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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER BEGEGNUNG
DER
LAUDATO-SI'-GEMEINSCHAFTEN

Audienzhalle
Samstag, 12. September 2020

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Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Ich heiße euch herzlich willkommen, und indem ich euch begrüße, möchte ich alle Mitglieder der Laudato si‘-Gemeinschaften in Italien und in der Welt erreichen. Ich danke Herrn Carlo Petrini – in meiner Vatersprache, nicht in meiner Muttersprache: »Carlìn«. Ihr habt als Triebkraft jeder eurer Initiativen die ganzheitliche Ökologie gewählt, die von der Enzyklika Laudato si’ empfohlen wird. Ganzheitlich, weil wir alle Geschöpfe sind und alles in der Schöpfung zueinander in Beziehung steht, alles miteinander verbunden ist. Ja, ich würde sogar sagen, dass alles harmonisch ist. Auch die Pandemie hat es gezeigt: Die Gesundheit des Menschen kann nicht von der Gesundheit der Umwelt, in der er lebt, absehen. Außerdem ist es offensichtlich, dass der Klimawandel nicht nur die Natur aus dem Gleichgewicht bringt, sondern Armut und Hunger hervorruft, die Schwächeren trifft und sie manchmal zwingt, ihr Land zu verlassen. Die Vernachlässigung der Schöpfung und die soziale Ungerechtigkeit beeinflussen einander gegenseitig: Man kann sagen, dass es keine Ökologie ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne Ökologie gibt.

Ihr seid motiviert, für die Geringsten und für die Schöpfung Sorge zu tragen, gemeinsam, und ihr wollt es nach dem Vorbild des heiligen Franz von Assisi tun, mit Sanftmut und Tatkraft. Dafür danke ich euch, und ich rufe erneut dazu auf, sich für den Schutz unseres gemeinsamen Hauses einzusetzen. Diese Aufgabe geht alle an, besonders die Verantwortlichen der Nationen und der Produktionstätigkeiten. Wir brauchen den wirklichen Willen, die Ursachen der gegenwärtigen klimatischen Veränderungen an der Wurzel anzupacken. Oberflächliche Bemühungen genügen nicht – Worte, immer nur Worte… –, und man darf nicht nur auf die unmittelbare Zustimmung der eigenen Wähler oder Geldgeber schauen. Man muss Weitblick haben, sonst wird die Geschichte es nicht vergeben. Wir müssen heute für das Morgen aller arbeiten. Die jungen Menschen und die Armen werden von uns Rechenschaft fordern. Es ist unsere Herausforderung. Ich greife ein Wort des Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer auf: Unsere heutige Herausforderung ist nicht, wie ich mich »aus der Affäre ziehe«, wie wir aus dieser Wirklichkeit herauskommen; unsere wahre Verantwortung besteht darin, »wie eine kommende Generation weiter leben soll«: Daran müssen wir denken!

Liebe Freunde, jetzt möchte ich zwei Schlüsselbegriffe der ganzheitlichen Ökologie mit euch teilen: Kontemplation und Mitleid. Kontemplation. Heute wird die Natur, die uns umgibt, nicht mehr bewundert, kontemplativ betrachtet, sondern »verschlungen«. Wir sind gierig geworden, abhängig vom Profit und von sofortigen Ergebnissen um jeden Preis. Der Blick auf die Wirklichkeit wird immer schneller, zerstreuter, oberflächlicher, während Nachrichten sich wie Lauffeuer verbreiten und Wälder verbrennen. Konsumkrank. Das ist unsere Krankheit! Konsumkrank. Man lechzt nach der neuesten »App«, aber man kennt die Namen der Nachbarn nicht mehr, und kann schon gar nicht einen Baum vom anderen unterscheiden. Und was am Schlimmsten ist: Durch diesen Lebensstil gehen die Wurzeln verloren, verliert man die Dankbarkeit für das, was da ist, und für den, der es uns gegeben hat. Um nicht zu vergessen, müssen wir zur Kontemplation zurückkehren; um uns nicht in tausend nutzlosen Dingen zu verlieren, ist es notwendig, die Stille wiederzufinden; damit das Herz nicht krank wird, müssen wir innehalten. Das ist nicht einfach. Man muss sich zum Beispiel aus der Gefangenschaft des Handys befreien, um jenen in die Augen zu schauen, die um uns herum sind, und auf die Schöpfung, die uns geschenkt worden ist

Kontemplativ sein bedeutet, sich Zeit zu schenken, um zu schweigen, um zu beten, so dass in die Seele die Harmonie zurückkehrt, das gesunde Gleichgewicht zwischen Kopf, Herz und Händen; zwischen Denken, Fühlen und Handeln. Die Kontemplation ist das Gegenmittel zu übereilten, oberflächlichen und unbeständigen Entscheidungen. Wer kontemplativ ist, lernt, die Erde zu spüren, die ihn trägt; er versteht, dass er nicht allein und sinnlos auf der Welt ist. Er entdeckt die Zärtlichkeit des Blickes Gottes und versteht, dass er kostbar ist. Jeder ist wichtig in den Augen Gottes, jeder kann ein Stück der von der menschlichen Gier verschmutzten Welt in die vom Schöpfer gewollte gute Wirklichkeit verwandeln. Denn wer es versteht, kontemplativ zu sein, legt nicht die Hände in den Schoß, sondern macht sich konkret an die Arbeit. Die Kontemplation bringt dich zur Aktion, zum Handeln

Daher jetzt das zweite Wort: Mitleid. Es ist die Frucht der Kontemplation. Wie versteht man, dass jemand kontemplativ ist, dass er sich den Blick Gottes zu eigen gemacht hat? Wenn er Mitleid hat mit den anderen – Mitleid bedeutet nicht zu sagen: »Der tut mir leid…«, sondern Mitleid bedeutet, »mit jemandem zu leiden« –, wenn er über Ausreden und Theorien hinausgeht, um in den anderen Brüder und Schwestern zu sehen, die behütet werden müssen. Das, was Carlo Petrini am Ende über die Geschwisterlichkeit gesagt hat. Das ist der Beweis, denn so ist der Blick Gottes, der trotz des Bösen, das wir denken und tun, uns immer als geliebte Kinder betrachtet. Er sieht keine Individuen, sondern Kinder, er sieht uns als Brüder und Schwestern einer einzigen Familie, die im selben Haus wohnt. Wir sind in seinen Augen nie Fremde. Sein Mitleid ist das Gegenteil unserer Gleichgültigkeit. Die Gleichgültigkeit ist – ich gestatte mir den etwas legeren Ausdruck – jene »Was-kümmert’s-mich-Haltung«, die in das Herz, in das Denken eintritt und die mit einem »Damit muss er selbst zurechtkommen« endet. Das Mitleid ist das Gegenteil der Gleichgültigkeit

Das gilt auch für uns: Unser Mitleid ist der beste Impfstoff gegen die Epidemie der Gleichgültigkeit. »Das geht mich nichts an«, »das betrifft mich nicht«, »damit habe ich nichts zu tun«, »das ist seine Sache«: Das sind die Symptome der Gleichgültigkeit. Es gibt ein schönes Foto – ich habe das schon mehrmals erzählt –, das von einem römischen Fotografen aufgenommen wurde; es befindet sich im Almosenamt. In einer Winternacht sieht man eine Dame gesetzten Alters in Pelzmantel, Hut, Handschuhen, gut vor der Kälte geschützt aus einem Luxusrestaurant herauskommen, nachdem sie gut gegessen hat – wobei gut zu essen keine Sünde ist! [sie lachen] –, und an der Tür steht eine andere Frau, mit einer Krücke, schlecht gekleidet, man sieht, dass sie die Kälte spürt… eine Obdachlose, mit ausgestreckter Hand… Und die Dame, die aus dem Restaurant kommt, wendet den Blick ab. Das Foto heißt: »Gleichgültigkeit«. Als ich es gesehen habe, habe ich den Fotografen angerufen, um ihm zu sagen: »Dieser Schnappschuss ist dir gut gelungen«, und ich habe gesagt, man soll es im Almosenamt aufhängen. Um nicht in den Geist der Gleichgültigkeit zu verfallen. Wer dagegen Mitleid hat, geht von »du interessierst mich nicht« über zu »du bist mir wichtig«. Oder wenigstens: »Du berührst mein Herz.« Das Mitleid ist jedoch kein schönes Gefühl, es ist keine Frömmelei, sondern es bedeutet, eine neue Bindung zum anderen herzustellen. Es bedeutet, sich um ihn zu kümmern wie der barmherzige Samariter, der, weil er »Mitleid hat«, für jenen bedauernswerten Mann sorgt, den er nicht einmal kennt (vgl. Lk 10,33-34). Die Welt braucht diese kreative und tätige Nächstenliebe: Menschen, die nicht vor einem Bildschirm sitzen und kommentieren, sondern Menschen, die sich die Hände schmutzig machen, um den Verfall zu beseitigen und die Würde zurückzuerstatten. Mitleid zu haben ist eine Entscheidung: Es bedeutet, sich zu entscheiden, keinen Feind zu haben, um in jedem meinen Nächsten zu sehen. Und das ist eine Entscheidung.

Das bedeutet nicht, schlaff zu werden und aufzuhören zu kämpfen. Im Gegenteil: Wer Mitleid hat, tritt in einen harten täglichen Kampf gegen das Wegwerfen und die Verschwendung ein, das Wegwerfen der anderen und die Verschwendung der Dinge. Es tut weh, daran zu denken, wie viele Menschen mitleidlos weggeworfen werden: alte Menschen, Kinder, Arbeiter, behinderte Personen… Aber auch die Verschwendung der Dinge ist skandalös. Die FAO hat dokumentiert, dass in den Industrieländern über eine Milliarde – über eine Milliarde! – Tonnen essbarer Nahrungsmittel weggeworfen werden! Das ist die Wirklichkeit. Helfen wir einander gemeinsam, gegen das Wegwerfen und die Verschwendung zu kämpfen, fordern wir politische Maßnahmen, die Fortschritt und Gerechtigkeit, Entwicklung und Nachhaltigkeit für alle miteinander verbinden, damit niemand des Landes beraubt wird, auf dem er lebt, der guten Luft, die er atmet, des Wassers, das zu trinken er ein Recht hat, und der Nahrung, die zu essen er ein Recht hat.

Ich bin mir sicher, dass die Mitglieder jeder eurer Gemeinschaften sich nicht damit begnügen werden, als Zuschauer zu leben, sondern stets sanftmütige und entschiedene Protagonisten sein werden, um die Zukunft aller aufzubauen. Und all das schafft Geschwisterlichkeit. Arbeiten wie und als Geschwister. Die universale Geschwisterlichkeit aufbauen. Und dies ist der Augenblick, das ist die heutige Herausforderung. Ich wünsche euch, die Kontemplation und das Mitleid, die unverzichtbaren Zutaten der ganzheitlichen Ökologie, zu nähren. Ich danke euch noch einmal für eure Anwesenheit und für euren Einsatz. Ich danke euch für euer Gebet. Jene von euch, die beten, bitte ich zu beten, und jene, die nicht beten, mir wenigstens gute Wellen zu senden, ich brauche es! [Sie lachen, Beifall]

Und jetzt möchte ich Gott bitten, einen jeden von euch zu segnen, das Herz eines jeden von euch zu segnen, möge er gläubig oder nichtgläubig sein, welcher religiösen Tradition auch immer er angehört. Gott segne euch alle. Amen.

 



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