ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER AM TREFFEN DER UNIVERSITÄTSSEELSORGER UND DER VERANTWORTLICHEN DER PASTORAL AN DEN UNIVERSITÄTEN
Konsistoriumssaal
Freitag, 24. November 2023
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Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Ich begrüße euch alle, Kardinal Tolentino mit den Leitern und Mitarbeitern des Dikasteriums für die Kultur und die Bildung; ich begrüße die Seelsorger und Verantwortlichen der Pastoral an den Universitäten. Es ist schön, dass ihr aus Anlass der von euch organisierten Tagung hier seid. Eure Anwesenheit übermittelt das Echo der Stimmen von Studenten und Studentinnen, von Professoren verschiedener Fächer und von allen, die auch mit der Arbeit im Verborgenen zum guten Funktionieren eurer Bildungseinrichtungen beitragen, und ebenso der Stimmen der Kulturen, Ortskirchen, Völker, einschließlich der vielen jungen Menschen, für die das Recht auf Bildung leider immer noch ein unzugängliches Privileg ist, wie der Ärmsten und der Flüchtlinge.
Für eure Arbeiten habt ihr das Thema gewählt: »Zu einer polyedrischen Sicht gelangen«. Mir gefällt dieses Bild des Polyeders sehr, denn es ist sehr vielsagend. Ihr wisst, dass ich dieses Bild mag, ich habe es von Anfang meines Pontifikates an verwendet, als ich gesagt habe, dass die Pastoral »nicht die Kugel« als Modell nehmen darf, »wo jeder Punkt gleich weit vom Zentrum entfernt ist und es keine Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen Punkt gibt«, sondern »das Polyeder, welches das Zusammentreffen aller Teile wiedergibt, die in ihm ihre Eigenart bewahren« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 236). Das Evangelium nimmt auf diese Weise Gestalt an, indem man seiner Vielstimmigkeit erlaubt, im Leben der Menschen auf unterschiedliche Weise zu erklingen, wie ein und dieselbe Melodie, die in unterschiedlichen Klangfarben zum Ausdruck gebracht werden kann. In diesem Zusammenhang möchte ich euch drei Haltungen mitgeben, die ich als für euren Dienst wichtig erachte: die Unterschiede schätzen, mit Sorgfalt begleiten und mutig handeln.
Die Unterschiede schätzen. Das Polyeder ist keine einfache geometrische Figur. Im Unterschied zur Kugel, die glatt und einfach zu handhaben ist, ist er kantig, auch spitz: Er hat etwas irritierend Unhandliches, wie es zuweilen auch bei der Realität der Fall ist. Dennoch ist gerade diese Komplexität die Grundlage für seine Schönheit, denn sie ermöglicht es ihm, das Licht in verschiedenen Tönen und Abstufungen widerzuspiegeln, je nach dem Winkel der einzelnen Oberflächen. Eine Oberfläche spiegelt ein helles Licht, eine andere ein etwas getöntes Licht, eine weitere ein Helldunkel. Nicht nur das: Mit seine vielen Facetten kann ein Polyeder auch eine vielfältige Projektion von Schatten erzeugen. Polyedrisches Sehen bedeutet also, die Augen zu schulen, um all diese Nuancen zu erfassen und wertzuschätzen. Schließlich ist die Entstehung der wunderbaren Polyeder der Mineralwelt, wie zum Beispiel der Quarzkristalle, das Ergebnis einer sehr langen Geschichte, die von komplexen geologischen Prozessen über Hunderte von Millionen Jahren geprägt ist. Dieser geduldige, einladende und schöpferische Stil erinnert an die Handlungsweise Gottes, der, wie der Prophet Jesaja sagt, die strahlende Sonne erschafft, aber das unsichere Licht »eines glimmenden Dochtes« (vgl. Jes 42,3) nicht verachtet. Über die Metapher hinaus ist es im Dienst an der Ausbildung bereits eine Mission, mit väterlichem und mütterlichem Herzen die Menschen mit Licht und Schatten – ja auch die in ihnen und in den Situationen vorhandenen Schatten – anzunehmen: es erleichtert das Wachstum dessen, was Gott auf einzigartige und unwiederholbare Weise in jeden einzelnen gesät hat. Jede Person muss angenommen werden, so wie sie ist, und von dort aus beginnt der Dialog, von dort aus der Weg, von dort aus der Fortschritt.
Kommen wir zum zweiten Punkt: mit Fürsorge begleiten. An die Vitalität dessen zu glauben, was Gott gesät hat, bedeutet Sorge zu tragen für das, was in der Stille wächst und in den, wenn auch zuweilen chaotischen Gedanken, Wünschen und Gefühlen der euch anvertrauten jungen Menschen zum Ausdruck kommt. Habt keine Angst, euch all dieser Dinge anzunehmen. Eure Haltung darf nicht die einer bloßen Apologetik sein, Frage und Antwort, ein »Nein«: Habt keine Angst, euch dieser Realität anzunehmen. Wenn man in einer geometrischen Form die Ecken wegnimmt und die Schatten auslöscht, dann bleibt nur eine Fläche übrig, ohne Substanz und ohne Tiefe. Und heute sehen wir in der Kirche ideologische Strömungen, wo die Menschen hingehen und letztendlich auf »platte Formen« reduziert werden, ohne Nuancen… Aber wenn ein Mensch weise geschätzt wird für das, was er ist, dann kann aus ihm ein Kunstwerk entstehen. Der Herr lehrt uns gerade diese Kunst der Fürsorge: Er, der aus dem Dunkel des Chaos die Welt geschaffen hat und aus der Nacht des Todes zum Leben erstanden ist, lehrt uns, das Beste aus den Geschöpfen ans Licht zu bringen, ausgehend von der Sorge für das, was in ihnen am schwächsten und unvollkommensten ist. Daher sollt ihr euch von den pädagogischen Herausforderungen, vor denen ihr jeden Tag steht – im Kontakt mit vielen verschiedenen und zuweilen problematischen Menschen, Kulturen, Situationen, Gefühlen und Gedanken –, nicht entmutigen lassen. Nehmt euch ihrer fürsorglich an, ohne sofortige Erfolge zu suchen, sondern mit der sicheren Hoffnung, dass Wunder geschehen, wenn man die jungen Menschen aus der Nähe begleitet und wenn man für sie betet. Aber sie geschehen nicht aus der Uniformität heraus, sondern gerade aus den Unterschieden, die ihr Reichtum sind.
Kommen wir also zum dritten Punkt: mutig handeln. Liebe Freunde, die Freude des Evangeliums im universitären Umfeld zu verbreiten, ist ein begeisterndes, aber auch anspruchsvolles Abenteuer: es verlangt Mut. Und das ist die Tugend, die am Anfang jedes Unterfangens steht, vom »fiat lux« der Schöpfung über das »fiat« Mariens bis hin zum kleinsten »Ja« unseres Alltags. Der Mut ist es, der es erlaubt, Brücken zu bauen selbst über die tiefsten Abgründe, wie die der Angst, der Unentschlossenheit und der lähmenden Alibis, die das Handeln hemmen und den Rückzug fördern. Wir kennen das Gleichnis vom »untreuen Knecht«, der das Kapital, das ihm der Herr gegeben hat, nicht investiert und vergräbt, um kein Risiko einzugehen: Das Schlimmste für einen Pädagogen ist, kein Risiko einzugehen. Wenn man nichts riskiert, gibt es keine Fruchtbarkeit: das ist eine Regel. Wenn in den Geburtswehen einer Seele eine Entscheidung durchbricht, die etwas Neues schafft und sich gegen die Trägheit eines allzu berechnenden Gewissens auflehnt, dann ist das Mut; der Mut, der weder mentalen noch emotionalen Firlefanz mag, sondern auf den Punkt kommt, indem er auf das Notwendige abzielt und alles beiseitelässt, was die Durchschlagkraft der ursprünglichen Entscheidung schwächen könnte. Das ist der Mut der ersten Jünger, es ist die Tugend der »Armen vor Gott« (vgl. Mt 5,3), derer, die wissen, dass sie Barmherzigkeit brauchen, die furchtlos Gnade erflehen und in ihrer Bedürftigkeit große Träume lieben. Große Träume haben: Jungen Menschen müssen Träume haben, und ihr müsst alles tun, um zu träumen, indem ihr nach dem Maß Christi strebt: nach der Höhe, Breite und Tiefe seiner Liebe (vgl. Eph 3,17-19). Ich wünsche euch, dass ihr im Leben und in eurem Dienst stets das kühne Vertrauen dessen pflegen könnt, der glaubt. Und wer ist es, der uns den Mut gibt voranzugehen? Es ist der Heilige Geist, der »große Verborgene« in der Kirche. Aber er ist es, der uns Kraft und Mut gibt: Man muss den Heiligen Geist bitten, dass er uns diesen Mut geben möge.
Bevor ich zum Abschluss komme, möchte ich einen weiteren Grund für die Zufriedenheit nennen, die mir diese Begegnung bereitet. Mir ist gesagt worden, dass einige von euch entweder persönlich oder durch ihre Universität finanziell dazu beigetragen haben, dass auch diejenigen, die über weniger Mittel verfügen, an dieser Tagung teilnehmen können. Danke, das ist schön. Es ist schön, dass derartige Gesten immer mehr gewöhnlicher Teil eurer Handlungsweise werden, denn es soll so sein, dass der, dem es möglich ist, demjenigen helfen soll, der in Schwierigkeiten ist, mit jener Zurückhaltung, die dem christlichen Almosen zu eigen ist. Wenn ein Christ etwas gibt, dann wahrt er immer diese Zurückhaltung: Er gibt im Verborgenen, er gibt mit Taktgefühl, ohne zu kränken. Bewahrt diese Seelengröße beim Geben, aber auch den Takt in der Art und Weise, wie ihr es tut. Das ist sehr schön, wenn wir daran denken, dass wir alle einander immer brauchen und dass daher alle immer etwas Wertvolles zu geben haben. Ich danke euch für eure Anwesenheit, bitte grüßt die euch anvertrauten Studenten und Studentinnen von mir, das akademische Lehrpersonal sowie das gesamte Personal eurer Universitäten und die Ortskirchen, aus denen ihr kommt. Ich begleite euch mit dem Gebet und bitte auch euch, nicht zu vergessen, für mich zu beten. Danke.
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