BOTSCHAFT
SEINER HEILIGKEIT
PAPST JOHANNES PAUL II.
ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 2002
KEIN FRIEDE OHNE GERECHTIGKEIT,
KEINE GERECHTIGKEIT OHNE VERGEBUNG
1. Dieses Jahr wird der Weltfriedenstag vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse vom vergangenen 11. September begangen. An jenem Tag ist ein Verbrechen schrecklichen Ausmaßes verübt worden: innerhalb weniger Minuten wurden Tausende unschuldiger Menschen verschiedener ethnischer Herkunft auf grauenvolle Weise getötet. Seither haben die Menschen auf der ganzen Welt mit neuer Intensität das Bewußtsein der persönlichen Verwundbarkeit erfahren; sie haben begonnen, mit einem tiefen, bis dahin nicht gekannten Angstgefühl in die Zukunft zu schauen. Angesichts solcher seelischer Zustände möchte die Kirche ein Zeugnis ihrer Hoffnung geben, in der Überzeugung, daß das Böse, das mysterium iniquitatis, in den Wechselfällen des menschlichen Lebens nicht das letzte Wort hat. Die in der Heiligen Schrift umrissene Heilsgeschichte wirft helles Licht auf die gesamte Geschichte der Welt, indem sie aufzeigt, wie diese immer von Gottes barmherziger und weiser Sorge begleitet wird, welcher die Wege kennt, um selbst die verhärtetsten Herzen zu berühren und von trockenem, unfruchtbarem Boden gute Früchte zu ernten.
Das ist die Hoffnung, an der die Kirche zu Beginn des Jahres 2002 festhält: Durch die Gnade Gottes wird die Welt, in der die Macht des Bösen wieder einmal die Oberhand zu haben scheint, tatsächlich in eine Welt verwandelt werden, in der die edelsten Bestrebungen des menschlichen Herzens befriedigt werden können, eine Welt, in der sich der wahre Friede durchsetzen wird.
Der Friede: Werk der Gerechtigkeit und der Liebe
2. Die blutigen Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit haben mich dazu bewegt, einen Gedanken wieder aufzunehmen, der mir in der Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse, die mein Leben, besonders in meinen Jugendjahren, gezeichnet haben, aus tiefstem Herzen kommt.
Die unermeßlichen Leiden der Völker und der Einzelnen, darunter auch nicht wenige meiner Freunde und Bekannten, verursacht durch die totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus, haben stets meine Seele bedrängt und mich zum Gebet angeregt. Oftmals habe ich innegehalten, um über die Frage nachzudenken: Welcher Weg führt zur vollen Wiederherstellung der so grausam verletzten sittlichen und sozialen Ordnung? Durch Nachdenken und in der persönlichen Beschäftigung mit der biblischen Offenbarung bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß sich die zerbrochene Ordnung nicht voll wiederherstellen läßt, außer indem man Gerechtigkeit und Vergebung miteinder verbindet. Die Stützpfeiler des wahren
Friedens sind die Gerechtigkeit und jene besondere Form der Liebe, wie sie die Vergebung darstellt.
3. Aber wie kann man unter den aktuellen Umständen von Gerechtigkeit und zugleich von Vergebung als Quellen und Bedingungen des Friedens reden? Meine Antwort lautet, man kann und man muß davon reden, ungeachtet der Schwierigkeiten, die solches Reden in sich birgt, auch deshalb, weil man gewöhnlich an Gerechtigkeit und Vergebung als alternative Begriffe denkt. Die Vergebung steht im Gegensatz zum Groll und zur Rache, nicht zur Gerechtigkeit. Der wahre Friede ist in Wirklichkeit ein »Werk der Gerechtigkeit« (Jes 32, 17). Der Friede ist, wie das II. Vatikanische Konzil erklärt hat, »die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muß« (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 78). Seit über fünfzehn Jahrhunderten erklingt in der katholischen Kirche die Lehre des Augustinus von Hippo, der uns daran erinnert, daß der Friede, der mit dem Zutun aller anzustreben ist, in der tranquillitas ordinis, in der Ruhe der Ordnung besteht (vgl. De civitate Dei, 19,13).
Der wahre Friede ist daher Frucht der Gerechtigkeit, sittliche Tugend und rechtliche Garantie, die über die volle Achtung der Rechte und Pflichten und über die gerechte Aufteilung von Nutzen und Lasten wacht. Da aber die menschliche Gerechtigkeit, die nun einmal den Grenzen und Egoismen von Personen und Gruppen ausgesetzt ist, immer zerbrechlich und unvollkommen ist, muß sie in der Vergebung, die die Wunden heilt und die tiefgehende Wiederherstellung der gestörten menschlichen Beziehungen bewirkt, praktiziert und gewissermaßen vervollständigt werden. Das gilt sowohl in den Spannungen, die Einzelpersonen betreffen, wie in jenen von übergeordneter und auch internationaler Tragweite. Die Vergebung widersetzt sich in keiner Weise der Gerechtigkeit, weil sie nicht auf einer Aufhebung der berechtigten Wiedergutmachungsansprüche für die verletzte Ordnung besteht. Die Vergebung strebt vielmehr jene Fülle von Gerechtigkeit an, welche die Ruhe der Ordnung herbeiführt; diese bedeutet weit mehr als eine zerbrechliche und vorübergehende Einstellung von Feindseligkeiten, nämlich eine tiefgreifende Heilung der in den Herzen blutenden Wunden. Wesentlich für eine solche Heilung sind beide, die Gerechtigkeit und die Vergebung.
Das sind die beiden Dimensionen des Friedens, die ich in dieser Botschaft aufzeigen möchte. Der Weltfriedenstag bietet in diesem Jahr der ganzen Menschheit und besonders den Staatsoberhäuptern Gelegenheit, über die Anforderungen der Gerechtigkeit und über den Aufruf zur Vergebung angesichts der schwerwiegenden Probleme nachzudenken, welche die Welt weiterhin quälen, darunter nicht zuletzt die vom organisierten Terrorismus herbeigeführte neue Stufe der Gewalt.
Das Phänomen des Terrorismus
4. Gerade der auf Gerechtigkeit und Vergebung gegründete Friede ist es, der heute vom internationalen Terrorismus angegriffen wird. In den letzten Jahren, besonders nach dem Ende des kalten Krieges, ist der Terrorismus zu einem hochentwickelten Netz des politischen, technischen und wirtschaftlichen Zusammenwirkens geworden, das die nationalen Grenzen überschreitet und sich anschickt, die ganze Welt zu umgarnen. Es handelt sich um Organisationen im wahrsten Sinn des Wortes, die oft mit beachtlichen Geldmitteln ausgestattet sind und Strategien auf breiter Ebene ausarbeiten, wobei sie unschuldige Personen treffen, die mit den von den Terroristen verfolgten Zielen überhaupt nichts zu tun haben.
Wenn diese Terrororganisationen ihre eigenen Anhänger als Waffen benutzen, um sie gegen unbewaffnete, ahnungslose Menschen loszuschicken, machen sie damit auf erschütternde Weise den Todesdrang offenkundig, der sie speist. Der Terrorismus entspringt dem Haß und erzeugt Isolierung, Mißtrauen und Abschottung. Gewalt gesellt sich zu Gewalt, in einer tragischen Spirale, die auch die jungen Generationen mithineinzieht, die so den Haß erben, der schon frühere Generationen entzweit hat. Der Terrorismus basiert auf der Verachtung des Lebens des Menschen. Deshalb bildet er nicht allein den Grund für unerträgliche Verbrechen, sondern stellt selbst ein wirkliches Verbrechen gegen die Menschheit dar, insofern er auf den Terror als politische und wirtschaftliche Strategie zurückgreift.
5. Es besteht daher ein Recht auf Verteidigung gegen den Terrorismus. Es ist ein Recht, das sich wie jedes andere bei der Wahl sowohl der Ziele wie der Mittel an moralische und rechtliche Regeln halten muß. Die Identifikation der Schuldigen muß entsprechend bewiesen werden, weil die strafrechtliche Verantwortung immer personal ist und daher nicht auf die Nationen, Ethnien und Religionen, denen die Terroristen angehören, ausgedehnt werden kann. Die internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen das terroristische Treiben muß auch einen besonderen Einsatz auf politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Ebene beinhalten, um mutig und entschlossen etwaige Situationen von Unterdrückung und Ausgrenzung aufzulösen, die den Ursprung für Terrorpläne bilden könnten. Denn die Anwerbung von Terroristen wird in einem sozialen Umfeld erleichtert, wo Rechte verletzt und Ungerechtigkeiten allzu lange geduldet werden.
Es muß jedoch mit aller Klarheit festgestellt werden, daß die in der Welt bestehenden Ungerechtigkeiten niemals als Entschuldigung zur Rechtfertigung von Terroranschlägen gebraucht werden können. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß zu den Opfern des radikalen Zusammenbruchs der Ordnung, wie er von den Terroristen bezweckt wird, in erster Linie die Millionen Männer und Frauen gehören, die am wenigsten dagegen gewappnet sind, den Zusammenbruch der internationalen Solidarität auszuhalten. Ich spiele im besonderen auf die Völker der Entwicklungsländer an, die ohnehin schon in Randsituationen leben, in denen es um das bloße Überleben geht; sie wären von einem globalen wirtschaftlichen und politischen Chaos am schmerzlichsten betroffen. Der Anspruch des Terrorismus, im Namen der Armen zu handeln, ist eine offenkundige Unwahrheit.
Man tötet nicht im Namen Gottes!
6. Wer durch die Ausführung von Terroranschlägen tötet, hegt Gefühle der Verachtung für die Menschheit und manifestiert Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Leben und der Zukunft: alles kann aus dieser Sicht gehaßt und zerstört werden. Der Terrorist meint, der von ihm geglaubten Wahrheit bzw. dem erlittenen Leid komme eine derart absolute Bedeutung zu, daß sie ihn dazu berechtigen, mit der Zerstörung auch unschuldiger Menschenleben zu reagieren. Bisweilen ist der Terrorismus das Kind eines fanatischen Fundamentalismus, der aus der Überzeugung entsteht, allen die Annahme der eigenen Sichtweise der Wahrheit auferlegen zu können. Die Wahrheit kann jedoch auch dann, wenn sie erlangt wird — und das geschieht immer auf eine begrenzte und vervollkommnungsfähige Weise —, niemals aufgezwungen werden. Die Achtung vor dem Gewissen des anderen, in dem sich das Abbild Gottes selbst widerspiegelt (vgl. Gen 1, 26-27), gestattet nur, die Wahrheit dem anderen vorzulegen; an ihm liegt es dann, sie verantwortungsvoll anzunehmen. Die Anmaßung, das, was man selbst für die Wahrheit hält, anderen gewaltsam aufzuzwingen, bedeutet, daß dadurch die Würde des Menschen verletzt und schließlich Gott, dessen Abbild er ist, beleidigt wird. Darum ist der fundamentalistische Fanatismus eine Haltung, die in radikalem Gegensatz zum Glauben an Gott steht. Wenn wir genau hinschauen, instrumentalisiert der Terrorismus nicht nur den Menschen, sondern auch Gott, indem er ihn schließlich zu einem Götzen macht, dessen er sich für seine Zwecke bedient.
7. Kein Verantwortlicher der Religionen kann daher dem Terrorismus gegenüber Nachsicht üben und noch weniger kann er ihn predigen. Es ist eine Profanierung der Religion, sich als Terroristen im Namen Gottes zu bezeichnen, dem Menschen im Namen Gottes Gewalt anzutun. Die terroristische Gewalt steht im Gegensatz zum Glauben an Gott, den Schöpfer des Menschen, an Gott, der sich um den Menschen kümmert und ihn liebt. Insbesondere steht er völlig im Gegensatz zum Glauben an Christus den Herrn, der seine Jünger zu beten gelehrt hat: »Erlaß uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben« (Mt 6, 12).
In der Nachfolge der Lehre und des Beispiels Jesu sind die Christen davon überzeugt, daß Barmherzigkeit üben bedeutet, die Wahrheit unseres Lebens voll zu leben: Wir können und müssen barmherzig sein, weil uns von einem Gott, der die erbarmende Liebe ist, Barmherzigkeit erwiesen worden ist (vgl. 1 Joh 4, 7-12). Der Gott, der uns durch seinen Eintritt in die Geschichte erlöst und im Drama des Karfreitags den Sieg des Ostertages vorbereitet, ist ein Gott des Erbarmens und der Vergebung (vgl. Ps 103, 3-4.10-13). Gegenüber denen, die ihn angriffen, weil er mit den Sündern zusammen aß, hat sich Jesus so ausgedrückt: »Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten« (Mt 9, 13). Die Jünger Christi, getauft auf seinen Tod und seine Auferstehung, müssen immer Männer und Frauen der Barmherzigkeit und der Vergebung sein.
Die Notwendigkeit der Vergebung
8. Was aber bedeutet das Vergeben konkret? Und warum müssen wir vergeben? Das Sprechen über die Vergebung kann diesen Fragestellungen nicht ausweichen. Indem ich eine Überlegung aus meiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1997 (»Biete die Vergebung an, empfange den Frieden«) wieder aufgreife, möchte ich daran erinnern, daß die Vergebung, noch bevor sie ein gesellschaftliches Faktum wird, ihren Sitz im Herzen eines jeden hat. Nur in dem Maße, in dem sich eine Ethik und eine Kultur des Vergebens herausbildet, kann man eine »Politik der Versöhnung« erhoffen, die ihren Niederschlag in sozialen Verhaltensweisen und rechtsstaatlichen Einrichtungen findet, in denen die Gerechtigkeit selbst ein menschliches Antlitz annimmt.
In Wirklichkeit ist die Vergebung eine persönliche Entscheidung, eine Option des Herzens, die sich gegen den spontanen Instinkt richtet, das Böse mit dem Bösen zu beantworten. Diese Option findet ihr Richtmaß in der Liebe Gottes, die uns trotz unserer Sünde annimmt. Ihr höchstes Vorbild ist die Vergebung Christi, der am Kreuz gebetet hat: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23, 34).
Die Vergebung gestaltet sich daher nach göttlichem Ursprung und Maß. Dies schließt allerdings nicht aus, daß man ihren Wert auch im Licht vernünftiger menschlicher Überlegungen erfassen kann. Als erste von allen jene, die mit der Erfahrung zusammenhängt, daß der Mensch, der Böses begeht, in sich selbst verschlossen lebt. Er wird sich seiner Zerbrechlichkeit bewußt und hofft auf die Nachsicht der anderen. Warum also sollte man sich den anderen gegenüber nicht so verhalten, wie man selbst behandelt zu werden wünscht? Jeder Mensch hegt in sich die Hoffnung, das Leben in seinem Verlauf von neuem beginnen zu können und nicht für immer Gefangener der eigenen Irrtümer und Schuld zu bleiben. Er träumt davon, den Blick wieder zu erheben und in die Zukunft zu richten, um noch Perspektiven des Vertrauens und des Einsatzes entdecken zu können.
9. Als menschliche Handlung ist die Vergebung zunächst eine Initiative des Einzelnen in seiner Beziehung zu den anderen, ihm ähnlichen Geschöpfen. Der Mensch hat jedoch eine wesentliche soziale Dimension, kraft welcher er ein Netz von Beziehungen knüpft, in denen er sich selbst zum Ausdruck bringt — leider nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen. Die Folge davon ist, daß sich die Vergebung auch auf sozialer Ebene als notwendig erweist. Die Familien, die Gruppen, die Staaten, die Völkergemeinschaft selbst müssen sich der Vergebung öffnen, um unterbrochene Verbindungen wieder aufzunehmen, um Situationen einer fruchtlosen gegenseitigen Verurteilung zu überwinden, um über die Versuchung zu siegen, die anderen auszuschließen, indem man ihnen die Berufungsmöglichkeit verwehrt. Die Fähigkeit zur Vergebung liegt jedem Plan für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft in der Zukunft zugrunde.
Umgekehrt kommt die versäumte Vergebung, besonders wenn dadurch die Fortdauer von Konflikten geschürt wird, der Entwicklung der Völker sehr teuer zu stehen. Die Ressourcen werden verwendet, um den Rüstungswettlauf, die Kriegskosten und die Folgen wirtschaftlicher Repressalien zu tragen. Damit fehlen die notwendigen Geldmittel, um Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit voranzubringen. Unter wie vielen Schmerzen leidet die Menschheit, weil sie sich nicht zu versöhnen weiß, wie oft wird sie zurückgeworfen, weil sie nicht zu vergeben weiß! Der Friede ist die Voraussetzung für die Entwicklung, aber ein wirklicher Friede wird nur durch die Vergebung ermöglicht.
Die Vergebung, der Hauptweg
10. Das Angebot der Vergebung ist weder unmittelbar zu verstehen, noch mühelos anzunehmen; es ist eine in gewisser Hinsicht paradoxe Botschaft. Tatsächlich schließt die Vergebung immer kurzfristig einen scheinbaren Verlust ein, während sie langfristig einen tatsächlichen Gewinn sicherstellt. Die Gewalt ist das genaue Gegenteil; sie entscheidet sich für einen kurzfristigen Gewinn, bereitet aber auf lange Sicht einen tatsächlichen, anhaltenden Verlust vor. Die Vergebung könnte als eine Schwäche erscheinen; in Wirklichkeit setzt sie, sowohl um gewährt wie um angenommen zu werden, eine große geistige Kraft und einen bewährten moralischen Mut voraus. Weit davon entfernt, die Person herabzusetzen, führt die Vergebung sie zu einem erfüllten und reicheren Menschsein, das fähig ist, in sich einen Strahl des Glanzes des Schöpfers widerzuspiegeln.
Das Amt, das ich im Dienst des Evangeliums ausübe, läßt mich nachdrücklich die Pflicht spüren und verleiht mir zugleich die Kraft, auf der Notwendigkeit der Vergebung zu bestehen. Das tue ich auch heute, getragen von der Hoffnung, ruhige und reife Überlegungen im Hinblick auf eine allgemeine Erneuerung in den Herzen der Menschen und in den Beziehungen zwischen den Völkern der Erde wecken zu können.
11. Beim Nachdenken über das Thema Vergebung kann man nicht umhin, an einige tragische Konfliktsituationen zu erinnern, die schon seit allzu langer Zeit tiefe und quälende Haßgefühle schüren, was wiederum eine unaufhaltsame Spirale persönlicher und kollektiver Tragödien zur Folge hat. Ich nehme im besonderen auf die Geschehnisse im Heiligen Land Bezug, dem gesegneten und heiligen Ort der Begegnung Gottes mit den Menschen, dem Ort des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu, des Friedensfürsten.
Die heikle weltpolitische Situation macht es erforderlich, mit Nachdruck erneut die Dringlichkeit einer Lösung des arabisch-israelischen Konflikts hervorzuheben, der mit sich abwechselnden mehr oder weniger heißen Phasen nun seit über fünfzig Jahren andauert. Der ständige Rückgriff auf Terrorakte oder Krieg, der die Lage aller erschwert und in die Aussichtslosigkeit führt, muß endlich entschlossenen Verhandlungen Platz machen. Die Rechte und Ansprüche jeder Seite werden in gerechtem Ausgleich gebührend Berücksichtigung finden können, wenn und sobald bei allen der Wille zu Gerechtigkeit und Versöhnung vorherrscht. An jene geliebten Völker richte ich erneut die deutliche Aufforderung, sich um eine neue Ära gegenseitiger Achtung und konstruktiven Einvernehmens zu bemühen.
Interreligiöse Verständigung und Zusammenarbeit
12. Eine besondere Verantwortung bei dieser großangelegten Bemühung tragen die religiösen Führer. Die christlichen Konfessionen und die großen Religionen der Menschheit müssen zusammenarbeiten, um die sozialen und kulturellen Ursachen des Terrorismus zu beseitigen; sie müssen die Größe und Würde der menschlichen Person lehren und eine größere Bewußtheit von der Einheit des Menschengeschlechts verbreiten. Es handelt sich um einen klar bestimmten Bereich des Dialogs und der ökumenischen und interreligiösen Zusammenarbeit, um einen dringend erforderlichen Dienst der Religionen am Frieden zwischen den Völkern.
Im besonderen bin ich davon überzeugt, daß die religiösen Führer der Juden, der Christen und der Muslime durch die öffentliche Verurteilung des Terrorismus die Initiative ergreifen sollen, indem sie denjenigen, die sich an ihm beteiligen, jede Form religiöser oder moralischer Legitimation verweigern.
13. Wenn die Führer der Religionen der Welt gemeinsam die sittliche Wahrheit bezeugen, nach welcher der vorsätzliche Mord des Unschuldigen immer, überall und ohne Ausnahme, eine schwere Sünde ist, werden sie damit das sich Heranbilden einer moralisch richtigen öffentlichen Meinung fördern. Das ist die unerläßliche Voraussetzung für den Aufbau einer internationalen Gesellschaft, die imstande ist, als Ziel die Ruhe der Ordnung in Gerechtigkeit und Freiheit zu verfolgen.
Ein derartiges Engagement von seiten der Religionen wird auf dem Weg der Vergebung Eingang finden müssen, die zu gegenseitigem Verständnis, zu Achtung und Vertrauen führt. Der Dienst, den die Religionen für den Frieden und gegen den Terrorismus leisten können, besteht genau in der Pädagogik der Vergebung, weil der Mensch, der vergibt oder um Vergebung bittet, begreift, daß es eine Wahrheit gibt, die größer ist als er, und durch deren Annahme er über sich selbst hinauszuwachsen vermag.
Gebet für den Frieden
14. Aus eben diesem Grund ist das Gebet für den Frieden nicht ein Element, das dem Einsatz für den Frieden »nachfolgt«. Im Gegenteil, es liegt dem Bemühen um die Herstellung des Friedens in Ordnung, Gerechtigkeit und Freiheit am Herzen. Beten für den Frieden heißt, das menschliche Herz dem Eindringen der erneuernden Kraft Gottes öffnen. Gott kann durch die belebende Kraft seiner Gnade selbst dort Öffnungen für den Frieden schaffen, wo es nur Hindernisse und Abriegelungen zu geben scheint; trotz einer langen Geschichte von Trennungen und Kämpfen vermag er die Solidarität der Menschheitsfamilie zu stärken und auszuweiten. Beten für den Frieden heißt beten für die Gerechtigkeit, für eine angemessene Ordnung innerhalb der Nationen und in ihren Beziehungen untereinander. Das heißt auch beten für die Freiheit, besonders für die Religionsfreiheit, die ein menschliches und ziviles Grundrecht eines jeden Individuums ist. Beten für den Frieden heißt dafür beten, die Vergebung Gottes zu erlangen und gleichzeitig im Mut zu wachsen, den jeder nötig hat, der seinerseits die erlittenen Verletzungen vergeben will.
Aus all diesen Gründen habe ich die Vertreter der Weltreligionen am kommenden 24. Januar nach Assisi eingeladen, um in der Stadt des heiligen Franziskus für den Frieden zu beten. Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, daß das ehrliche religiöse Empfinden eine unerschöpfliche Quelle der gegenseitigen Achtung und des Verstehens unter den Völkern ist: genau darin liegt das wichtigste Gegenmittel gegen Gewalt und Konflikte. In dieser Zeit großer Besorgnis muß sich die Menschheitsfamilie auf die sicheren Gründe unserer Hoffnung besinnen. Gerade dies beabsichtigen wir in Assisi zu verkünden, indem wir — mit den eindrucksvollen, dem heiligen Franziskus zugeschriebenen Worten — den Allmächtigen Gott bitten, uns zu einem Werkzeug seines Friedens zu machen.
15. Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Das will ich in dieser Botschaft Glaubenden und Nichtglaubenden, den Männern und Frauen guten Willens verkünden, denen das Wohl der Menschheitsfamilie und ihre Zukunft am Herzen liegt.
Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Daran will ich alle erinnern, die das Geschick der menschlichen Gemeinschaften in Händen haben, damit sie sich in ihren schweren und schwierigen Entscheidungen immer vom Licht des wahren Wohls des Menschen im Hinblick auf das Gemeinwohl leiten lassen.
Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Ich werde nicht müde, diese Mahnung an alle zu wiederholen, die aus dem einen oder anderen Grund Haß, Rachsucht und Zerstörungswut in sich hegen.
Möge an diesem Welttag des Friedens aus den Herzen aller Gläubigen das Gebet für jedes der Opfer des Terrorismus noch eindringlicher emporsteigen, für ihre in tragischer Weise getroffenen Familien und für alle Völker, die nach wie vor von Terrorismus und Krieg heimgesucht und erschüttert werden. Selbst jene, die durch solche erbarmungslosen Aktionen Gott und den Menschen schwer beleidigen, sollen nicht außerhalb des Lichtstrahls unseres Gebetes bleiben: Möge es ihnen vergönnt sein, wieder zu sich selbst zu kommen und sich Rechenschaft zu geben über das Böse, das sie begehen, so daß sie sich gedrängt fühlen, jeden Vorsatz der Gewalt aufzugeben und die Vergebung zu suchen. Möge die Menschheitsfamilie in diesen stürmischen Zeiten den wahren und dauerhaften Frieden finden, jenen Frieden, der allein aus der Begegnung der Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit entstehen kann!
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2001, Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens.
JOHANNES PAUL II.
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