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ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS  
AN DIE TEILNEHMER DER BEGEGNUNG DER
VERANTWORTUNGSTRÄGER DER GEFÄNGNISSEELSORGE

Sala Clementina
Freitag, 8. November 2019

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Sehr geehrter Herr Kardinal, liebe Brüder und Schwestern!

Sehr herzlich begrüße ich euch alle, die ihr an dieser Begegnung über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und die katholische Gefängnisseelsorge teilnehmt. Als ich das Dikas terium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beauftragt habe, die Fürsorge der Kirche für die Menschen in besonderen leidvollen Situationen deutlich zu machen, wollte ich, dass die Wirklichkeit der vielen inhaftierten Brüder und Schwestern berücksichtigt wird. Dies ist jedoch nicht nur Aufgabe des Dikasteriums, sondern die ganze Kirche ist in Treue zu der von Christus empfangenen Sendung aufgerufen, die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Schwachen und Wehrlosen, in denen Jesus selbst gegenwärtig ist (vgl. Mt 25,40), zum Ausdruck zu bringen. Wir werden darüber gerichtet werden.

Wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten erwähnt habe, ist die Situation der Gefängnisse immer noch ein Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit und eine Folge unseres Egoismus und unserer Gleichgültigkeit, die in einer Wegwerfkultur zum Ausdruck kommen (vgl. Ansprache in der Strafvollzugsanstalt in Ciudad Juárez, 17. Februar 2016). Oft sucht die Gesellschaft durch legalistische und unmenschliche Entscheidungen – gerechtfertigt durch eine angebliche Suche nach Wohlergehen und Sicherheit – in der Isolierung und Inhaftierung derer, die gegen die gesellschaftlichen Normen verstoßen, die endgültige Lösung der Probleme des Gemeinschaftslebens. So rechtfertigt man die Tatsache, dass große Mengen an öffentlichen Ressourcen aufgewendet werden, um die Rechtsbrecher zu unterdrücken, statt wirklich die Förderung einer ganzheitlichen Entwicklung der Menschen anzustreben, die die Umstände, die das Begehen von Straftaten fördern, vermindert.

Es ist einfacher, Menschen zu unterdrücken als sie zu erziehen, und ich würde sagen, dass es auch bequemer ist. Es ist einfacher, die in der Gesellschaft vorhandene Ungerechtigkeit zu leugnen und Räume zu schaffen, um die Rechtsbrecher wegzuschließen, als allen Bürgern dieselben Entwicklungschancen zu bieten. Es ist eine Form der Aussonderung, der »kultivierten« Aussonderung, in Anführungszeichen. Außerdem scheitern die Strafvollzugsanstalten oft in ihrem Ziel, den Wiedereingliederungsprozess zu fördern, weil sie zweifellos nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, um den sozialen, psychologischen und familiären Problemen der inhaftierten Menschen zu begegnen, und auch aufgrund der häufigen Überbelegung der Gefängnisse, die sie in wahre Orte der Entpersönlichung verwandelt.

Eine wahre gesellschaftliche Wiedereingliederung beginnt dagegen damit, dass Entwicklungs- und Bildungschancen, menschenwürdige Arbeit, Gesundheitsfürsorge geboten und auch öffentliche Räume zur Mitbeteiligung am bürgerlichen Leben geschaffen werden. Besonders heute sind unsere Gesellschaften aufgerufen, die Stigmatisierung jener zu überwinden, die einen Fehler begangen haben. Denn statt ihnen Hilfe und geeignete Mittel anzubieten, um ein menschenwürdiges Leben zu führen, haben wir uns daran gewöhnt, sie auszusondern, statt darüber nachzudenken, wie man sich bemühen kann, die Liebe Gottes in seinem Leben zurückzugeben.

Oft ist der aus dem Gefängnis entlassene Mensch mit einer Welt konfrontiert, die ihm fremd ist und die ihn außerdem nicht für vertrauenswürdig hält, ja ihn sogar von der Möglichkeit ausschließt zu arbeiten, um einen würdigen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn man Menschen daran hindert, ihre volle Würde zurückzuerlangen, dann werden sie erneut den Gefahren ausgesetzt, die mit fehlenden Entwicklungschancen einhergehen, inmitten von Gewalt und Unsicherheit. Als christliche Gemeinden müssen wir uns eine Frage stellen: Wenn diese Brüder und Schwestern die Strafe für das begangene Unrecht bereits verbüßt haben, warum erlegt man ihnen dann durch Ablehnung und Gleichgültigkeit eine neue gesellschaftliche Strafe auf? In vielen Fällen ist die soziale Ausgrenzung ein weiterer Grund, sie wieder denselben Fehlern anheimfallen zu lassen.

Brüder, in dieser Begegnung habt ihr euch bereits über einige der zahlreichen Initiativen ausgetauscht, mit denen die Ortskirchen die Inhaftierten, die die Haftzeit hinter sich haben, und die Familien vieler von ihnen pastoral begleiten. Mit Gottes Eingebung schlägt jede kirchliche Gemeinschaft einen eigenen Weg ein, um die Barmherzigkeit des Vaters allen diesen Brüdern und Schwestern zu vergegenwärtigen und jeden Menschen und jede Gesellschaft beständig zu dem Bestreben aufzurufen, sich fest entschlossen für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen.

Wir sind gewiss, dass die Werke, die die göttliche Barmherzigkeit einem jeden von euch und den zahlreichen Gliedern der Kirche, die sich diesem Dienst widmen, eingibt, wirklich erfolgreich sind. Die Liebe Gottes, die euch im Dienst an den Schwächeren stützt und ermutigt, stärke und mehre diesen Dienst der Hoffnung, den ihr täglich unter den Strafgefangenen durchführt. Ich bete für jeden Menschen, der in großherziger Stille diesen Brüdern und Schwestern dient und in ihnen den Herrn erkennt. Ich spreche euch meine besten Wünsche aus für alle Initiativen, durch die, nicht ohne Schwierigkeiten, auch die Familien der Strafgefangenen pastoralen Beistand erhalten und in dieser Zeit großer Prüfung begleitet werden, auf dass der Herr alle segnen möge. Ich möchte schließen mit zwei Bildern: zwei Bildern, die helfen können. In einem Gefängnis ohne Fenster kann nicht die Rede sein von einer Begleichung der Schuld gegenüber der Gesellschaft.

Es gibt keine menschliche Strafe ohne Horizont. Niemand kann das Leben ändern, wenn er keinen Horizont sieht. Und oft sind wir daran gewöhnt, die Blicke unserer Strafgefangenen blind zu machen. Nehmt dieses Bild vom Fenster und vom Horizont mit und sorgt dafür, dass die Gefängnisse, die Strafvollzugsanstalten stets Fenster und Horizont besitzen. Selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe, die für mich fragwürdig ist, selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe sollte einen Horizont haben.

Das zweite Bild ist ein Bild, das ich manchmal gesehen haben, wenn ich in Buenos Aires mit dem Autobus in irgendeine Pfarrei im Gebiet von »Villa Devoto« gefahren bin und am Gefängnis vorbeikam: die Schlange der Menschen, die dort hingingen, um die Strafgefangenen zu besuchen. Vor allem das Bild der Mütter, der Mütter der Strafgefangenen: Alle konnte sie sehen, weil sie eine Stunde lang in der Schlange standen bevor sie hineingingen, und dann wurden sie Sicherheitskontrollen unterzogen, die sehr oft demütigend waren. Jene Frauen schämten sich nicht, dass sie von allen gesehen wurden. Mein Sohn ist dort, und für den Sohn verbargen sie nicht ihr Gesicht. Möge die Kirche Mütterlichkeit lernen von jenen Frauen, und möge sie die Gesten der Mütterlichkeit lernen, die wir gegenüber diesen Brüdern und Schwestern, die inhaftiert sind, haben müssen. Das Fenster und die Mutter, die Schlange steht: Diese beiden Bilder hinterlasse ich euch.

Durch das Zeugnis und den Dienst, den ihr leistet, haltet ihr die Treue zu Jesus Christus aufrecht. Mögen wir am Ende unseres Lebens in der Lage sein, die Stimme Christi zu hören, der uns ruft mit den Worten: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist… Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,34.40). Unsere Liebe Frau vom Loskauf der Gefangenen begleite euch, eure Familien und alle Menschen, die den Strafgefangenen dienen.
 



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