APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN (5. -17. JUNI 1999)
EUCHARISTIEFEIER
PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.
«Biskupia Góra» (Pelplin) - Sonntag, 6. Juni 1999
1. »Selig sind […] die, die das Wort Gottes hören und es befolgen« (Lk 11,28). Diese Seligpreisung Christi begleitet heute unseren Weg im polnischen Land. Ich verkünde sie mit Freude hier in Pelplin und grüße alle Gläubigen dieser Kirche mit ihrem Bischof Jan Bernard, dem ich für seinen Willkommensgruß danke. Ich begrüße auch den Weihbischof Piotr, alle hier versammelten polnischen Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe mit dem Kardinal-Primas an der Spitze, die Priester, Ordensmänner, Ordensfrauen und euch alle, liebe Brüder und Schwestern! »Selig sind […] die, die das Wort Gottes hören und es befolgen.« Diese Seligpreisung sei mit euch allen!
2. »Selig sind […] die, die das Wort Gottes hören und es befolgen«. Im Laufe von über tausend Jahren haben in diesem Land viele Menschen gelebt, die das Wort Gottes hörten. Sie empfingen es aus dem Mund derer, die es verkündeten. Zuerst empfingen sie es aus dem Mund des bedeutenden Missionar s dieser Gegend, des hl. Adalbert. Sie waren Zeugen seines Martyriums. Auch die folgenden Generationen wuchsen auf dieser Saat durch die Unterweisung weiterer Missionare – Bischöfe, Priester und Ordensleute –: die Reihen der Apostel des Wortes Gottes. Die einen bestätigten die Botschaft des Evangeliums mit dem Märtyrertod, die anderen durch ihre Aufopferung in der apostolischen Mühe im Geist der benediktinischen Regel »ora et labora« – bete und arbeite. Durch ihr Lebenszeugnis bestätigt, bekam das verkündete Wort eine besondere Wirkkraft.
Die Tradition des Hörens des Gotteswortes ist in dieser Region sehr alt, und sehr alt ist auch die Tradition des Zeugnisses für das Wort, das in Christus Fleisch angenommen hat. Sie kann durch viele Jahrhunderte zurückverfolgt werden. Diese Tradition macht sich auch in unserem Jahrhundert bemerkbar. Ein beredtes und tragisches Symbol dieser Kontinuität war der sogenannte »Pelpliner Herbst«, dessen 60. Gedenktag in dieses Jahr fällt. Damals bezeugten 24 mutige Priester, Professoren des Priesterseminars und Mitarbeiter der bischöflichen Kurie ihre Treue zum Dienst am Evangelium mit dem Opfer ihres Leidens und Sterbens. Während der Besatzungszeit wurden der Gegend von Pelplin 303 Hirten entrissen, die in jener dramatischen Epoche des Krieges und der Okkupation die Botschaft der Hoffnung heldenhaft und zum Preis ihres eigenen Lebens vermittelten. Wenn wir heute an diese Priester und Märtyrer erinnern, dann deshalb, weil unsere Generation das Wort Gottes aus ihrem Mund hörte und kraft ihres Zeugnisses seine Macht erkannte.
Wir dürfen diese historische Aussaat des Wortes und Zeugnisses nicht vergessen – vor allem jetzt, wo wir uns dem Ende des zweiten Jahrtausends nähern. Diese jahrhundertealte Tradition darf im dritten Jahrtausend nicht unterbrochen werden. Ja, in Anbetracht der neuen Herausforderungen, die sich dem heutigen Menschen und den Gesellschaften als ganze stellen, müssen wir in uns stets das Bewußtsein dafür wachhalten, was das Wort Gottes ist, welche Bedeutung es im Leben des Christen, der Kirche und der ganzen Menschheit hat und welche Macht es besitzt.
3. Was sagt uns Christus in diesem Zusammenhang durch den heutigen Abschnitt des Evangeliums? Zum Abschluß der Bergpredigt sagte er: »Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut« (Mt 7,24–25). Das Gegenteil zu dem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute, ist der Mann, der auf Sand baute. Sein Bauwerk erwies sich als wenig widerstandsfähig. Als Prüfungen und Schwierigkeiten über es hereinbrachen, stürzte es ein. Das ist es, was Christus uns lehrt.
Ein auf Fels gebautes Haus. Das Bauwerk des Lebens. Wie sollen wir es bauen, damit es nicht unter dem Druck der Ereignisse dieser Welt einstürzt? Wie sollen wir dieses Haus bauen, damit es sich aus einem »irdischen Zelt« in eine »Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel« verwandelt (vgl. 2 Kor 5,1)? Heute hören wir die Antworten auf diese wesentlichen Fragestellungen des Glaubens: Fundament des christlichen Bauwerks ist das Hören und die Erfüllung des Wortes Christi . Wenn wir »Wort Christi« sagen, denken wir dabei nicht nur an seine Lehren, Gleichnisse und Versprechen, sondern auch an seine Werke, Zeichen und Wunder. Und vor allem an seinen Tod, seine Auferstehung und die Herabkunft des Heiligen Geistes. Ja mehr noch: Wir denken dabei an den Gottessohn selbst, an das ewige Wort des Vaters im Geheimnis der Menschwerdung. »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit« (Joh 1,14).
Mit diesem Wort – dem lebendigen, auferstandenen Christus – kam der hl. Adalbert nach Polen. Jahrhundertelang kamen auch andere Boten Christi hierher und legten für ihn Zeugnis ab. Für ihn haben die Zeugen unserer Zeit, sowohl Kleriker als auch Laien, ihr Leben hingegeben. Ihr Dienst und ihr Opfer wurden für die nachfolgenden Generationen das Zeichen dafür, daß ein auf Christus gegründetes Bauwerk durch nichts zerstört werden kann. Sie wanderten durch die Jahrhunderte und wiederholten die Wortes des hl. Paulus: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? […] Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat« (Röm 8,35.37).
4. »Selig sind […] die, die das Wort Gottes hören und es befolgen.« Wenn wir auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend fragen, wie die kommende Zeit sein wird, können wir nicht zugleich der Frage nach dem Fundament dieses Bauwerks, das die künftigen Generationen weiterbauen werden, ausweichen. Unsere Generation muß ein umsichtiger Bauherr der Zukunft sein. Ein umsichtiger Bauherr ist derjenige, der die Worte Christi hört und sie in die Tat umsetzt.
Seit dem Pfingsttag bewahrt die Kirche diese Worte Christi als ihren allergrößten Schatz. Auf den Seiten des Evangeliums niedergeschrieben, blieben sie bis in unsere Zeit erhalten. Heute lastet auf uns die Verantwortung, sie den kommenden Generationen weiterzugeben – und zwar nicht als »tote Worte«, sondern als lebendige Quelle der Kenntnis der Wahrheit über Gott und über den Menschen – eine Quelle echter Weisheit. In diesem Zusammenhang wirkt die an alle Gläubigen gerichtete Ermahnung des Konzils besonders aktuell, »durch häufige Lesung der Heiligen Schrift sich die ›alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi‹ (Phil 3,8) anzueignen. ›Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen‹ (Hieronymus)« (Dei Verbum, 25). Wenn ich also während der Liturgie das Evangeliar in meine Hände nehme und es segnend über die Gemeinde und die ganze Kirche erhebe, so tue ich dies in der Hoffnung, daß es auch in Zukunft das Buch des Lebens für jeden Gläubigen, jede Familie und ganze Gesellschaften sein wird. Mit der gleichen Hof fnung bitte ich euch heute: Beginnt das neue Jahrtausend mit dem Buch der Evangelien! Es darf in keinem polnischen Haushalt fehlen! Lest es und denkt darüber nach! Laßt Christus sprechen! »Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören: ›Verhärtet euer Herz nicht…‹« (Ps 95,8).
5. Zwanzig Jahrhunderte lang hat sich die Kirche über die Seiten des Evangeliums gebeugt, um das, was Gott darin offenbaren wollte, so präzise wie möglich zu deuten. Sie hat die tiefsten Inhalte der Worte und Ereignisse erfaßt, die Wahrheiten ausformuliert und sie als sicher und heils - bringend bestätigt. Die Heiligen haben diese Wahrheiten in die Tat umgesetzt und ihre eigene Er fahrung der Begegnung mit dem Wort Christi mit anderen geteilt. Auf diese Weise entwickelte sich, im Zeugnis der Apostel selbst begründet, die kirchliche Überlieferung. Wenn wir heute das Evangelium befragen, können wir es nicht von diesem jahrhundertealten Erbe und von dieser Tradition lösen.
Ich spreche davon, weil die Versuchung besteht, die Heilige Schrift losgelöst von der tausendjährigen Tradition des kirchlichen Glaubens zu interpretieren und dabei Deutungsansätze anzuwenden, die der zeitgenössischen Literatur oder der Publizistik eigen sind. Das birgt die Gefahr der Simplifizierung, der Verfälschung der offenbarten Wahrheit und sogar ihrer Anpassung an die Anforderungen einer individuellen, a priori akzeptierten Ideologie oder Lebensphilosophie. Schon der Apostel Petrus stellte sich solchen Versuchen entgegen, als er schrieb: »Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden« (2 Petr 1,20). »Die Aufgabe aber, das […] Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird« (Dei Verbum, 10).
Es freut mich, daß die polnische Kirche die Gläubigen in der Kenntnis der Inhalte der Offenbarung wirksam unterstützt. Ich weiß, welch wichtigen Stellenwert die Hirten dem Wortgottesdienst während der hl. Messe und der Katechese geben. Ich danke Gott, weil in den Gemeinden und innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften und Bewegungen ständig neue Bibelkreise und Diskussionsrunden entstehen und sich entwickeln. Es ist allerdings nötig, daß diejenigen, welche die Verantwortung für eine maßgebliche Darlegung der offenbarten Wahrheit übernehmen, nicht auf ihre eigene, oft fehlbare Eingebung vertrauen, sondern auf ein solides Wissen und auf einen unbeugsamen Glauben.
Wie sollten wir an diesem Punkt nicht unsere Dankbarkeit aussprechen für all die Hirten, die hingebungsvoll und bescheiden den Dienst der Verkündigung des Gotteswortes leisten? Wie wollten wir nicht die gesamte, unzählige Schar der Bischöfe, Priester, Diakone, Ordensleute und Laienkatecheten nennen, die sich mit großem Eifer – und oft trotz vieler Schwierigkeiten – diesem prophetischen Auftrag der Kirche widmen? Wie sollten wir nicht den Exegeten und Theologen danken, die mit einem bewundernswerten Interesse die Quellen der Offenbarung untersuchen und die Hirten auf diese Weise kompetent unterstützen? Liebe Brüder und Schwestern! Der gute Gott vergelte eure apostolische Mühe mit seinem Segen! »Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt« (Jes 52,7).
6. Selig sind auch all jene, die diesen Dienst offenherzig in Anspruch nehmen. »Die das Wort Gottes hören und es befolgen«, sind wirklich selig, denn sie erfahren jene besondere Gnade, kraft derer die Saat Gottes nicht in die Dornen fällt, sondern auf guten Boden und dort Frucht bringt. Es ist eben dieses Wirken des Heiligen Geistes, des Trösters, der zuvorkommt und hilft, das die Herzen bewegt und Gott zuwendet, das die Augen des Verstandes öffnet und »es jedem leicht machen muß, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben« (Dei Verbum, 5). Sie sind selig, denn sie erkennen und erfüllen den Willen des Vaters und finden darin jederzeit die solide Grundlage für den Aufbau des eigenen Lebens.
Den Menschen, die bald die Schwelle des dritten Jahrtausends überschreiten, möchten wir sagen: Baut das Haus auf den Fels! Baut das Haus eures persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens auf Fels! Dieser Fels ist Christus – der in seiner Kirche lebende Christus. Christus, der in diesem Land seit tausend Jahren gegenwärtig ist. Er kam zu euch durch den Dienst des hl. Adalbert. Er wuchs auf dem Fundament des Martyriums dieses Heiligen, und er besteht weiter. Die Kirche ist Christus, der in uns allen lebt. Christus ist der Weinstock, und wir sind die Reben. Er ist das Fundament, und wir sind die lebendigen Steine.
7. Herr, bleib doch bei uns!« (vgl. Lk 24,29), sagten die Jünger, die dem auferstandenen Christus auf dem Weg nach Emmaus begegneten, und »es brannte ihnen das Herz in der Brust, als er unterwegs mit ihnen redete und ihnen den Sinn der Schrift erschloß« (vgl. Lk 24,32). Heute wollen wir ihre Worte wiederholen: »Bleibe bei uns, Herr!« Wir haben dich auf dem langen Weg unserer Geschichte getroffen. Es begegneten dir unsere Vorfahren von Generation zu Generation. Du bestärktest sie mit deinem Wort, durch das Leben und den Dienst der Kirche.
Herr, bleibe bei denen, die nach uns kommen werden! Wir möchten, daß du bei ihnen bist, wie du bei uns gewesen bist. Das wünschen wir, und darum bitten wir dich.
Bleibe bei uns, wenn es Abend wird! Bleibe bei uns, während die Zeit unserer Geschichte bald das Ende des zweiten Jahrtausends erreicht.
Bleibe bei uns und hilf uns, immer den Weg zu gehen, der zum Haus des Vaters führt.
Bleibe bei uns in deinem Wort – in dem Wort, das zum Sakrament wird: die Eucharistie deiner Gegenwart.
Wir wollen dein Wort hören und es erfüllen.
Wir möchten in der Seligpreisung leben.
Wir möchten zu den Seligen gehören, »die das Wort Gottes hören und es befolgen«.
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