Index   Back Top Print

[ DE  - EN ]

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN BOTSCHAFTER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, HERRN PHILIPP JENNINGER, ANLÄSSLICH DER ÜBERGABE DES BEGLAUBIGUNGSSCHREIBENS*

Montag, 12. Juni 1995

 

Herr Botschafter!

1. Mit großer Freude nehme ich aus Ihren Händen das Schreiben entgegen, mit dem Sie der Präsident der Bundesrepublik Deutschland als außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter Ihres Landes beim Heiligen Stuhl beglaubigt. Zugleich darf ich Sie bitten, dem Herrn Bundespräsidenten und dem Herrn Bundeskanzler meine herzlichen Grüße übermitteln zu wollen. Zu Ihrem Amtsantritt heiße ich Sie herzlich willkommen und erbitte Ihnen für Ihre ehren- und verantwortungsvolle Aufgabe Gottes Segen.

2. Während der letzten Wochen haben wir des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa vor 50 Jahren gedacht. Dies war ein Einschnitt nicht nur in die Geschichte Deutschlands, sondern in die Weltgeschichte überhaupt. Das Kriegsende traf Täter und Opfer, Schuldige und Unschuldige in gleicher Weise. Viele Menschen konnten sich eine neue Existenz aufbauen, andere aber gerieten östlich der Elbe erneut in die Fänge eines anderen totalitären Systems, von dem sich erst ihre Kinder befreien konnten. Denn ”das Ende des Krieges hat leider nicht zum Verschwinden der Politik und der Ideologien geführt, die den Boden für ihn bereitet bzw. ihm Vorschub geleistet hatten. Anders ausgedrückt, totalitäre Regime bestanden fort und breiteten sich, vor allem in Osteuropa, sogar noch weiter aus“ (vgl. Johannes Paul II.: Botschaft zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, 8. Mai 1995).

Für die Mehrheit Ihrer Landsleute ist die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ein Rückblick auf ein nur historisches Datum vor der eigentlichen Gründung Ihres Staatswesens. Und dennoch war es ein Tag der Trauer um die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Es war auch ein Tag des Dankes für die Möglichkeit, den Frieden in Freiheit zu gestalten. Es war aber ebenso Anlass, sich neu der Verantwortung und der Verpflichtung zu Wachsamkeit gegenüber der Achtung der Würde des Menschen bewusst zu werden.

Gerade weil die Erfahrungen des Krieges und all der Schreckenserlebnisse, die damit verbunden waren, nicht beim Jahre 1945 stehen blieben, Krieg und Gewalt vielmehr für unser Jahrhundert bis heute kennzeichnend sind, das als Jahrhundert der Kriege in die Geschichte eingehen wird, müssen wir je neu gegen den Geist der Unmenschlichkeit ankämpfen. Der offene und unmissverständliche Einsatz für die Menschenrechte ist unser aller Verpflichtung.

3. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute ein weltweit angesehener und gesuchter Partner. Ihre Regierung spielt eine entscheidende Rolle im europäischen Einigungsprozess. Sie ist in der Lage, diese Rolle überzeugend auszuüben, da die demokratischen Institutionen Ihres Landes stabil sind und die Bürger sich in ihrer überwältigenden Mehrheit zu ihnen bekennen. Auch weil Deutschland sich seiner eigenen Geschichte bewusst ist, ist es sensibel gegenüber Unrecht und Missachtung der Menschenwürde.

In der Tat scheint es ein zunehmendes Symptom in allen modernen Demokratien zu sein, da eine spontane Neigung zu Gewaltbereitschaft mit politisch gewollter und organisierter Gewalt zusammentrifft und zu einer Gefahr für den inneren Frieden werden kann. Es reicht sicherlich nicht aus, allgemeine Appelle zu erlassen und zum Lernen aus der Geschichte aufzufordern. Gefordert ist vielmehr konkrete Versöhnungsarbeit, die der eigenen Person gegenüber und den anderen nicht einfach das Vergangene aufrechnet, sondern hilft, gegenseitige Vorurteile abzubauen und an einer gemeinsamen europäischen Zukunft mitzuwirken.

4. Diese Zukunft aber braucht ein geistiges und ideelles Fundament, dessen Wiedergewinnung sich in vielen Gesellschaften als schwierig erweist, da sich dort fast alle Tabus aufgelöst haben, wo fast alles gleichgültig geworden ist und wo manche Jugendliche den Eindruck haben, sie könnten dadurch am wirksamsten auf sich aufmerksam machen, wenn sie alle Hemmschwellen überschreiten und Brutalität um ihrer selbst willen üben. Wie soll darüber hinaus eine Gesellschaft ein geistiges Fundament erlangen, wenn ihr innerer Friede weitgehend nur auf materiellem Wohlstand beruht?

Die Zunahme spontaner Gewaltbereitschaft in vielen Gesellschaften zeigt, da die Sozialisation vieler heranwachsender junger Menschen sich schwierig gestaltet. Die individuellen Ansprüche sind oft darauf ausgerichtet, alles möglichst sofort und alles darüber hinaus zusammen zu wollen. Von einem solchen Standpunkt aus ist jener Schritt nicht groß, sich das Gewünschte notfalls auch mit Gewalt zu holen und lästig erscheinende Hindernisse zu beseitigen, selbst dann, wenn es sich dabei um Menschen handelt.

Ferner ist festzuhalten, dass Konflikte im eigenen Land zunehmend auf fremdes Territorium übertragen werden. Terroranschläge im fremden Land dienen oft nur dem Versuch der Durchsetzung von Zielen im eigenen.

Deshalb ist es die Aufgabe aller Demokraten, den freiheitlichen Rechtsstaat mit allen zur Verfügung stehenden legalen Mitteln zu verteidigen und jedem Verfall der Grundwerte entgegenzuwirken beziehungsweise alles zu ihrer Wiederherstellung und Stabilisierung zu unternehmen. Ohne die Anerkennung und Praktizierung dieser Grundwerte würden die Freiheit und die Menschenwürde verlorengehen. Die Christen haben beim Aufbau und beim Erhalt einer auf Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit basierenden Grundordnung eine herausragende Rolle.

5. Wesentliche Aufgabe der Christen ist es, eine Kultur des Lebens und der Liebe aufzubauen. Denn ”im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen Kampf zwischen der "Kultur des Lebens" und der "Kultur des Todes" gekennzeichnet ist, muss man einen starken kritischen Geist zum Reifen bringen, der die wahren Werte und die echten Erfordernisse zu erkennen in der Lage ist.“ Ja, ”wir müssen alle zusammen eine neue Kultur des Lebens aufbauen: neu, weil sie in der Lage sein muss, die heute neu anstehenden Probleme in bezug auf das Leben des Menschen aufzugreifen und zu lösen; neu, weil sie eben mit stärkerer und tätiger Überzeugung von seiten aller Christen aufgebaut werden muss“ (Evangelium Vitae, 95). Dieser letzte Aspekt eines gemeinsam von allen Christen getragenen Lebenszeugnisses gegenüber einer Welt, die dem dritten christlichen Jahrtausend entgegengeht, liegt mir in besonderer Weise am Herzen. Denn vor den Augen der Welt muss ”die Zusammenarbeit unter den Christen die Dimension des gemeinsamen christlichen Zeugnisses“ annehmen (Ut Unum Sint, 40).

Diese Welt darf sich nicht weiter belügen und deformieren. Die Wahrheit darf dabei nie aus dem Blick verloren werden; sie ist letztlich von Gott selbst geoffenbart. Das Leben des Menschen und die Wahrheit über das Leben werden allzu stark bedroht vom Säkularismus, dem Indifferentismus, dem Individualimus, dem hedonistischen Konsumdenken und dem praktischen Materialismus.
Leben geht zwar zunächst auf den einzelnen, auf die eigene Suche nach Sinn, aber es ist zugleich eine Aufgabe der Gesamtkultur, den Blick für einen allumfassenden Daseinssinn offenzuhalten. Der Mensch kann nie eine rätselhafte Fehlkonstruktion sein, und vom Sinnlosen wird sich letztlich niemand nähren können. Während in den ehemals kommunistischen Ländern der verordnete Sinnhorizont des Kollektivs weggebrochen ist, laufen die Menschen im Westen Gefahr, Opfer eines Individualismus mit sich überschlagender Freiheit zu werden. In einer solchen Situation ist es notwendig, die Werte wiederzugewinnen, die sich aus einem unverfügbaren Sinn erhellen, die uns nicht nur auf uns selbst oder in das Nichts wenden, sondern auf das Gute und den Guten als unzerstörbare Mächtigkeit, auf das in sich aufgerichtete und aufrichtige Leben. Dies impliziert, da menschliches Leben in jeder Phase geachtet wird: das kindliche, das alte, das erwünschte und das vielleicht unerwünschte.

Es ist letztlich das Menschenbild, das die Art des alltäglichen und politischen Handelns charakterisiert.

6. Ein Wertebewusstsein ist durchaus vorhanden in den Gesellschaften, auch in derjenigen der Bundesrepublik, wenn ich an die große Bereitschaft zur Solidarität und solidarischem Handeln Menschen gegenüber denke, die in Not sind und Hilfe brauchen. Nicht nur kirchliche Organisationen gehen hier mit gutem Beispiel voran, auch Ihre Regierung, sehr geehrter Herr Botschafter, setzt durch umfangreiche Hilfsmaßnahmen in den letzten Jahrzehnten positive Zeichen. Besonders darf ich hier den Einsatz der Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf internationaler und bilateraler Ebene zur Überwindung der Verschuldungsprobleme der ärmsten Entwicklungsländer erwähnen. Vor allem auch dank Ihrer Regierung konnte eine substantielle Verbesserung der Umschuldungskonditionen erreicht werden.
Die soziale Bereitschaft und Verpflichtung Ihrer Regierung nach innen und nach außen ist stark getragen vom Subsidiaritätsprinzip, einem zentralen, auch europapolitischen Anliegen Ihrer Regierung, wie sich aus der ausdrücklichen Verankerung des Prinzips in den Maastrichter Verträgen ersehen lässt.

7. Abschließend darf ich meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Heiligen Stuhl, die Sie in Ihrer Ansprache zu Recht betont haben, sich weiter harmonisch entwickeln. Die fruchtbare Beziehung zwischen Staat und Kirche, die in großer Verantwortung von beiden Seiten wahrgenommen wird, stellt hierfür eine zuverlässige Voraussetzung dar. Ihnen, Herr Botschafter, Ihren geschätzten Mitarbeitern in der Botschaft und nicht zuletzt Ihrer werten Familie erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.


*Insegnamenti di Giovanni Paolo II, vol. XVIII, 1 p.1715-1720.

L’Osservatore Romano 13.6.1995 p.4.

 

© Copyright 1995 - Libreria Editrice Vaticana

 



Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana