt, die Botschaft der Neuheit…
Mir hat es immer geholfen, zu denken, dass die Seligpreisungen auch Heiden oder Agnostiker erreichen. Gandhi hat seinerzeit selbst gesagt, dass das sein Lieblingstext war. Die Seligpreisungen: Das bedeutet, vom Herrn und aus dem Leben gelernt zu haben, wo die wahre Freude ist, jene Freude, die der Herr uns schenkt, und zu unterscheiden wissen, wo man sie findet, und die anderen sie finden zu lassen, ohne den Weg zu verfehlen. Wer sich verirrt oder wer strauchelt, vielleicht sogar mit der Anmaßung auf dem Weg Gottes zu sein, riskiert, dass auch die anderen sich irren und straucheln. Das sehen wir bei einigen pelagianischen Bewegungen oder bei einigen esoterischen oder gnostischen Strömungen, die es heute unter uns gibt: Alle straucheln, alle sind unfähig, auf einen Horizont zuzugehen. Sie gehen ein wenig voran, um zu sich selbst zurückzukehren. Das sind die ego-zentrischen Pläne. Die Seligpreisungen sind dagegen theozentrisch, sie betreffen das Leben, bringen dich voran, sie machen dich arm, aber leichter, um Jesus zu folgen. Und Jesus spricht davon, den Kleinen keinen Anstoß zu geben. Warum? Weil der Anstoß ein Stolperstein ist. Du hast den Geist der Seligpreisungen nicht verstanden. Denken wir an die Welt der Schriftgelehrten: das war ein beständiger Stolperstein für das Volk. Das Volk wusste, dass sie keine Vollmacht hatten: Sie erregten Anstoß. Und auf diesem Weg werden wir schließlich zu blinden Führern: Wir straucheln und bringen andere zum Straucheln, denen wir vorgeblich helfen wollen. Den schwachen, den vom Leben oder der Sünde verletzten Menschen, den Kleinen, die zu Gott schreien, können und müssen wir das Leben der Seligpreisungen anbieten, das auch wir erfahren haben, das heißt die Freude der Begegnung mit der Barmherzigkeit Gottes, die Schönheit eines familiären Gemeinschaftslebens, wo man so angenommen wird, wie man ist, die Schönheit wahrhaft menschlicher Beziehungen voller Sanftmut. Dabei möchte ich ein wenig verweilen. In diesen Tagen bin ich etwas auf die Sanftmut fixiert.
Es besteht das Risiko, dass dieses Wort aus dem Wörterbuch verschwindet, wie das dem Wort »liebkosen« fast schon passiert ist… Sanftmut, Zärtlichkeit, liebkosende Gesten Jesu… Sanftmut nimmt jeden so an, wie er ist. Der Reichtum ärmster Mittel, ohne Spezialeffekte… Bei dem Treffen mit den Sinti und Roma bin ich heute Schwester Geneviève begegnet, die seit 50 Jahren in einem Wohnwagen mitten unter ihnen und auch bei den Schaustellern lebt. Ganz einfach: Sie betet, lächelt, liebkost, tut Gutes mit den Seligpreisungen. Die einfachsten Mittel des Zuhörens, des Dialogs von Angesicht zu Angesicht, die Begeisterung, gemeinsam mutig für Gerechtigkeit und Frieden zu arbeiten, die gegenseitige Hilfe in Augenblicken der Mühsal oder der Verfolgung, der tägliche Glanz, mit reinem Herzen in der Liturgie, im Hören des Wortes, im Gebet, in den Armen … das Antlitz Gottes zu betrachten. Scheint euch all das wenig zu sein? Das ist der Weg. Es ist wahr, dass die von Gott geschenkten Seligpreisungen nicht unser »Hauptgericht« sind: Wir müssen noch dazulernen. Wir müssen auf diesem Weg versuchen, unseren Mitbürgern das Hauptgericht anzubieten, dass sie wachsen lässt. Und wenn sie es finden, dann blüht der Glaube, schlägt Wurzeln, fügt sich wie beim Pfropfen in den Weinberg der Kirche ein, von dem er die Lebenskraft des Heiligen Geistes empfängt. Sind wir der Meinung, dass wir der Welt etwas anderes anbieten sollten als das geglaubte und gelebte Evangelium? Ich bitte euch, geben wir den Kleinen keinen Anstoß, indem wir ihnen das Schauspiel einer überheblichen Gemeinschaft bieten…
Ich lade euch ein, das päpstliche Almosenamt zu besuchen. Dort hat Kardinal Krajewski, der ein wenig ein »Schelm« ist, eine Fotografie aufgehängt, die ein junger römischer Fotograf, ein Künstler, gemacht hat. Man sieht den Ausgang eines Restaurants, im Winter, eine etwas ältere, fast betagte Frau kommt mit Pelzmantel, Hut und Handschuhen, heraus, eine sehr elegante Erscheinung. Allein wenn du es ansiehst, dann riechst du schon das französische Parfum, alles perfekt… Und unten an der Tür, auf dem Boden, eine andere Frau in Lumpen, die die Hand ausstreckt. Und die elegante Frau blickt in die andere Richtung. Dieses Foto heißt Gleichgültigkeit. Seht es euch an. Wir wollen den Kleinen keinen Anstoß geben. Wie wollen nicht gleichgültig sein. Wenn wir das Schauspiel einer überheblichen, eigennützigen, traurigen Gemeinde bieten – wie auf diesem Foto –, die Konkurrenz, Konflikt, Ausgrenzung lebt, dann haben wir die Worte Jesu verdient: »Ich brauche euch nicht, ihr seid mir zu nichts nütze. Da ihr viel Schaden anrichten könnt«, würde Jesus sagen, »wäre es vielmehr besser, wenn ihr verschwinden und euch in die Tiefe des Meeres stürzen würdet.« Um keinen Anstoß zu geben. Rom ist etwas weit weg vom Meer, aber man kann sagen: »Geh und stürz dich in den Tiber.«
In Florenz habe ich dann alle Konferenzteilnehmer aufgefordert, Evangelii gaudium wieder zur Hand zu nehmen. Das ist der zweite Ausgangspunkt der nachkonziliaren Evangelisierung. Warum sage ich »zweiter Ausgangspunkt«? Weil der erste Ausgangspunkt das größte Dokument der Nachkonzilszeit ist: Evangelii nuntiandi [von Paul VI., 8. Dezember 1975]. Evangelii gaudium ist eine Aktualisierung, eine Nachahmung von Evangelii nuntiandi für die heutige Zeit, aber die Stärke ist das erste Dokument. Nehmt Evangelii gaudium zur Hand, nehmt den Weg der missionarischen Veränderung der Gemeinde wieder auf, der auf den Seiten des Apostolischen Schreibens vorgeschlagen wird. Um dasselbe bitte ich euch heute Abend und möchte euch insbesondere auf einen Teil des zweiten Kapitels von Evangelii gaudium hinweisen, der den Herausforderungen für die Evangelisierung, den Herausforderungen der Stadtkulturen gewidmet ist: Es sind die Abschnitte 61 bis 75. Ich möchte zwei Punkte hervorheben, die im Hinblick auf den Weg des kommenden Jahres auch zwei Aufgaben darstellen, die ich euch anvertraue. 1) Einen kontemplativen Blick auf das Leben der Menschen pflegen, die in der Stadt wohnen. Schauen. Und um dies zu tun, versuchen wir in jeder Pfarrei zu verstehen, wie die Menschen leben, wie sie denken, was die Bewohner unseres Stadtviertels, Jung und Alt, empfinden. Wir bemühen uns, Lebensgeschichten zu sammeln.
Lebensgeschichten als bedeutsames Beispiel dafür, wie der Großteil der Menschen lebt. Wir können diese Lebensgeschichten sammeln, indem wir freundschaftlich die Eltern der Kinder und Jugendlichen befragen oder indem wir die alten Menschen besuchen oder indem wir die Jugendlichen in der Schule interviewen, im Einverständnis mit ihren Lehrern. Ich habe die alten Menschen erwähnt: Bitte vergesst sie nicht! Jetzt kümmert man sich besser um sie, denn weil es an Arbeit fehlt und die Alten eine Rente haben, da kümmert man sich besser um sie… Aber bringt die alten Menschen zum Sprechen: nicht um antiquiert zu werden, nein, um den Geruch der Wurzeln zu haben und verwurzelt vorangehen zu können. Mit der heutigen Technologie des Virtuellen laufen wir Gefahr, die Verwurzelung zu verlieren, die Wurzeln, entwurzelt zu werden, »flüssig« – wie es ein Philosoph ausgedrückt hat – oder, wie ich selbst es lieber sage, »gasförmig«, ohne Konsistenz, weil wir nicht verwurzelt sind und wir den Saft der Wurzeln verloren haben, um zu wachsen, zu blühen, Frucht zu bringen. Lassen wir die Alten erzählen: Vergesst das nicht! Ein den Menschen Zuhören, das immer mehr der Schrei der Kleinen wird. Aber vor allem sollt ihr einen kontemplativen Blick haben, um euch mit diesem Blick zu nähern… Und sich nähern, indem man die Realität berührt. Von den fünf Sinnen ist der Tastsinn der umfassendste, der vollständigste.
2) Die zweite Aufgabe: Einen kontemplativen Blick haben für die neuen Kulturen, die in der Stadt entstehen. Wir wissen, dass die Stadt Rom ein pulsierender Organismus ist. Es wird uns bewusst, dass dort, wo die Menschen leben und einander begegnen, immer etwas entsteht, das über die einzelnen Geschichten seiner Einwohner hinausgeht. In Evangelii gaudium habe ich betont, dass gerade der urbane Kontext der Ort ist, wo eine neue Kultur geschaffen wird: neue Geschichten, neue Symbole, neue Paradigmen, neue Ausdrucksweisen, neue Botschaften (vgl. Nr. 73). Man muss sie verstehen; sie finden und sie verstehen. Und all das bringt Gutes und Schlechtes hervor. Das Schlechte ist meist ganz offensichtlich: »Halbbürger, Nichtbürger, Stadtstreicher « (ebd., 74), denn es gibt Menschen, die keinen Zugang haben zu den Lebensmöglichkeiten der anderen und die ausgegrenzt werden: Ausgrenzung, Gewalt, Korruption, Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel, Kindesmissbrauch und Vernachlässigung älterer Menschen. So entstehen unerträgliche Spannungen. Wie ihr gesagt habt, gibt es in vielen Stadtvierteln Roms Kriege zwischen den Armen, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und auch Rassismus. Heute bin ich im Vatikan mit 500 Sinti und Roma zusammengetroffen und habe sehr schmerzliche Dinge gehört. Fremdenfeindlichkeit.
Passt auf, denn das globale – oder zumindest europäische – kulturelle Phänomen des Populismus wächst und sät Angst. Aber es gibt auch viel Gutes in der Stadt, denn es gibt positive Orte, fruchtbare Orte: dort, wo sich die Bürger konstruktiv und solidarisch begegnen und miteinander diskutieren, dann entsteht »ein ›Bindegewebe‹ […], in dem Gruppen von Personen die gleichen Lebensträume und ähnliche Vorstellungswelten miteinander teilen und sich zu neuen menschlichen Sektoren, zu Kulturräumen und zu unsichtbaren Städten zusammenschließen« (ebd.).
Der Herr segne unser Hören auf die Stadt. Und dann haben wir eine Verabredung an Pfingsten. Es wird für uns die Begegnung mit dem Antlitz des Herrn im brennenden Dornbusch sein. Wir werden unsere Sandalen ausziehen, unser Gesicht verschleiern und werden unser »Ja« zu Gott sagen: Wir folgen dir, während du mitten unter das Volk herabkommst, um den Schrei der Armen zu hören. Danke!
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