APOSTOLISCHE REISE NACH RIO DE JANEIRO
ANLÄSSLICH DES WELTTREFFENS DER FAMILIEN (2.-6. OKTOBER 1997)
EUCHARISTIEFEIER ZUM ABSCHLUSS DES
II. WELTFAMILIENTREFFENS
Gelobt sei Jesus Christus!
1.»Der Herr segne uns alle Tage unseres Lebens« (Antwortpsalm, vgl. Ps 128 [127], 5).
Ich danke Gott, daß er mir gewährt hat, mich erneut mit euch zu treffen, Familien der ganzen Welt, um feierlich zu bestätigen, daß ihr »die Hoffnung der Menschheit« seid!
Das erste Welttreffen mit den Familien fand 1994 in Rom statt. Das zweite hat heute seinen Abschluß in Rio de Janeiro. Herzlich danke ich Kardinal Eugenio de Araujo Sales für seine Einladung, wie ich auch allen Bischöfen und brasilianischen Obrigkeiten danke, die zum Erfolg dieses großen Ereignisses beigetragen haben. Wir sind hier aus verschiedenen Ländern und aus verschiedenen Kirchen zusammengekommen, nicht nur aus Brasilien und Lateinamerika, sondern aus allen Kontinenten, um alle zusammen dieses Gebet zu Gott zu erheben: »Der Herr segne uns alle Tage unseres Lebens!«
In der Tat ist die Familie ja die besondere und zugleich grundlegende Liebes- und Lebensgemeinschaft, auf der alle übrigen Gemeinschaften und Gesellschaften beruhen. Wenn wir darum den Segen des Höchsten für die Familien erflehen, bitten wir zugleich für alle diese großen Gemeinschaften, die wir vertreten. Wir bitten für die Zukunft der Völker und Staaten wie auch für die Zukunft der Kirche und der Welt.
Durch die Familie ist in der Tat die ganze menschliche Existenz auf die Zukunft hin orientiert. In der Familie kommt der Mensch zur Welt, wächst er auf und kommt er zur Reife. In ihr wird er zu einem immer reiferen Bürger seines Landes und einem immer bewußteren Glied der Kirche. Die Familie ist auch die erste und grundlegende Umwelt, in der jeder Mensch seine menschliche und christliche Berufung wahrnimmt und verwirklicht. Kurz, die Familie ist eine Gemeinschaft, die durch keine andere zu ersetzen ist. Das wird auch in den Lesungen der heutigen Liturgiefeier sichtbar.
2.Vor dem Messias erscheinen die Vertreter der jüdischen Orthodoxie, die Pharisäer, um ihn zu fragen, ob es dem Mann erlaubt ist, seine Frau aus der Ehe zu entlassen. Christus seinerseits fragt, was Mose vorgeschrieben hat. Sie antworten, daß Mose erlaubt hat, eine Scheidungsurkunde auszustellen und die Frau aus der Ehe zu entlassen. Aber Christus sagt zu ihnen: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen!« (Mk 10, 5-9).
Christus bezieht sich auf den Anfang. Diesen Anfang enthält das Buch Genesis, worin die Erschaffung des Menschen beschrieben wird. Wie wir im ersten Kapitel dieses Buches lesen, erschuf Gott den Menschen als sein Abbild, als Mann und Frau schuf er sie (vgl. Gen 1,27), und er sprach zu ihnen: »Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1,28). Nach dem zweiten Schöpfungsbericht, den uns die erste Lesung der heutigen Liturgie bietet, wurde die Frau aus dem Mann erschaffen. So sagt die Schrift: »Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen; vom Mann ist sie genommen. Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen 2,21-24).
3. Die Sprache bedient sich der anthropologischen Kategorien der alten Welt, aber sie ist von außerordentlicher Tiefe: auf ganz außergewöhnliche Weise drückt sie die wesentlichen Wahrheiten aus. Alles, was durch menschliche Reflexion und wissenschaftliche Erkenntnis später entdeckt wurde, hat nur bestätigen können, was hier schon in der Wurzel vorhanden war.
Das Buch Genesis zeigt vor allem die kosmische Dimension der Schöpfung auf. Das Erscheinen des Menschen geschieht innerhalb des ungeheuren kosmischen Horizonts der gesamten Schöpfung: Nicht durch Zufall findet es am letzten Tag der Erschaffung der Welt statt. Der Mensch tritt in das Werk des Schöpfers in dem Augenblick ein, in welchem alle Vorbedingungen für seine Existenz gegeben sind. Der Mensch ist eines der sichtbaren Geschöpfe; gleichzeitig aber heißt es in der Heiligen Schrift, daß nur er »als Abbild Gottes« erschaffen wurde. Diese wunderbare Verbindung von Körper und Geist bildet etwas endgültig Neues im Schöpfungsprozeß. Mit dem menschlichen Sein öffnet sich die ganze Pracht der sichtbaren Schöpfung für die Dimension des Geistigen. Verstand und Wille, Erkenntnis und Liebe - das alles tritt im Augenblick der Erschaffung des Menschen in den sichtbaren Kosmos ein. Und gerade dadurch wird von Anfang an offenkundig, daß das körperliche und das geistige Leben einander durchdringen. So verläßt der Mann seinen Vater und seine Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein einziges Fleisch. Dieses eheliche Einswerden ist zugleich im Erkennen und in der Liebe verwurzelt, das heißt in der geistigen Dimension.
Das Buch Genesis sagt das alles in einer ihm eigenen Sprache, die zugleich wunderbar einfach und erschöpfend ist. Der Mann und die Frau, die zum Leben im kosmischen Schöpfungsprozeß berufen sind, erscheinen an der Schwelle ihrer Berufung als Träger der Zeugungsfähigkeit im Zusammenwirken mit Gott, der unmittelbar die Seele jedes neuen Menschenwesens erschafft. In gegenseitiger Erkenntnis und Liebe und gleichzeitig durch die körperliche Vereinigung werden sie Wesen ins Leben rufen, die ihnen ähnlich sind und die, ebenso wie sie selbst, als »Abbild Gottes« geschaffen sind. Sie werden das Leben an ihre eigenen Kinder weitergeben, wie sie selbst es von ihren Eltern empfangen haben. Das ist die einfache und zugleich großartige Wahrheit über die Familie, wie sie sich aus den Seiten des Buches Genesis und des Evangeliums ergibt: Nach dem Plan Gottes ist die Ehe - die unauflösliche Ehe - das Fundament einer gesunden und verantwortlichen Familie.
4. Mit wenigen, aber einprägsamen Zügen beschreibt Christus im Evangelium den ursprünglichen Plan des Schöpfergottes. Auch die in der zweiten Lesung verkündete Stelle aus dem Brief an die Hebräer berichtet: »Es war angemessen, daß Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete. Jesus, der heiligt, und die Menschen, die geheiligt werden, stammen alle von Einem ab« (vgl. Hebr 2,10-11). Die Erschaffung des Menschen hat also ihr Fundament im ewigen Wort Gottes. Gott rief alles ins Dasein durch das Wirken des Wortes, des ewigen Sohnes, durch den alles erschaffen wurde. Auch der Mensch wurde durch dieses Wort erschaffen, und er wurde als Mann und Frau erschaffen. Der Ehebund hat seinen Ursprung im ewigen Wort Gottes. In Ihm wurde die Familie erschaffen. In Ihm wurde die Familie von Ewigkeit her in den Gedanken Gottes ersonnen, bedacht und verwirklicht. Durch Christus erhält sie ihren sakramentalen Charakter, ihre Heiligung.
Der Text des Briefes an die Hebräer erinnert daran, daß die Heiligung der Ehe, wie die jeder anderen menschlichen Wirklichkeit, durch Christus geschah, um den Preis seines Leidens und seines Kreuzes. Er offenbart sich hier als der neue Adam. Wenn es gewiß ist, daß wir der Ordnung der Natur nach alle von Adam abstammen, so geht uns allen in der Ordnung der Gnade und der Heiligung Christus voraus. Die Heiligung der Familie hat ihre Quelle im sakramentalen Charakter der Ehe.
Er, der heiligt - das ist Christus -, und alle, die geheiligt werden sollen - ihr, Väter und Mütter, ihr, Familien -, stellt euch gemeinsam dem Vater vor mit dieser inständigen Bitte, daß er das segnen möge, was er im Sakrament der Ehe in euch gewirkt hat. In dieses Gebet sind alle Eheleute und alle Familien eingeschlossen, die auf der Erde leben. Gott, der einzige Schöpfer des Alls, ist ja die Quelle des Lebens und der Heiligkeit.
5. Eltern und Familien der ganzen Welt, laßt mich euch sagen: Gott beruft euch zur Heiligkeit! Er selbst hat uns in Christus »erwählt vor der Erschaffung der Welt« - sagt uns der hl. Paulus -, »damit wir heilig und untadelig leben vor Gott« (Eph 11,4). Er liebt euch über die Maßen, er will euer Glück. Aber er will, daß ihr immer das Treusein mit dem Frohsein zu verbinden wißt, denn das eine kann man nicht ohne das andere haben. Laßt nicht zu, daß eine hedonistische Mentalität, ehrgeizige Bestrebungen und Egoismus in euer Heim eindringen. Seid Gott gegenüber großmütig. Ich kann nicht umhin, noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß die Familie »in ihrem Sein und Handeln als innige Liebes- und Lebensgemeinschaft im Dienst an Kirche und Gesellschaft steht« (vgl. Familiaris consortio, 50). Die von Gott gesegnete, von Glauben, Hoffnung und Liebe erfüllte gegenseitige Hingabe wird beide Ehegatten zur Vollkommenheit und gegenseitigen Heiligung gelangen lassen. Sie wird, mit anderen Worten, der Kern für die Heiligung der eigenen Familie sein und der Ausbreitung des Evangelisierungswerkes in jedem christlichen Haus dienen.
Liebe Brüder und Schwestern, was für eine große Aufgabe habt ihr vor euch! Ihr sollt Frieden und Freude mitten in die Familie hineintragen. Die Gnade erhöht und vervollkommnet die Liebe, und mit ihr verleiht sie euch die notwendigen Familientugenden: Demut, Dienst- und Opferbereitschaft, Eltern- und Kindesliebe, Ehrerbietung und gegenseitiges Verstehen. Und da ja das Gute sich ausbreiten will, so ist es auch mein Wunsch, daß euer Anschluß an die Familienpastoral euch, soweit immer möglich, dazu ansporne, großzügig die Gabe, die in euch ist, weiterzuschenken, zuerst an eure Kinder, dann an solche Familien - vielleicht Verwandte oder Freunde -, die Gott fernstehen oder die gerade Zeiten des Unverstandenseins oder des Zweifels durchmachen. Auf dem Weg zum Jubiläum des Jahres 2000 lade ich alle, die mich hören, ein zu dieser Stärkung des Glaubens und des Zeugnisses als Christen, damit es durch die Gnade Gottes eine wirkliche Umkehr und persönliche Erneuerung im Schoß der Familien der ganzen Welt gebe (vgl. Tertio Millennio adveniente, 42). Möge der Geist der Heiligen Familie von Nazaret in allen christlichen Familien herrschen!
Familien Brasiliens, Lateinamerikas und der ganzen Welt, der Papst und die Kirche setzen ihre Zuversicht in euch. Habt Vertrauen: Gott ist mit uns!
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