BOTSCHAFT VON PAPST JOHANNES PAUL II.
AN DEN PRÄSIDENTEN DER ITALIENISCHEN BISCHOFSKONFERENZ,
CAMILLO KARDINAL RUINI,
ANLÄßLICH DER FEIERLICHKEITEN ZUM 20. JAHRESTAG
DES APOSTOLISCHEN SCHREIBENS "FAMILIARIS CONSORTIO"
An meinen verehrten Mitbruder
Kardinal Camillo Ruini
Präsident der Italienischen Bischofskonferenz
1. Mit großer Freude habe ich erfahren, daß sich die Kirche in Italien mit einer Reihe von Initiativen auf den 20. Jahrestag des Apostolischen Schreibens Familiaris consortio vorbereitet: Sie werden für das Volk Gottes, für alle, die auf der Suche nach der Wahrheit sind, und für die zivilisierte Gesellschaft selbst eine große Unterstützung sein. Es handelt sich um wichtige Initiativen, die ich mit meinem Gebet und meiner aufrichtigen Zuneigung begleiten möchte, in Erwartung der Begegnung mit den italienischen Familien bei der für Samstag, den 20. Oktober, geplanten Gebetsvigil auf dem Petersplatz und der heiligen Messe, die ich am folgenden Tag aus Anlaß der Seligsprechung der Eheleute Luigi und Maria Beltrame Quattrocchi zelebrieren werde.
Als ich zu Beginn meines Pontifikats am 26. September 1980 die Synode über die Familie eröffnete, sagte ich: »Die Familie ist der grundlegende Gegenstand der Evangelisierung und der Katechese der Kirche; sie ist aber auch ihr unerläßlicher und unersetzlicher Inhalt: ihr schöpferischer Inhalt.« Weiter fügte ich hinzu, daß aufgrund dieser Kreativität »gerade die Familie der Gesellschaft das Leben verleiht«. Abschließend erinnerte ich die Synodenväter daran, daß alle Aufgaben der Familie in der einen grundlegenden Verpflichtung zusammengefaßt sind, nämlich »den Menschen schlechthin zu schützen und zu bewahren« (vgl. Predigt vom 26. September; in O. R. dt, Nr. 40, 3. 10. 1980)
2. Viele stellen sich die Frage, warum die Familie so wichtig ist. Warum legt die Kirche so großen Wert auf das Thema Ehe und Familie? Aus einem sehr einfachen, wenn auch nicht allen ersichtlichen Grund: Die Familie ist entscheidend für das Schicksal des Menschen, für sein Glück sowie seine Fähigkeit, seiner Existenz einen Sinn zu geben. Das Schicksal des Menschen ist vom Schicksal der Familie abhängig, und daher betone ich unermüdlich, daß die Zukunft der Menschheit eng mit der der Familie verbunden ist (vgl. Familiaris consortio, 86). Derart offensichtlich ist diese Wahrheit, daß sie die leider weit verbreitete Haltung all jener paradox erscheinen läßt, die den Wert der Ehe und der Familie geringschätzen, verletzen und relativieren.
Die Sichtweise vom Menschen, die Auffassung von seiner personalen Einheit, in der die körperliche, geistige und spirituelle Dimension zum Ausdruck kommt, die Bedeutung der Gefühle und der Zeugung des Lebens stehen im Mittelpunkt einer epochalen Debatte, welche die Institution der Familie zutiefst beeinflußt. In Anbetracht dieser Situation gehört es stets zu den vorrangigen Aufgaben der Kirche, jene Gründe herauszustellen, die den Einsatz aller Christen zu Gunsten der Familie zu einem dringenden und notwendigen Anliegen machen. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Familien und aller Menschen guten Willens, sich nach besten Kräften für die Anerkennung der Rechte dieser grundlegenden sozialen Institution zum Vorteil des einzelnen und der gesamten Gesellschaft einzusetzen.
3. Die der Familie gewidmete Synode prägte das Leben der Kirche auf ihrem Weg zur Verwirklichung des II. Vatikanischen Konzils, und das Apostolische Schreiben Familiaris consortio, das ihre wertvolle Arbeit zusammenfaßt, ist ein entscheidender Schritt zum tieferen Verständnis der Verantwortung der Familie und all jener notwendigen Maßnahmen, die ihr bei der Erfüllung ihrer unersetzlichen Funktionen helfen. 20 Jahre nach diesem Apostolischen Schreiben müssen wir Gott für die überreichen Früchte danken, die der Kirche und der Gesellschaft durch dieses Dokument zuteil geworden sind, und für das im Herzen der Familie aufkeimende Gute, das im Licht der in ihm enthaltenen Weisungen eine neue von lebendigem und wegbereitendem Engagement gekennzeichnete Zeit einleitet. Diese 20 Jahre dienten dazu, ein verbreitetes Bewußtsein von der Berufung und Aufgabe der Familie heranreifen zu lassen, und, wie im normalen Verlauf des menschlichen Lebens beginnt nun die Zeit der Reife, die Zeit, in der die Verantwortung voll übernommen werden muß.
Notwendigerweise muß die Kirche ihrerseits diesen Weg auf angemessene Weise begleiten und, angefangen bei den in der sakramentalen Gnade der Ehe verwurzelten spirituellen Ressourcen, auch all jene menschlichen, kulturellen und sozialen Beiträge leisten, die der Familie helfen, zum Mittelpunkt und zur Wegkreuzung des kirchlichen und sozialen Lebens zu werden. Jeglicher leichtfertige und unangebrachte Dualismus zwischen geistigem und sozialem Leben muß überwunden werden. Das Wohl der Familie ist ein ganzheitliches Wohl, und die verschiedenen Dimensionen ihrer Existenz können nicht voneinander getrennt werden. Ihr Leben als Grundzelle der Kirche und der Gesellschaft hat stets einen sozialen und öffentlichen Wert, der anerkannt, geschützt und gefördert werden muß.
4. Die Familie steht am »Anfang« der Heilsgeschichte, aber ebenso ist sie auch Ursprung und Fundament der Geschichte der Menschheit, sozusagen ihr Kernstück, denn die Geschichte des Menschen ist im wesentlichen eine Geschichte der Liebe. Nie dürfen wir vergessen, daß »der Mensch nicht ohne Liebe leben kann. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält« (vgl. Redemptor hominis, 10; Familiaris consortio , 18).
Um diesen zentralen Kern der menschlichen Existenz kreist die Familie, und auf ihr gründet die Gesellschaft. Auch heute noch wird diese Wahrheit zu oft vergessen, verfälscht und mit Füßen getreten. In zunehmendem Maße müssen daher Möglichkeiten des Studiums und der Reflexion wahrgenommen werden wie auch Formen der Mobilisierung der Familien, kulturelle, soziale und politische Initiativen. Diese Maßnahmen müssen – unter Beachtung der jeweiligen Rollen und Zuständigkeiten – in der Lage sein, den für das Gemeinwohl Verantwortlichen dabei zu helfen, der Wahrheit vom Menschen gemäß zu handeln. Dies bedeutet in erster Linie, das menschliche Leben sowie die Ehe und Familie zu schützen. Seit langem unterstützt die Kirche in Italien die Familie auch in dieser Hinsicht, indem sie mit Blick auf den Kulturplan ihre pastorale Tätigkeit mit einer wirksamen Präsenz in den Bereichen der Kultur und Kommunikation verbindet.
5. Die von der Bischöflichen Kommission für Familie und Leben, vom »Forum der Familienverbände« und vom »Servizio nazionale per il progetto culturale« geförderte Tagung zum Thema: »Die Familie als sozialer Gegenstand – Wurzeln, Herausforderungen und Pläne«, die vom 18. bis zum 20. Oktober in Rom stattfindet und an der über tausend Delegierte der Diözesen und Familienverbände teilnehmen, ist für die kirchliche Gemeinschaft und für die geliebte italienische Nation von großer Wichtigkeit. Den Teilnehmern der Konferenz wünsche ich von Herzen viel Erfolg bei ihrer Arbeit; ihnen spende ich auch meinen besonderen Segen, damit diese wertvolle Gelegenheit des Studiums und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Überzeugung vom Wert der Ehe und der Familie weiter festigen und neuen Eifer im Dienst an der Familie bewirken möge. Das gewählte Thema zeigt sehr deutlich, welche Richtung wir einschlagen müssen, um einen Umschwung jener gesellschaftlichen Situation zu erreichen, die auch in Italien noch auf die volle Verwirklichung eines oft besprochenen, aber nicht immer durchgeführten konkreten Projekts auf dem Gebiet der Familienpolitik wartet.
Notwendig ist vor allem, die Familie nicht mehr als Sektor, sondern vielmehr als Maßstab der gesamten politischen Arbeit zu sehen, denn alle Dimensionen des menschlichen und sozialen Lebens sind mit dem Wohl der Familie verbunden: der Schutz des menschlichen Lebens, das Gesundheitswesen und der Umweltschutz; die Bebauungspläne der Städte, die familiengerechte Wohnbedingungen, Strukturen und Grünanlagen vorsehen müssen; das Schulsystem, das eine Vielfalt von Beiträgen sowohl von seiten des Staates als auch anderer sozialer Gruppen gewährleisten muß, angefangen beim Recht der Eltern auf Entscheidungsfreiheit; die Überprüfung von Arbeitsprozessen und Besteuerungskriterien, deren Maßstab nicht nur die Einzelperson sein darf, während die Familie vernachlässigt oder sogar benachteiligt wird.
6. Die Konferenzteilnehmer erwartet somit ein überaus umfangreiches und anspruchsvolles Arbeitsfeld, aber heute existieren die Voraussetzungen für eine bedeutende Trendwende, angefangen bei einer konkreten Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips in der Beziehung zwischen Staat und Familie und jenem starken kulturellen Einfluß, der den Wert von Ehe und Familie wieder in den Mittelpunkt der Wertschätzung und Aufmerksamkeit aller rückt. Die korrekte Beziehung zwischen Staat und Familie gründet auf der rechtlichen Institution der Ehe, die, wie es in der Verfassung der Italienischen Republik heißt, Garant für die soziale Anerkennung der Familie ist und bleiben muß. Die Ehe ist auch jene Einrichtung, die dem Staat erlaubt, zwischen der wahren Familie und ihren unveräußerlichen Rechten sowie anderen Formen des Zusammenlebens zu unterscheiden.
Wie ich bereits in Familiaris consortio betonte, besteht ein grundlegender Bezugspunkt: »…die Ehe als Institution ist weder ein ungebührliches Eingreifen der Gesellschaft oder der Autorität noch ein von außen kommendes Auferlegen einer Form, sondern eine dem ehelichen Liebesbund innewohnende Notwendigkeit, der sich dadurch der Öffentlichkeit als etwas Einmaliges und Ausschließliches kundtut, damit so die Treue zum Plan des Schöpfergottes voll verwirklicht wird« (11).
Zweifellos wird der qualifizierte Beitrag der Referenten und Experten wie auch aller Konferenzteilnehmer von Nutzen sein, um jene angemessenen Wege zu finden, die uns erlauben, all das in dieser neuen Phase zu bekräftigen und zu entwickeln. Einerseits erwartet die Familie berechtigterweise die Verwirklichung der ihren Bedürfnissen entsprechenden sozialen Bedingungen, andererseits muß sie durch ihren unmittelbaren Einsatz und mit Hilfe der sie vertretenden Familienverbände zum Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Modells beitragen. An dieser Stelle möchte ich dem »Forum der Familienverbände« meine aufrichtige Anerkennung für das aussprechen, was in Italien getan worden ist; sein Verdienst ist die Förderung einer gehaltvollen Debatte über soziale Problemfelder, wodurch den effektiven Ansprüchen der Familie Ausdruck verliehen und zum Wohl der gesamten italienischen Gesellschaft beigetragen wurde.
7. Mit Freude erwarte ich das für Samstag, den 20. Oktober, geplante Treffen, um gemeinsam mit vielen Familien zum Herrn zu beten. Es handelt sich um einen bedeutenden Augenblick, um über die Herausforderungen im Hinblick auf die Familie und über die vielfältige Verantwortung der Menschen im Kontext des kirchlichen und zivilen Lebens nachzudenken. Dieser komplexe Weg, der die italienischen Familie sowohl zur Reflexion als auch zur Teilnahme an der von der Italienischen Bischofskonferenz geförderten Gebetswache veranlaßt, erreicht seinen Höhepunkt am Sonntagmorgen bei der Seligsprechung der Eheleute Luigi und Maria Beltrame Quattrocchi. In freudiger Erwartung, daß wir die durch den Weg der Heiligkeit dieser Eheleute sichtbar gewordenen Wundertaten des Herrn feiern können, wende ich mich voll Dankbarkeit an alle am Aufbau einer Zivilisation der Liebe beteiligten Familien und begleite diese Tage der Reflexion und der fruchtbringenden Auseinandersetzung mit meinem Gebet. Für alle erbitte ich den Schutz und Beistand Marias, der Königin der Familien.
Aus dem Vatikan, 15. Oktober 2001
JOHANNES PAUL II.
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