ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE TEILNEHMER DER KONFERENZ DER PARLAMENTSPRÄSIDENTEN DER MITGLIEDSSTAATEN
DER EUROPÄISCHEN UNION
Samstag, 23. September 2000
Frau Präsidentin des Europäischen Parlaments,
meine Damen und Herren Parlamentspräsidenten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union!
1. Es ist mir eine Freude, Sie hier im Vatikan willkommen zu heißen, an einem von Anfang an mit den großen Etappen des Lebens des europäischen Kontinentes verbundenen Ort. Mein ehrerbietiger Gruß gilt Herrn Senator Nicola Mancino, Präsident des italienischen Senats, der sich zu Ihrem Sprecher gemacht hat; ich danke ihm für die liebenswürdigen Worte, die er in Ihrem Namen ausgesprochen hat.
Ihre Konferenz ist eine hochbedeutsame Kundgebung des europäischen Einigungsprozesses, der in diesen letzten Jahren neue Vorstöße gekannt hat. In dem zu Ende gehenden Jahrhundert haben wir – meine Vorgänger und ich – es nicht an unserer Unterstützung zur Verwirklichung des großen Vorhabens der Annäherung und Zusammenarbeit der Staaten und Völker Europas fehlen lassen.
2. Sie selbst, die Sie den repräsentativen gesetzgebenden Instanzen Ihrer Völker vorstehen, sind Zeugen der eng zusammenlaufenden Übereinstimmung, die zwischen den Interessen Ihrer jeweiligen Länder und denen der weiterverbreiteten Einheit, die Europa gestaltet, zutage tritt. Mit Zufriedenheit stelle ich fest, daß die Union neue Mitgliedsstaaten aufnehmen will und gegenüber der Zukunft eine Haltung der Offenheit und Flexibilität einnimmt. Die Europäische Union bleibt ein kreativer Bauplatz; und das ist die beste Garantie für ihren Erfolg im Hinblick auf das größere Wohl ihrer Bürger, deren kulturelle Verschiedenheit zu bewahren sie sich ebenso verpflichtet wie die Werte und Grundsätze zu verbürgen, denen die Gründerväter sich verbunden wußten und die ihr gemeinsames Erbe bilden.
Entsprechend dem Geist, der ihr eigen ist, hat die Europäische Union bereits gemeinsame Institutionen entwickelt, insbesondere ein System von Ausgleichsmechanismen der Kontrollgewalten, die eine Garantie für die Demokratie sind. Es ist wohl an der Zeit, die Synthese dieser Errungenschaften in eine vereinfachte und zugleich stärkere Struktur zu fassen. Die Europäische Union wird gewiß die richtige Formel zu finden wissen, um die Erwartungen ihrer Bürger zufriedenzustellen und den Dienst am Gemeinwohl zu gewährleisten.
3. In der Soziallehre der katholischen Kirche, die aus der biblischen Offenbarung und dem Naturrecht schöpft, erstreckt sich der Begriff Gemeinwohl auf alle Ebenen, auf denen die menschliche Gesellschaft organisiert ist. Es gibt ein nationales Gemeinwohl, in dessen Dienst die Institutionen eines Staates gestellt sind. Aber es gibt auch – und wer könnte das leugnen zum Zeitpunkt gegenseitiger Durchdringung der Wirtschaften und des Austausches in Europa und weiterhin der Welt? – ein kontinentales und sogar universales Gemeinwohl. Europa ist im Begriff, sich der Dimensionen des europäischen Gemeinwohls immer besser bewußt zu werden: gemeint ist damit die Gesamtheit der Initiativen und Werte, die die europäischen Länder gemeinsam verfolgen und verteidigen müssen, wenn sie in angemessener Weise auf die Bedürfnisse ihrer Bürger antworten wollen.
Wenn die Europäische Union eine formelle Verfassung annehmen sollte, wird sie veranlaßt sein, eine Wahl zu treffen hinsichtlich der Art des Systems, das sie bevorzugen möchte. Zwischen verschiedenen Systemen ist ein Kompromiß möglich. Die Kirche ist der Ansicht, daß es bei Regierungssystemen auf die Mentalität der Völker, ihre Geschichte und ihre Zielsetzungen ankommt. Sie betont indes, daß alle Systeme den Dienst am Gemeinwohl zum Ziel haben müssen. Darüber hinaus muß jedwedes System, der Versuchung widerstehend, sich egoistisch in sich selbst abzukapseln, auch offen sein für andere Staaten des Kontinents, die mit dieser Europäischen Union zusammenarbeiten wollen, um ihr die größtmögliche Ausdehnung zu geben.
Ich kann mich nur freuen, wenn ich sehe, daß man sich immer mehr auf das fruchtbare Subsidiaritätsprinzip beruft. Eingeführt von meinem Vorgänger Pius XI. in seiner berühmten Enzyklika Quadragesimo anno im Jahr 1931, ist dieses Prinzip einer der Pfeiler der ganzen Soziallehre der Kirche. Es ist eine Einladung, die Zuständigkeiten unter den verschiedenen Ebenen politischer Organisation einer gegebenen Gemeinschaft – z. B. regional, national, europäisch – so aufzuteilen, daß nur solche an eine höhere Ebene übertragen werden, welche die niedrigere Ebene nicht in der Lage ist, im Dienst am Gemeinwohl zu bewältigen.
4. Die Verteidigung der Menschenrechte gehört zu den unaufgebbaren Erfordernissen des Gemeinwohls. Die Europäische Gemeinschaft hat sich an die schwierige Aufgabe gemacht, eine »Charta der Grundrechte« zu erstellen in einem Geist der Öffnung und Aufmerksamkeit für die Vorschläge von Vereinigungen und Bürgern. Schon 1950 hatten die Gründerländer des Europarates die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten angenommen, der 1961 die europäische Sozialcharta folgte. Die Erklärungen von Rechten umgrenzen in gewissem Sinn den unantastbaren Bereich, von dem die Gesellschaft sich bewußt ist, daß er nicht dem Spiel menschlicher Macht unterworfen sein kann. Mehr noch, die Macht erkennt ihre Bestimmung an, diesen Bereich zu schützen, dessen Schwerpunkt der Mensch als Person ist. Somit anerkennt die Gesellschaft, daß sie im Dienst der Person steht in ihrem natürlichen Streben, sich selbst zu verwirklichen als personales und zugleich soziales Wesen. Dieses in ihre Natur eingeschriebene Streben begründet dementsprechende, der Person zugehörige Rechte wie das Recht auf Leben, auf physische und psychische Unversehrtheit, auf Gewissens-, Gedanken- und Religionsfreiheit.
Bei der Annahme dieser neuen Charta – wie auch immer ihre künftige Benennung lautet – wird die Europäische Union nicht vergessen dürfen, daß sie die Wiege der Idee von der Person und von der Freiheit ist und daß diese Gedanken auf ihre lange Prägung durch das Christentum zurückgehen. Nach Vorstellung der Kirche ist die Person untrennbar von der menschlichen Gesellschaft, in der sie sich entwickelt. Gott hat den Menschen erschaffen und ihn in eine Ordnung von Beziehungen hineingestellt, die ihm gestatten, sein Sein zu verwirklichen. Diese Ordnung nennen wir die natürliche Ordnung. Der Vernunft kommt es zu, sie immer klarer zu erforschen. Menschenrechte können keine der Natur des Menschen zuwiderlaufende Forderungen sein. Sie können nur aus ihr hervorgehen.
5. Möge die Europäische Union ein neues Aufflammen der Menschlichkeit erleben! Möge sie den nötigen Konsens gewinnen können, um den Schutz des Lebens, die Achtung vor dem anderen, gegenseitigen Dienst und Brüderlichkeit, die niemanden ausschließt, unter ihre höchsten Ideale zu schreiben. Jedesmal wenn Europa die großen Grundlagen seiner Sicht der Welt aus seinen christlichen Wurzeln schöpft, weiß es, daß es seiner Zukunft mit Gelassenheit entgegentreten kann.
Auf Sie, Ihre Familien und auf die Völker und Nationen, die Sie vertreten, rufe ich von ganzem Herzen den Segen des Allmächtigen herab.
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