ENZYKLIKA
DES HEILIGEN VATERS PAPST
PAUL VI.
ÜBER DIE ENTWICKLUNG DER VÖLKER
Einleitung
WELTWEITE AUSMASSE DER SOZIALEN FRAGE
1. Die Entwicklung der Völker wird von der Kirche aufmerksam verfolgt: vor allem derer, die dem Hunger, dem Elend, den herrschenden Krankheiten, der Unwissenheit zu entrinnen suchen; derer, die umfassender an den Früchten der Zivilisation teilnehmen und ihre Begabung wirksamer zur Geltung bringen wollen, die entschieden ihre vollere Entfaltung erstreben. Das Zweite Vatikanische Konzil wurde vor kurzem abgeschlossen. Seither steht das, was das Evangelium in dieser Frage fordert, klarer und lebendiger im Bewußtsein der Kirche. Es ist ihre Pflicht, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen zu helfen, dieses schwere Problem in seiner ganzen Breite anzupacken, und sie in diesem entscheidenden Augenblick der Menschheitsgeschichte von der Dringlichkeit gemeinsamen Handelns zu überzeugen.
2. In ihren großen Enzykliken Rerum novarum Leos XIII. (2), Quadragesimo anno Pius' XI. (3) - nicht zu sprechen von den Botschaften, die Pius XII. (4) durch den Rundfunk an alle Völker gerichtet hat3 -, Mater et magistra (5) und Pacem in terris (6) Johannes' XXIII. haben sich Unsere Vorgänger der Pflicht ihres Amtes, die soziale Frage ihre Zeit im Licht des Evangeliums zu erhellen, nicht entzogen.
3. Heute ist - darüber müssen sich alle klar sein - die soziale Frage weltweit geworden. Johannes XXIII. hat dies deutlich ausgesprochen (7), und das Konzil hat es in der pastoralen Konstitution über Die Kirche in der Welt von heute (8) bestätigt. Die darin enthaltene Lehre ist gewichtig, ihre Verwirklichung drängt. Die Völker, die Hunger leiden, bitten die Völker, die im Wohlstand leben, dringend und inständig um Hilfe. Die Kirche erzittert vor diesem Schrei der Angst und wendet sich an jeden einzelnen, dem Hilferuf seines Bruders in Liebe zu antworten.
4. Bevor Uns die Leitung der katholischen Kirche anvertraut wurde, haben Uns zwei Reisen, die eine nach Lateinamerika (1960), die andere nach Afrika (1962), in unmittelbare Berührung mit den beängstigenden Problemen gebracht, die jene Kontinente, die an sich reich sind an unverbrauchten körperlichen und geistigen Kräften, bedrängen und geradezu einschnüren. Erhoben zu dem Amt, dem die väterliche Sorge um alle Menschen obliegt, konnten Wir anläßlich der Reisen ins Heilige Land und nach Indien die ungeheuren Schwierigkeiten sehen und gleichsam mit unseren Händen greifen, mit denen sich jene Völker einer alten Kultur auseinanderzusetzen haben, um die Entwicklung ihrer Verhältnisse zu erlangen. Schließlich ergab sich gegen Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils für Uns durch Gottes Fügung die Gelegenheit, Uns an die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu wenden. Wir haben Uns vor diesem weltweiten Forum zum Anwalt der armen Völker gemacht.
5. Erst jüngst haben Wir schließlich in dem Bestreben, den Wünschen des Konzils zu entsprechen und zugleich dem Interesse des Apostolischen Stuhles an der großen und gerechten Sache der Entwicklungsländer Ausdruck zu geben, es für Unsere Pflicht erachtet, die Behörden der Römischen Kurie durch eine Päpstliche Kommission zu ergänzen, deren Aufgabe es sein soll, "im ganzen Volk Gottes die Einsicht zu wecken, welche Aufgaben die Gegenwart von ihm fordert: die Entwicklung der armen Völker vorantreiben, die soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen fördern; den weniger entwickelten Nationen zu helfen, daß sie selbst und für sich selbst an ihrem Fortschritt arbeiten können (9)". "Gerechtigkeit und Friede" ist Name und Programm dieser Kommission. Wir zweifeln nicht daran, daß sich mit Unseren katholischen Söhnen und den christlichen Brüdern alle Menschen guten Willens vereinen werden, um diese Vorhaben in die Tat umzusetzen. Deshalb richten Wir heute an alle diesen feierlichen Aufruf zu gemeinsamem Werk in Fragen der Entwicklung, einer umfassenden für jeden Menschen, einer solidarischen für die Menschheit.
Erster Teil
UMFASSENDE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN
1. Das Problem
6. Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts, Gesundheit, feste Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch verletzen, ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort: mehr arbeiten, mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten. Das ist die Sehnsucht des Menschen von heute, und doch ist eine große Zahl von ihnen dazu verurteilt, unter Bedingungen zu leben, die dieses Verlangen illusorisch machen. Überdies empfinden viele Völker, die erst vor kurzem ihre nationale Selbständigkeit erlangt haben, die Notwendigkeit, daß zu der erlangten bürgerlichen Freiheit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hinzukomme, um ihren Bürgern eine volle menschliche Entfaltung zu sichern und somit einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Völker zu erlangen.
7. Vor dem Umfang und der Dringlichkeit dieser Aufgabe sind die bisherigen Mittel unzureichend; aber sie waren nicht schlechthin falsch. Man wird sicher zugeben müssen, daß die Kolonialmächte häufig ihre eigenen Interessen verfolgt haben, ihre Machtstellung, ihr Ansehen, und daß ihr Abzug manchmal eine verwundbare wirtschaftliche Situation hinterlassen hat, die z.B. an den Ertrag einer Monokultur gebunden war, deren Erzeugnisse jähen und breiten Preisschwankungen ausgesetzt sind. Man kann sicherlich manche Übelstände eines sogenannten Kolonialismus und seine Folgen nicht leugnen. Trotzdem darf man auch die Tüchtigkeit und das Werk mancher Kolonisatoren rühmend erwähnen, die so manchem bettelarmen Land ihr Wissen und ihr Können zur Verfügung gestellt und gesegnete Früchte ihres Wirkens hinterlassen haben. So unvollkommen auch die damals geschaffenen Einrichtungen sein mögen, sie haben die Unwissenheit und die Krankheit zurückgedrängt, neue Verbindungswege eröffnet und die Lebenslage verbessert.
8. Dies alles zugegeben, ist es trotzdem einleuchtend, daß diese Einrichtungen schlechthin unzureichend sind, um der schwierigen wirtschaftlichen Situation in unseren Tagen zu steuern. Wenn nämlich die Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, nicht genutzt werden, so führt dies notwendig zur Verschärfung der Ungleichheiten, nicht zur Entspannung, zum Mißverhältnis im Lebensstandard: die reichen Völker erfreuen sich eines raschen Wachstums, bei den armen geht es nur langsam voran. Die Störung des Gleichgewichts wird bedrohlicher: die einen erzeugen Nahrungsmittel in Überfluß, während andere daran jämmerlichen Mangel leiden oder für ihren geringfügigen Überschuß keine gesicherten Absatzmöglichkeiten haben.
9. Gleichzeitig haben die sozialen Konflikte weltweites Ausmaß angenommen. Unruhen, die die ärmeren Bevölkerungsklassen während der Entwicklung ihres Landes zum Industriestaat erfaßt haben, greifen auch auf Länder über, deren Wirtschaft noch fast rein agrarisch ist. Auch die ländliche Bevölkerung wird sich so heute ihrer "elenden und unheilvollen Verhältnisse" bewußt (10). Und zu allem kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt "fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind (11)".
10. Ein weiterer Punkt: das Aufeinanderprallen der überlieferten Kulturen mit der neuen industriellen Welt zerbricht die Strukturen, die sich nicht den neuen Gegebenheiten anpassen. Ihr Gefüge, manchmal sehr starr, war der notwendige Halt für das Leben des einzelnen wie der Familie. Die Älteren halten noch daran fest, die Jungen entziehen sich ihnen als einem unnützen Hindernis und wenden sich begierig den neuen Formen sozialen Lebens zu. Der Konflikt der Generationen verschärft sich so zu einem tragischen Dilemma: entweder die Gebräuche und Überzeugung der Väter bewahren und auf den Fortschritt verzichten, oder sich der von außen kommenden Technik und Zivilisation öffnen und die Tradition mit ihrem ganzen menschlichen Reichtum hingeben. Und in der Tat: der sittliche, geistige, religiöse Halt von früher löst sich nur allzuoft auf, ohne daß die Eingliederung in die neue Welt genügend gesichert ist.
11. In dieser Verwirrung wächst die Versuchung, sich durch großtuerische, aber trügerische Versprechungen von Menschen verlocken zu lassen, die sich wie ein zweiter Messias aufspielen. Wer sieht nicht die daraus erwachsenden Gefahren: Zusammenrottung der Massen, Aufstände, Hineinschlittern in totalitäre Ideologien? Das sind die verschiedenen Gesichtspunkte des Problems, um das es geht, deren schwerwiegender Bedeutung, so meinen Wir, sich niemand entziehen kann.
2. Die Kirche und die Entwicklung
12. Treu der Weisung und dem Beispiel ihres göttlichen Stifters, der die Verkündigung der Frohbotschaft an die Armen als Zeichen für seine Sendung hingestellt hat (Vgl. Lk 7,22), hat sich die Kirche immer bemüht, die Völker, denen sie den Glauben an Christus brachte, zur menschlichen Entfaltung zu führen. Ihre Missionare haben neben Kirchen auch Hospize, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten gebaut. Sie haben die Eingeborenen gelehrt, die Hilfsquellen ihres Landes besser zu nutzen, und haben sie so nicht selten gegen die Gier der Fremden geschützt. Natürlich war auch ihr Werk, wie jegliches menschliche Werk, nicht vollkommen, und manche von ihnen mögen ihre heimische Denk- und Lebensweise mit der Verkündigung der eigentlichen Frohbotschaft verbunden haben. Trotzdem verstanden sie es, auch die dortigen Lebensformen zu pflegen und zu fordern Vielerorts gehören sie zu den Pionieren des materiellen Fortschritts und des kulturellen Aufstiegs; um nur ein Beispiel zu nennen: Charles de Foucauld, der um seiner Nächstenliebe willen "Bruder aller" genannt wurde und der ein wertvolles Lexikon der Sprache der Tuareg schuf. Sie alle sollen in Ehren erwähnt sein, die allzu oft Unbekannten, die Vorboten, die die Liebe Christi drängte, und die ihrem Beispiel und ihren Spuren gefolgt sind und noch heute in einem hochherzigen und selbstlosen Dienst bei denen ausharren, denen sie die Frohbotschaft bringen.
13. Aber diese Anstrengungen, die heute von einzelnen und Gruppen in jenen Ländern unternommen werden, genügen heute jedoch nicht mehr. Die gegenwärtige Situation der Welt verlangt ein gemeinsames Handeln, beginnend bereits mit einer klaren Konzeption auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet. Auf Grund ihrer Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft, geht es der Kirche, ohne sich in die staatlichen Belange einmischen zu wollen, "nur um dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben (Vgl. Joh 18,37); zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen (Vgl. Joh 3,17; Mt 20,28; Mk 10,45)" (12). Gegründet, um schon auf dieser Erde das Himmelreich aufzurichten, nicht um irdische Macht zu erringen, bezeugt sie ohne Zweideutigkeit, daß die beiden Bereiche voneinander verschieden sind, daß beide, die kirchliche und die staatliche Gewalt, die höchste ist in ihrer Ordnung (13). Aber, weil die Kirche wirklich unter den Menschen lebt, darum hat sie "die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten (14)". Sie teilt mit den Menschen deren bestes Streben, und leidet, wenn es nicht erfüllt wird. Sie möchte ihnen helfen, sich voll zu entfalten, und deswegen eröffnet sie ihnen das, was ihr allein eigen ist: eine umfassende Sicht des Menschen und des Menschentums.
14. Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit ,wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, sie muß jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben, wie ein Fachmann auf diesem Gebiet geschrieben hat: "Wir lehnen es ab, die Wirtschaft vom Menschlichen zu trennen, von der Entwicklung der Kultur, zu der sie gehört. Was für uns zählt, ist der Mensch, jeder Mensch, jede Gruppe von Menschen bis hin zur gesamten Menschheit (15)."
15. Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln, weil das Leben eines jeden Menschen von Gott zu irgendeiner Aufgabe bestimmt ist. Von Geburt an ist allen keimhaft eine Fülle von Fähigkeiten und Eigenschaften gegeben, die Frucht tragen sollen. Ihre Entfaltung, Ergebnis der Erziehung durch die Umwelt und persönlicher Anstrengung, gibt jedem die Möglichkeit, sich auf das Ziel auszurichten, das ihm sein Schöpfer gesetzt hat. Mit Verstand und freiem Willen begabt, ist der Mensch für seinen Fortschritt ebenso verantwortlich wie für sein Heil. Unterstützt, manchmal auch behindert durch seine Erzieher und seine Umwelt, ist jeder seines Glückes Schmied, seines Versagens Ursache, wie immer auch die Einflüsse sind, die auf ihn wirken. Jeder Mensch kann durch die Kräfte seines Geistes und seines Willens als Mensch wachsen, mehr wert sein, sich vervollkommnen.
16. Dieses Wachstum der menschlichen Persönlichkeit ist nicht dem freien Belieben des Menschen anheimgestellt. Wie die gesamte Schöpfung auf ihren Schöpfer hingeordnet ist, so ist auch das geistbegabte Geschöpf gehalten, von sich aus sein Leben auf Gott, die erste Wahrheit und das höchste Gut, auszurichten. Deshalb ist auch für uns die Entfaltung der menschlichen Person unsere oberste Pflicht. Mehr noch, dieser durch persönliche und verantwortungsbewußte Anstrengung zur Ausgewogenheit gekommene Mensch ist darüber hinaus zu einer höheren Würde berufen. Durch seine Eingliederung in den lebendigmachenden Christus gelangt er zu einer neuen Entfaltung, zu einem Humanismus jenseitiger, ganz anderer Art, der ihm die höchste Lebensfülle schenkt: das ist das letzte Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entfaltung.
17. Der Mensch ist aber auch Glied der Gemeinschaft. Er gehört zur ganzen Menschheit. Nicht nur dieser oder jener, alle Menschen sind aufgerufen, zur vollen Entwicklung der ganzen menschlichen Gesellschaft beizutragen. Die Kulturen entstehen, wachsen, vergehen. Aber wie jede Woge der steigenden Hut weiter als die vorhergehende den Strand überspült, schreitet auch die Menschheit auf dem Weg ihrer Geschichte voran. Erben unserer Väter und Beschenkte unserer Mitbürger, sind wir allen verpflichtet, und jene können uns nicht gleichgültig sein, die nach uns den Kreis der Menschheitsfamilie weiten. Die Solidarität aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vorteils mit sich, sondern auch Pflichten.
18. Die Entfaltung des einzelnen und der ganzen Menschheit wäre in Frage gestellt, wenn die wahre Hierarchie der Werte abgebaut würde. Da das Verlangen des Menschen, sich die notwendigen Güter zu beschaffen, berechtigt ist, folgt, daß die Arbeit, durch die wir jene Güter erlangen, zur Pflicht wird: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2 Thess 3,10)." Aber der Erwerb zeitlicher Güter kann zu maßloser Gier führen, zum Verlangen nach immer mehr Besitz und zum Streben nach immer größerer Macht. Die Habsucht der einzelnen, der Familien, der Völker kann die Armen und die Reichen packen und bei den einen wie den andern einen erstickenden Materialismus hervorrufen.
19. Mehr haben ist also weder für die Völker noch für den einzelnen das höchste Ziel. Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten. Es ist unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch werde, aber es sperrt ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt. Dann verhärtet sich das Herz, der Geist verschließt sich, die Menschen kennen keine Freundschaft mehr, sondern nur noch das eigene Interesse, das sie gegeneinander aufbringt und entzweit. Das ausschließliche Streben nach materiellen Gütern verhindert das innere Wachstum und steht seiner wahren menschlichen Größe entgegen. Sowohl die Völker als auch die einzelnen, die von der Habsucht infiziert sind, offenbaren deutlich eine moralische Unterentwicklung.
20. Die Entwicklungshilfe braucht immer mehr Techniker. Noch nötiger freilich hat sie weise Menschen mit tiefen Gedanken, die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heute sich selbst finden läßt, im Ja zu den hohen Werten der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung (16). Nur so kann sich die wahre Entwicklung voll und ganz erfüllen, die für den einzelnen, die für die Völker der Weg von weniger menschlichen zu Menschlicheren Lebensbedingungen ist.
21. Weniger menschlich: das sind die materiellen Nöte derer, denen das Existenzminimum fehlt; das ist die sittliche Not derer, die vom Egoismus zerfressen sind. Weniger menschlich: das sind die Züge der Gewalt, die im Mißbrauch des Besitzes oder der Macht ihren Grund haben, in der Ausbeutung der Arbeiter, in ungerechtem Geschäftsgebaren. Menschlicher: das ist der Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen, die Überwindung der sozialen Mißstände, die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung. Menschlicher: das ist das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, das Ausrichten auf den Geist der Armut (Vgl. Mt 5,3),, die Zusammenarbeit zum Wohle aller, der Wille zum Frieden. Menschlicher: das ist die Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles. Menschlicher: das ist endlich vor allem der Glaube, Gottes Gabe, angenommen durch des Menschen guten Willen, und die Einheit in der Liebe Christi, der uns alle ruft, als Kinder am Leben des lebendigen Gottes teilzunehmen, des Vaters aller Menschen.
3. Die Aufgabe
22. "Erfüllt die Erde und macht sie euch untertan (Gen 1,28)": die Heilige Schrift lehrt uns auf ihrer ersten Seite, daß die gesamte Schöpfung für den Menschen da ist. Freilich, er muß seine Geisteskraft einsetzen, um ihre Werte zu entwickeln und sie durch seine Arbeit sich dienstbar zu machen und der Vollendung näher zu bringen. Wenn aber die Erde da ist, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben, dann hat jeder Mensch das Recht, auf ihr das zu finden, was er nötig hat. Das Konzil hat dies in Erinnerung gerufen: "Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen für alle Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen, dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe (17)." Alle anderen Rechte, ganz gleich welche, auch das des Eigentums und des freien Tausches, sind diesem Grundgesetz untergeordnet. Sie dürfen seine Verwirklichung nicht erschweren, sondern müssen sie im Gegenteil erleichtern. Es ist eine ernste und dringende soziale Aufgabe, alle diese Rechte zu ihrem ursprünglichen Sinn zurückzuführen.
23. "Wer die Güter dieser Welt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz gegen ihn verschließt, wie soll da die Liebe Gottes in ihm blelben? (1 Joh 3,17)" Es ist bekannt, mit welcher Entschiedenheit die Kirchenväter gelehrt haben, welche Haltung die Besitzenden gegenüber den Notleidenden einzunehmen haben: "Es ist nicht dein Gut", sagt Ambrosius, "mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen (18)." Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand ist befugt, seinen Überfluß ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt. "Das Eigentumsrecht darf nach der herkömmlichen Lehre der Kirchenväter und der großen Theologen niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt werden. Sollte ein Konflikt zwischen den "wohlerworbenen Rechten des einzelnen und den Grundbedürfnissen der Gemeinschaft" entstehen, dann ist es an der staatlichen Gewalt, "unter aktiver Beteiligung der einzelnen und der sozialen Gruppen eine Lösung zu suchen (19)".
24. Das Gemeinwohl verlangt deshalb manchmal eine Enteignung von Grundbesitz, wenn dieser wegen seiner Größe, seiner geringen oder überhaupt nicht erfolgten Nutzung, wegen des Elends, das die Bevölkerung durch ihn erfährt, wegen eines beträchtlichen Schadens, den die Interessen des Landes erleiden, dem Gemeinwohl hemmend im Wege steht. Das Konzil hat das ganz klar gesagt (20). Und nicht weniger klar hat es erklärt, daß verfügbare Mittel nicht einfach dem willkürlichen Belieben der Menschen überlassen sind und daß egoistische Spekulationen keinen Platz haben dürfen. Deshalb darf es nicht geduldet werden, daß Bürger mit übergroßen Einkommen aus den Mitteln und der Arbeit des Landes davon einen großen Teil ins Ausland schaffen, zum ausschließlichen persönlichen Nutzen, ohne sich um das offensichtliche Unrecht zu kümmern, das sie ihrem Lande damit zufügen (21).
25. Für das wirtschaftliche Wachstum und den menschlichen Fortschritt unentbehrlich ist die Industrialisierung, die sowohl Kennzeichen als auch treibende Kraft der Entwicklung bedeutet. Durch die zähe Anwendung seiner Intelligenz und seiner Arbeit entreißt der Mensch Schritt um Schritt der Natur ihre verborgenen Gesetze und macht sich ihre Kräfte dienstbar. Indem er seine Lebensweise in Zucht nimmt, entwickelt er in sich den Drang am Forschen und Erfinden, das Ja zum berechneten Risiko, das Wagnis zu neuen und großzügigen Unternehmungen und den Sinn für Verantwortung.
26. Im Gefolge dieses Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber darstellt. Dieser ungehemmte Liberalismus führte zu jener Diktatur, die Pius XI. mit Recht als die Ursache des finanzkapitalistischen Internationalismus oder des Imperialismus des internationalen Finanzkapitals (22) brandmarkte. Man kann diesen Mißbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, daß die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat (23). Aber wenn es auch wahr ist, daß viele Übel, Ungerechtigkeiten und brudermörderische Kämpfe, deren Folgen heute noch zu spüren sind, sich von einer bestimmten Abart dessen, was man "Kapitalismus" nennt, herleiten, so würde man doch zu Unrecht der Industrialisierung als solcher die Übel anlasten, die in Wahrheit den verderblichen Auffassungen von der Wirtschaft zur Last zu legen sind, die neben dem wirtschaftlichen Aufschwung herliefen. Ganz im Gegenteil ist der unersetzbare Beitrag anzuerkennen, den die Organisierung der Arbeit und der industrielle Fortschritt zur Entwicklung geleistet haben.
27. Und ebenso bleibt es wahr, daß die Arbeit, mag sie auch hier und da in verstiegener Weise mystifiziert werden, von Gott befohlen und gesegnet ist. Nach dem Bilde Gottes geschaffen, "muß der Mensch mit dem Schöpfer an der Vollendung der Schöpfung mitarbeiten und die Welt mit dem Siegel seines Geistes prägen, den er selbst empfangen hat (24)". Gott, der den Menschen mit Verstand, Phantasie und Einfühlungsvermögen ausgestattet hat, hat ihm auch die Mittel gegeben, irgendwie sein Werk zu vollenden. Ob Künstler oder Handwerker, ob Unternehmer, Arbeiter oder Bauer, jeder, der arbeitet, ist in gewissem Sinne schöpferisch tätig. Beschäftigt mit einer widerspenstigen Materie, prägt er ihr sein Siegel auf und bildet bei sich Zähigkeit, Scharfsinn und Erfindungsgabe aus. Ja, gemeinsame, in Hoffnung, Mühen, Streben und Freude geteilte Arbeit eint die Willen, bringt die Geister einander näher und verbindet die Herzen: im gemeinsamen Werk entdecken sich die Menschen als Brüder (25).
28. In zweifacher Richtung wirkt die Arbeit: einerseits verspricht sie Geld, Vergnügen, Macht, drängt die einen zur Selbstsucht, die anderen zur Revolte; andererseits entwickelt sie Berufsethos, Pflichtbewußtsein und Nächstenliebe. Wenn auch die Arbeit heute mehr nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgeführt wird und in wirksamerer Weise organisiert ist, so bleibt doch immer die Gefahr bestehen, daß durch sie der Mensch entmenschlicht und ihr Sklave wird. Die Arbeit ist nur dann menschlich, wenn sie der Intelligenz und der Freiheit Platz läßt. Johannes XXIII. hat an die dringende Aufgabe erinnert, dem Arbeiter seine Würde zu geben, ihn wirklich am gemeinsamen Werk teilnehmen zu lassen: "Das Ziel muß in jedem Falle sein, das Unternehmen zu einer echten menschlichen Gemeinschaft zu machen; diese muß den wechselseitigen Beziehungen der Beteiligten bei aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben und Pflichten das Gepräge geben (26)." Die Mühen der Menschen haben für den Christen noch einen weiteren Sinn: beizutragen am Aufbau einer übernatürlichen Welt (27), die erst dann vollendet ist, wenn wir alle zusammen den vollkommenen Menschen bilden, von dem der heilige Paulus spricht und der die "Fülle Christi" darstellt (Eph 4,13).
29. Es eilt. Zu viele Menschen sind in Not, und es wächst der Abstand, der den Fortschritt der einen von der Stagnation, besser gesagt, dem Rückschritt der anderen trennt. Die zu treffenden Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt werden; andernfalls würden sie sich wechselseitig stören. Eine unbedachte Agrarreform kann ihr Ziel verfehlen. Eine übereilte Industrialisierung kann Strukturen zerschlagen, die noch notwendig sind, und zu sozialen Mißständen führen, was menschlich gesehen ein Rückschritt wäre.
30. Es gibt ganz sicher Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker, die am Mangel des Notwendigsten leiden, unter fremder Herrschaft gehindert werden, irgend etwas aus eigener Initiative zu unternehmen, zu höherer Bildung aufzusteigen, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen.
31. Trotzdem: Jede Revolution - ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt - zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.
32. Man verstehe Uns recht: wir müssen uns der gegenwärtigen Situation mutig stellen und ihre Ungerechtigkeiten tilgen und aus der Welt schaffen. Das Entwicklungswerk verlangt kühne bahnbrechende Umgestaltungen. Drängende Reformen müssen unverzüglich in Angriff genommen werden. Alle müssen sich hochherzig daran beteiligen, vor allem jene, die durch Erziehung, Stellung, Einfluß große Möglichkeiten haben. Möchten sie doch, Beispiel gebend, wie es einige Unserer Brüder aus dem Episkopat taten (28), aus ihrem eigenen Vermögen etwas opfern. Damit entsprechen sie der Erwartung der Menschen, damit gehorchen sie dem Geist Gottes, denn "der Sauerteig des Evangeliums hat im Herzen des Menschen den unbezwingbaren Anspruch auf Würde erweckt und erweckt ihn auch weiter (29)".
33. Die Einzelinitiative und das freie Spiel des Wettbewerbs können den Erfolg des Entwicklungswerkes jedoch nicht sichern. Man darf es nicht darauf ankommen lassen, daß der Reichtum der Reichen und die Stärke der Starken noch größer werden, während man das Elend der Völker verewigt und die Knechtschaft der Unterdrückten noch härter werden läßt, Man braucht Programme, die die Aktion en da einzelnen und der Organisationen "fördern, anregen und regeln, Programme, die Lücken schließen und Vollständigkeit gewährleisten (30)". Es ist Sache der Staaten, die Vorhaben, die Ziele und die Verfahrensweisen zu bestimmen und verbindlich aufzuerlegen; an ihnen ist es auch, die Kräfte aller zu mobilisieren, die an diesem Gemeinschaftswerk mitzuwirken haben. Ebenso sollen sie sich bemühen, auch die privaten Unternehmer und Verbände zur Mitwirkung heranzuziehen. So wird die Gefahr einer Kollektivierung oder einer mehr oder weniger willkürlichen Planung vermieden, die, freiheitsfeindlich, die Ausübung grundlegender Rechte der menschlichen Person unmöglich machen.
34. Jedes Programm zur Steigerung der Produktion hat nur so weit Berechtigung, als es dem Menschen dient. Es soll die Ungleichheiten abtragen, Diskriminierungen beseitigen, den Menschen aus Versklavungen befreien und ihn so fähig machen, in eigener Verantwortung sein materielles Wohl, seinen sittlichen Fortschritt, seine geistige Entfaltung in die Hand zu nehmen. Entwicklung besagt, sich den sozialen Fortschritt ebenso angelegen sein lassen wie den wirtschaftlichen. Es reicht nicht, den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen, um alte in angemessener Weise daran teilnehmen zu lassen. Es reicht nicht, die Technik auszubauen, damit die Erde menschlicher zu bewohnen sei. Die Irrtümer der Vergangenheit sollten die Entwicklungsländer vor den Gefahren auf diesem Gebiet warnen. Die Technokratie von morgen kann genau so schwere Fehler begehen wie der Liberalismus von gestern. Wirtschaft und Technik erhalten ihren Sinn erst durch den Menschen, dem sie zu dienen haben. Und der Mensch ist nur in dem Maß wahrer Mensch, als er, Herr seiner Handlungen und Richter über ihren Wert, selbst der Meister seines Fortschritts ist, in Übereinstimmung mit seiner Natur, die ihm der Schöpfer gegeben hat und zu deren Möglichkeiten und Forderungen er in Freiheit sein Ja sagt.
35. Man kann sogar sagen, daß das wirtschaftliche Wachstum in erster Linie vom sozialen Fortschritt abhängt. Deshalb ist eine Grundausbildung die erste Stufe eines Entwicklungsplanes. Der Hunger nach Bildung ist nicht weniger bitter als der Hunger nach Nahrung. Ein Analphabet ist geistig unterentwickelt. Lesen und schreiben können, eine Berufsausbildung erwerben heißt Selbstvertrauen gewinnen und entdecken, daß man zusammen mit anderen vorankommt. Wie Wir schon in Unserer Botschaft an den UNESCO-Kongreß von Teheran im Jahre 1965 gesagt haben, ist die Erlernung des Alphabets für den Menschen "ein erstrangiger Faktor seiner sozialen Eingliederung und seiner reicheren persönlichen Entfaltung, für die Gesellschaft ein hervorragendes Mittel des wirtschaftlichen Fortschritts und der Entwicklung (31)". Deshalb freuen Wir Uns über die gute Arbeit, die auf diesem Gebiet durch Einzelinitiative, staatliche und internationale Stellen geleistet wird. Sie sind die Hauptträger der Entwicklung; denn sie machen den Menschen fähig, zu sich selbst zu kommen.
36. Aber der Mensch ist ganz er selbst nur in seiner sozialen Umwelt, in der die Familie die erste Rolle spielt. Das konnte nach Zeiten und Orten das rechte Maß übersteigen, vor allem dann, wenn es sich zum Nachteil der grundlegenden Freiheiten der menschlichen Person auswirkte. Oft zu starr und schlecht strukturiert, sind die alten sozialen Verbände in den Entwicklungsländern trotzdem noch eine Zeitlang notwendig, freilich ihre allzu starren Bande müssen Schritt für Schritt gelockert werden. Aber die natürliche Familie, die auf der Einehe beruht und fest gegründet ist, die Familie, wie sie nach Gottes Plan sein soll (Vgl. Mt 19,6) und die das Christentum geheiligt hat, in der "verschiedene Generationen zusammenleben und sich gegenseitig helfen, um zu größerer Weisheit zu gelangen und die Rechte der einzelnen Personen mit den anderen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zu vereinbaren, ist das Fundament der Gesellschaft (32)".
37. Es ist richtig, daß zu oft ein schnelles Anwachsen der Bevölkerung für das Entwicklungsproblem eine zusätzliche Schwierigkeit bedeutet; die Bevölkerung wächst schneller als die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel, und man gerät sichtlich in einen Engpaß. Dann ist die Versuchung groß, das Anwachsen der Bevölkerung durch radikale Maßnahmen aufzuhalten. Der Staat hat zweifellos innerhalb der Grenzen seiner Zuständigkeit das Recht, hier einzugreifen, eine zweckmäßige Aufklärung durchzuführen und geeignete Maßnahmen zu treffen, vorausgesetzt, daß diese in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz sind und die berechtigte Freiheit der Eheleute nicht antasten. Ohne das unabdingbare Recht auf Ehe und Zeugung gibt es keine Würde des Menschen. Die letzte Entscheidung über die Kinderzahl liegt beiden. Eltern. Sie haben es reiflich zu überlegen. Sie nehmen die Verantwortung auf sich vor Gott, vor sich selbst, vor den Kindern, die sie bereits haben, vor der Gemeinschaft, zu der sie gehören, nach ihrem gemäß dem authentisch interpretierten Gesetz Gottes gebildeten und durch ihr Gottvertrauen gestärkten Gewissen (33).
38. Inder Arbeit an der Entwicklung wird dem Menschen, der in der Familie seine erste Heimstatt hat, oft von Berufsorganisationen geholfen. Wenn deren Daseinsberechtigung in der Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder besteht, dann haben sie eine große Verantwortung für die erzieherische Aufgabe, die sie leisten können und müssen. In ihrer Aufklärungs- und Bildungsarbeit haben sie die große Möglichkeit, in allen den Gemeinsinn und die Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber zu wecken.
39. Alles soziale Handeln setzt eine gewisse Lehre voraus. Der Christ kann kein System annehmen, dem eine materialistische und atheistische Philosophie zugrunde liegt, die weder die Ausrichtung des Menschen auf sein letztes Ziel, noch seine Freiheit, noch seine Würde als Mensch achtet. Wo jedoch diese Werte sichergestellt sind, ist nichts gegen einen Pluralismus beruflicher und gewerkschaftlicher Organisationen einzuwenden; in bestimmter Hinsicht ist er sogar nützlich, sofern er die Freiheit schützt und den Wetteifer anregt. Aufrichtig bekunden Wir allen, die in diesen Organisationen im selbstlosen Dienst für ihre Brüder arbeiten, Unsere Hochschätzung.
40. Neben den Berufsorganisationen sind auch kulturelle Einrichtungen am Werk. Ihre Rolle ist für das Gelingen der Entwicklung nicht weniger wichtig. "Es gerät nämlich", wie das Konzil mit Nachdruck sagt, "das künftige Geschick der Welt in Gefahr, wenn nicht weisere Menschen auftreten." Und es fügt hinzu: "Viele Nationen sind an wirtschaftlichen Gütern verhältnismäßig arm, an Weisheit aber reicher und können den übrigen hervorragende Hilfe leisten (34)."Reich oder arm, jedes Land hat eine Kultur, die es von den Vorfahren übernommen bat: Institutionen für das materielle Leben, Werke geistigen Lebens, künstlerischer, denkerischer, religiöser Art. Sofern sie wahre menschliche Werte darstellen, wäre es ein großer Fehler, sie aufzugeben. Ein Volk, das dazu bereit wäre, verlöre das Beste seiner selbst, es gäbe, um zu leben, den Grund seines Lebens hin. Das Wort Christi: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele verliert (Mt 16,26)", gilt auch für die Völker.
41. Die ärmeren Völker können sich nie genug vor der Versuchung hüten, die ihnen von den reicheren kommt. Diese bieten nur allzu oft neben dem Vorbild ihrer Erfolge im Technischen und Zivilisatorischen das Beispiel eines hauptsächlich auf das materielle Wohl ausgerichteten Handelns. Nicht als ob dieses von sich aus gegen den Geist gerichtet wäre. Im Gegenteil: "Der Geist des Menschen kann sich, von der Versklavung unter die Sachwelt befreit, ungehinderter zur Kontemplation und Anbetung des Schöpfers erheben (35)." Aber "die heutige Zivilisation kann oft, zwar nicht von ihrem Wesen her, aber durch ihre einseitige Zuwendung zu den irdischen Wirklichkeiten, den Zugang zu Gott erschweren (36)". Die Entwicklungsländer müssen also aus dem, was ihnen angeboten wird, auswählen: kritisch beleuchten und ablehnen die Scheinwerte, die den Charakter des menschlichen Lebens verderben, annehmen dagegen die gesunden und nützlichen Werte, um sie zusammen mit ihren eigenen ihrer Eigenart gemäß weiterzuentwickeln.
Schluss
42. Das ist der Humanismus im Vollsinn des Wortes, den es zu entfalten gilt (37). Und was ist dies anders als eine umfassende Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit? Ein verkürzter Humanismus, der die Augen vor den Werten des Geistes und vor Gott, ihrer Quelle und ihrem Ursprung, verschließt, kann nur scheinbar Erfolg haben. Gewiß, der Mensch kann die Erde ohne Gott gestalten, aber "ohne Gott kann er sie letzten Endes nur gegen den Menschen formen. Der in sich verschlossene Humanismus ist ein unmenschlicher Humanismus (38)". Nur jener Humanismus also ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öffnet, in Dank für eine Berufung, die die richtige Auffassung vom menschlichen Leben schenkt. Der Mensch ist keineswegs letzte Norm seiner selbst und wird nur durch Hinausschreiten über sich selbst zu dem, der er sein soll, gemäß dem tiefen Wort Pascals: unermeßlich übersteigt der Mensch sich selbst (39).
Zweiter Teil
UM EINE SOLIDARISCHE ENTWICKLUNG DER MENSCHHEIT
43. Die allseitige Entwicklung des Einzelmenschen muß Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der gesamten Menschheit; beide müssen sich wechselseitig unterstützen. Wir sagten in Bombay: "Der Mensch muß dem Menschen begegnen. Die Völker müssen sich als Brüder und Schwestern begegnen, als Kinder Gottes. In diesem gegenseitigen Verstehen und in dieser Freundschaft, in dieser heiligen Gemeinschaft müssen wir mit dem gemeinsamen Werk und der gemeinsamen Zukunft der Menschheit beginnen (40)." Deshalb schlugen Wir vor, konkrete Mittel und praktische Formen der Organisation und Zusammenarbeit zu suchen, um die verfügbaren Hilfsmittel gemeinsam zu nutzen und so eine echte Gemeinschaft unter den Völkern zu stiften.
44. Diese Pflicht betrifft an erster Stelle die Begüterten. Sie wurzelt in der natürlichen und übernatürlichen Brüderlichkeit der Menschen, und zwar in dreifacher Hinsicht: zuerst in der Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann in der Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund ist, abzustellen; endlich in der Pflicht zur Liebe zu allen, zur Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und empfangen können, ohne daß der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist. Diese Angelegenheit wiegt schwer; von ihr hängt die Zukunft der Zivilisation ab.
1. Die Hilfe für die Schwachen
45. "Wenn ein Bruder oder eine Schwester keine Kleidung besitzen, wie es bei Jakobus heißt, oder der täglichen Nahrung entbehren, es sagt aber einer von euch zu ihnen. Geht hin in Frieden, erwärmt und sättigt euch, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie für ihren Körper brauchen, was nützt das?" (Jak 2,15-16). Heute gibt es - da ist niemand, der es nicht wüßte - in einigen Kontinenten unzählige Männer und Frauen, die vom Hunger gequält werden; unzählige Kinder, die unterernährt sind, so daß viele noch im zarten Alter sterben; bei anderen ist aus diesem Grunde die. körperliche und geistige Entwicklung gefährdet, und ganze Landstriche sind zu düsterer Hoffnungslosigkeit verurteilt.
46. Aufrufe aus tiefer Sorge sind schon ergangen. Der Appell von Johannes XXIII. wurde herzlich aufgenommen (41). Wir selbst haben ihn in Unserer Weihnachtsbotschaft von 1963 (42) wiederholt und von neuem zugunsten Indiens im Jahre 1966 (43). Der Kampf gegen den Hunger, den die Internationale Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) führt und worin sie vom Heiligen Stuhl ermutigt wird, wird hochherzig unterstützt. Unsere Caritas Intemationalis ist überall am Werk, und viele Katholiken steuern unter Führung Unserer Brüder aus dem Episkopat bei und setzen sich voll und ganz ein, um den Notleidenden zu helfen, und weiten den Kreis ihrer Nächsten so mehr und mehr aus.
47. Aber das reicht nicht aus, ebensowenig wie die privaten und öffentlichen geschenkten oder kreditierten Geldmittel. Denn es handelt sich nicht nur darum, den Hunger zu besiegen, die Armut einzudämmen. Der Kampf gegen das Elend, so dringend und notwendig er ist, ist zu wenig. Es geht darum, eine Welt zu bauen, wo jeder Mensch, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Abstammung, ein volles menschliches Leben führen kann, frei von Versklavung seitens der Menschen oder einer noch nicht hinreichend gebändigten Natur; eine Welt, wo die Freiheit nicht ein leeres Wort ist, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann (Vgl. Lk 16,19-31). Das fordert von diesem ein hohes Maß an Hochherzigkeit, große Opfer und unermüdliche Anstrengungen Jeder muß sein Gewissen erforschen, das ihn auf diese neuen Forderungen für unsere Zeit hinweist. Ist er bereit, auf seine Kosten die Werke und Aufgaben zugunsten der Ärmsten zu unterstützen? Mehr Steuern zu zahlen, damit die öffentlichen Stellen ihre Entwicklungshilfe intensivieren können? Höhere Preise für Einfuhrgüter zu zahlen, damit die Erzeuger einen angemessenen Verdienst erhalten? Notfalls seine Heimat zu verlassen, wenn er jung ist, um den zu höherer Zivilisation aufstrebenden Nationen zu helfen?
48. Die Pflicht zur Solidarität unter den Menschen besteht auch für die Völker. "Es ist eine schwere Verpflichtung der hochentwickelten Länder, den aufstrebenden Völkern zu helfen (44)." Diese Lehre des Konzils muß in die Tat umgesetzt werden. Wenn es auch richtig ist, daß jedes Volk die Gaben, die ihm die Vorsehung als Frucht seiner Arbeit geschenkt hat, an erster Stelle genießen darf, so kann trotzdem kein Volk seinen Reichtum für sich allein beanspruchen. Jedes Volk muß mehr und besser produzieren, einmal um seinen eigenen Angehörigen ein wahrhaft menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, dann aber auch, um an der solidarischen Entwicklung der Menschheit mitzuarbeiten. Bei der wachsenden Not der unterentwickelten Länder ist es durchaus in der Ordnung, daß die reichen Länder einen Teil ihrer Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der andern abzweigen; und ebenso, daß sie Lehrer, Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler ausbilden, die ihr Wissen und Können in den Dienst der anderen stellen.
49. Es sei noch einmal wiederholt: Der Überfluß der reichen Länder muß den ärmeren zustatten kommen. Die Regel, die einmal zugunsten der nächsten Angehörigen galt, muß heute auf die Gesamtheit der Weltnöte angewandt werden. Die Reichen haben davon den ersten Vorteil. Tun sie es nicht, so wird ihr hartnäckiger Geiz das Gericht Gottes und den Zorn der Armen erregen, und unabsehbar werden die Folgen sein. Würden sich die heute blühenden Kulturen in ihrem Egoismus verschanzen, so verübten sie einen Anschlag auf ihre höchsten Werte; den Willen, sich durch Leistungen anzureichern, opferten sie der Gier, mehr zu haben. Und es gälte von ihren das Wort vom Reichen, dessen Ländereien so guten Ertrag abwarfen, daß er ihn nicht unterzubringen wußte. "Gott aber sprach zu ihm: Du Tor, in dieser Nacht wird man dein Leben von dir fordern (Lk 12,20).
50. Damit diese Anstrengungen einen vollen Erfolg zeitigen, dürfen sie nicht verzettelt werden und noch weniger aus Geltungssucht und Machtstreben einander entgegenarbeiten. Die Situation verlangt Programme, die aufeinander abgestimmt sind. Ein Programm ist wirksamer und besser als eine Hilfe, die je nach Gelegenheit dem guten Willen der einzelnen überlassen bleibt. Das setzt, Wir haben bereits darauf hingewiesen, vertiefte Studien voraus. Festlegung der Ziele, Bestimmung der Mittel, Zusammenfassung der Kräfte, um den augenblicklichen Nöten und den voraussehbaren Erfordernissen zu begegnen. Mehr noch: ein Programm übersteigt die Gesichtspunkte des rein wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Fortschritts: es gibt dem Werk, das getan werden soll, Bedeutung und Gewicht. Und indem es sich um eine Verbesserung der Ordnung in der Welt bemüht, verleiht es dem Menschen selbst ein höheres Maß an Würde und Kraft.
51. Man muß aber noch weiter gehen. Als Wir anläßlich des Eucharistischen Weltkongresses in Bombay weilten, forderten Wir die obersten Lenker der Staaten auf, sie möchten einen Teil der Beträge, die sie für Rüstungszwecke ausgeben, zur Schaffung eines Weltfonds verwenden, um so den notleidenden Völkern zu helfen (45). Was für den unmittelbaren Kampf gegen das Elend gilt, hat seine Bedeutung auch für die Entwicklungshilfe. Nur eine weltweite Zusammenarbeit, für die der gemeinsame Fonds Symbol und Mittel wäre, würde es erlauben, unfruchtbare Rivalitäten zu überwinden und ein fruchtbares und friedliches Gespräch unter den Völkern in Gang zu bringen.
52. Ohne Zweifel bleibt daneben auch Raum für bilaterale und multilaterale Abkommen: sie geben die Möglichkeit, die Abhängigkeitsverhältnisse und Bitterkeiten, die noch als Folgen der Kolonialzeit geblieben sind, durch Freundschaftsbeziehungen auf dem Boden rechtlicher und politischer Gleichheit zu ersetzen. Eingebettet in Programme weltweiter Zusammenarbeit, wären sie über jeden Verdacht erhaben. Die Empfänger brauchten kein Mißtrauen und keine Furcht zu haben vor einem sogenannten Neokolonialismus, der unter dem Schein finanzieller und technischer Hilfe politischen Druck und wirtschaftliches Übergewicht ausübt, um eine Vormachtstellung zu verteidigen oder zu erobern.
53. Wer sähe nicht, daß ein solcher Fonds manche Vergeudung, zu der heute Furcht oder Stolz verleiten, verhindern könnte? Wenn so viele Völker Hunger leiden, wenn so viele Familien in Elend sind, wenn so viele Menschen in Unwissenheit dahinleben, wenn so viele Schulen, Krankenhäuser, richtige Wohnungen zu bauen sind, dann ist jede öffentliche und private Vergeudung, jede aus nationalem oder persönlichem Ehrgeiz gemachte Ausgabe, jedes die Kräfte erschöpfende Wettrüsten ein unerträgliches Ärgernis. Wir müssen das anprangern! Möchten Uns doch die Verantwortlichen hören, bevor es zu spät ist!
54. Es ist daher unbedingt notwendig, daß zwischen allen ein Gespräch beginnt, zu dem Wir in Unserer ersten Enzyklika Ecclesiam suam (46) aufgerufen haben. Ein solches Gespräch zwischen denen, die die Hilfsmittel bereitstellen, und denen, die sie empfangen, ermöglichte es, die Größe der Beiträge festzusetzen, nicht nur nach Hochherzigkeit und Bereitschaft der einen, sondern auch nach den wirklichen Bedürfnissen und Verwendungsmöglichkeiten der anderen. Die Entwicklungsländer liefen nicht mehr Gefahr, von Schulden erdrückt zu werden, deren Abzahlung ihr ganzes Aufkommen von Zahlungsmitteln verschlingt. Zinsen und Laufzeit der Anleihen könnten so geregelt werden, daß es für die einen wie die anderen erträglich ist: es ließe sich nämlich ein vernünftiges Verhältnis herstellen zwischen unentgeltlichen Hilfeleistungen, zinslosen oder niedrig verzinsbaren Anleihen und den Tilgungsfristen. Garantien für eine geplante und wirksame Verwendung der Kredite könnten denen gegenüber, die Hilfe leisten, übernommen werden. Denn es kann sich nicht darum handeln, Bequemlichkeit und Schmarotzertum zu unterstützen. Die Empfänger könnten verlangen, daß man sich nicht in ihre Politik einmische, daß man ihre soziale Ordnung nicht in Unordnung bringe. Sie sind souverän, und es ist ihre Sache, die eigenen Angelegenheiten selbst zu führen, ihre Politik selbst zu bestimmen, sich nach eigenem Ermessen frei eine Staatsform zu wählen. Es geht also darum, eine freie Zusammenarbeit zustandezubringen, in gleichberechtigter Partnerschaft eine wahrhaft menschenwürdige Gemeinschaft zu schaffen.
55. Ein solches Vorhaben scheint unmöglich zu sein in Ländern, wo die tägliche Existenzsorge das gesamte Dasein der Familien in Beschlag nimmt, so daß man gar nicht auf den Gedanken kommen kann, Vorbereitungen für ein weniger kummervolles Leben in der Zukunft zu treffen. Aber gerade diesen Männern und Frauen muß man helfen; man überzeugen, daß sie selbst ihr Vorankommen in die Hand nehmen und schrittweise die Mittel dazu erwerben müssen. Dieses gemeinsame Werk kann nicht ohne gemeinsame zähe und mutige Anstrengung geschehen. Aber jeder sei davon überzeugt: es geht um das Leben der armen Völker, es geht um die Eintracht der Bürger in den Entwicklungsländern, es geht um den Frieden der Welt.
2. Recht und Billigkeit in den Handelsbeziehungen
56. Auch beträchtliche Anstrengungen, um den Entwicklungsländern finanziell und technisch zu helfen, sind umsonst, wenn ihre Erfolge durch die Schwankungen in den Handelsbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern großenteils wieder zunichte gemacht würden. Das Vertrauen der armen würde erschüttert, wenn sie den Eindruck gewännen, daß die anderen wieder wegnehmen, was sie ihnen gegeben haben.
57. Die hochindustrialisierten Nationen exportieren vor allem Fertigprodukte, während die unterentwickelten Wirtschaften nur Agrarprodukte und Rohstoffe exportieren können. Dank dem technischen Fortschritt steigt deren Wertschätzung rasch, und sie finden einen guten Absatz. Dagegen unterliegen die Produkte der unterentwickelten Länder breiten und jähen Preisschwankungen, an eine sich steigernde Wertschätzung ist gar nicht zu denken. Daraus entstehen für die wenig industrialisierten Nationen große Schwierigkeiten, wenn sie aus ihren Exporterlösen ihren öffentlichen Haushalt ausgleichen und ihre Entwicklungspläne verwirklichen wollen. Die armen Völker werden dabei immer ärmer, die reichen immer reicher.
58. Die Spielregel des freien Handels kann also für sich allein die internationalen Beziehungen nicht regieren. Ihre Vorteile sind klar, wo es sich um Partner in nicht allzu ungleicher wirtschaftlicher Lage handelt: sie fördert den weiteren Fortschritt und belohnt die Anstrengung. Deshalb sehen die Industrieländer darin in gewissem Sinne ein Gesetz der Gerechtigkeit. Aber es ist etwas anderes, wenn die Bedingungen von Land zu Land zu ungleich sind: Die Preise, die sich frei auf dem Markt bilden, können ganz verderbliche Folgen haben. Man muß es einfach zugeben: in diesem Bereich wird ein Grundprinzip des sogenannten Liberalismus als Regel des Handels überaus fragwürdig.
59. Noch immer gilt die Lehre Leos XIII. in Rerum novarum: das Einverständnis von Partnern, die in zu ungleicher Situation sind, genügt nicht, um die Gerechtigkeit eines Vertrages zu garantieren. Die Regel, wonach Verträge durch das freie Einverständnis der Partner zustandekommen, ist den Forderungen des Naturrechts untergeordnet (47). Was dort von dem gerechten Lohn für den einzelnen Arbeiter gelehrt wird, gilt ebenso von internationalen Verträgen: eine Verkehrswirtschaft kann nicht mehr allein auf die Gesetze des freien und ungezügelten Wettbewerbs gegründet sein, der nur zu oft zu einer Wirtschaftsdiktatur führt. Der freie Austausch von Gütern ist nur dann recht und billig, wenn er mit den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit übereinstimmt.
60. Die hochentwickelten Länder haben dies übrigens für sich schon begriffen, und sie bemühen sich, durch geeignete Maßnahmen innerhalb ihrer Wirtschaft ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, das der sich selbst überlassene freie Wettbewerb zu stören droht. So stützen sie oft ihre Landwirtschaft mit Zuwendungen, deren Aufbringung sie den höhere Gewinne erzielenden Wirtschaftszweigen auferlegen. Um ferner ihre gegenseitigen Handelsbeziehungen vor allem innerhalb eines gemeinsamen Marktes zu fördern, bemüht sich ihre Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik, den unter ungünstigen Wettbewerbsbedingungen stehenden Industrien in etwa vergleichbare Chancen zu schaffen.
6l. Man darf hier nicht zweierlei Maß anwenden. Was von der Volkswirtschaft gilt, was man unter den hochentwickelten Ländern gelten läßt, muß auch von den Handelsbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern gelten. Ohne den freien Markt abzuschaffen, sollte man doch den Wettbewerb in den Grenzen halten, die ihn gerecht und sozial, also menschlich machen. Im Austausch zwischen entwickelten und unterentwickelten Wirtschaften sind die Situationen zu verschieden und die gegebenen Möglichkeiten zu ungleich. Die soziale Gerechtigkeit fordert, daß der internationale Warenaustausch, um menschlich und sittlich zu sein, zwischen Partnern geschehe, die wenigstens eine gewisse Gleichheit der Chancen haben. Diese ist sicher nicht schnell zu erreichen. Um sie zu beschleunigen, sollte schon jetzt eine wirkliche Gleichheit im Gespräch und in der Preisgestaltung geschaffen werden. Auch hier könnten sich internationale Abkommen, an denen eine hinreichend große Zahl von Staaten beteiligt sind, als nützlich erweisen; sie könnten allgemeine Normen und gewisse Preise regeln, könnten gewisse Produktionen sichern, gewisse sich im Aufbau befindliche Industrien stützen. Wer sähe nicht, daß ein solch gemeinsames Bemühen um eine größere Gerechtigkeit in den Handelsbeziehungen zwischen den Völkern den Entwicklungsländern positiv helfen würde? Eine solche Hilfe hätte nicht nur unmittelbare, sondern auch dauernde Wirkungen.
62. Noch andere Hindernisse stellen sich dem Aufbau einer gerechteren und nach dem Prinzip der wechselseitigen Solidarität geordneten menschlichen Gesellschaft heute entgegen: der Nationalismus und der Rassenwahn. Es ist verständlich, daß die Völker, die erst jüngst ihre politische Unabhängigkeit erlangt haben, eifersüchtig auf ihre noch zerbrechliche nationale Einheit bedacht sind und sich bemühen, sie zu schützen. Es ist ebenfalls normal, daß die Völker einer alten Kultur stolz sind auf das Erbe, das ihnen die Geschichte überliefert hat Aber diese berechtigten Gefühle müssen doch überhöht werden durch eine Liebe, die alle Glieder der Menschenheitsfamilie umfaßt. Der Nationalismus trennt die Völker voneinander und schadet ihrem wahren Wohl. Er wirkt sich dort besonders schädlich aus, wo die Schwäche der Volkswirtschaften vielmehr die Gemeinsamkeit von Anstrengungen, Erkenntnissen und finanziellen Mitteln fordert, um die Entwicklungsprogramme zu verwirklichen und den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zu fördern.
63. Der Rassenwahn ist keineswegs eine Eigenart der jüngst erst zur politischen Selbständigkeit gelangten Völker, wo er sich unter den Rivalitäten der Stammesverbände und der politischen Parteien verbirgt, zum großen Schaden der Gerechtigkeit und zur Gefahr für den inneren Frieden. Während der Kolonialzeit wütete er oft zwischen den Kolonisatoren und den Eingeborenen. Er verhinderte so ein fruchtbares gegenseitiges Verständnis und ließ als Folge vieler Ungerechtigkeiten bittere Abneigung entstehen. Und noch immer verhindert er die Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern; er ist ein Ferment der Trennung und des Hasses inmitten der Staaten, wenn sich unter Mißachtung der unaufgebbaren Rechte der menschlichen Person, die einzelnen und die Familien ihrer Rasse oder Hautfarbe wegen ungerecht einer Ausnahmeregelung unterworfen sehen.
64. Diese Situation voll dunkler Drohungen für die Zukunft bedrückt Uns zutiefst. Wir hegen jedoch die Hoffnung: schließlich wird sich doch die immer stärker spürbare Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, der immer wacher werdende Sinn für Solidarität über alles Unverständnis und allen Egoismus durchsetzen. Wir hoffen, daß aneinander angrenzende Entwicklungsländer die Möglichkeit nutzen werden, ihre weiten Gebiete zu einheitlichen Wirtschaftsräumen zusammenzufassen, wobei sie gemeinsame Programme aufstellen, die Investitionen koordinieren, die Produktion verteilen, den Güteraustausch organisieren. Wir hoffen auch, daß die Organisationen, die einige oder sogar fast alle Nationen umfassen, entsprechende Mittel und Wege finden, die es den Entwicklungsländern möglich machen, aus den Engpässen, in denen sie sind, herauszukommen und in Treue zu ihrem Wesen selbst die Mittel zu ihrem sozialen und menschlichen Fortschritt zu finden.
65. Das muß unbedingt erstrebt werden. Es scheint, daß diese Solidarität unter den Völkern der Erde immer mehr Wirklichkeit wird. Sie muß es allen Völkern erlauben, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen Die Vergangenheit war zu oft von den Gewalttaten der Völker gegeneinander gekennzeichnet. Möge der Tag kommen, wo die internationalen Beziehungen von gegenseitiger Achtung und Freundschaft geprägt sind, von gegenseitiger Zusammenarbeit, von gemeinsamem Aufstieg, für den sich jeder verantwortlich fühlt. Die jetzt aufstrebenden ärmeren Völker fordern ihren Anteil am Aufbau einer besseren Welt, in der die Rechte und die Aufgaben eines jeden geachtet werden. Dieses Verlangen ist berechtigt, jeder muß es hören und darauf antworten.
3. Die Liebe zu allen
66. Die Weit ist krank. Das Übel liegt jedoch weniger darin, daß die Hilfsquellen versiegt sind oder daß einige wenige alles abschöpfen. Es liegt im Fehlen der brüderlichen Bande unter den Menschen und unter den Völkern.
67. Wir können nicht genug auf die Pflicht zur Gastfreundschaft hinweisen - eine Pflicht menschlicher Solidarität und christlicher Liebe -, die den Familien und den Kulturwerken der Staaten obliegt. Vor allem sollten Familien und Reime in größerer Zahl namentlich zur Aufnahme von Jugendlichen bereitstehen. Deren bedarf es, um sie vor der Einsamkeit zu bewahren, vor dem Gefühl der Verlassenheit, der Trostlosigkeit, wo jegliche sittliche Widerstandskraft zerbricht. Auch um sie in der ungesunden Situation zu beschützen, in der sie sich befinden, wo sich ihnen der Vergleich zwischen der furchtbaren Armut ihrer Heimat mit dem Luxus und der Verschwendung, die sie oft umgeben, geradezu aufdrängt. Und auch, um sie vor verderblichen Lehren zu bewahren und vor Versuchungen, die sie überfallen, wenn sie an so viel unverdientes Elend (48) daheim denken. Schließlich aber, um ihnen in herzlicher brüderlicher Gastfreundschaft das Beispiel eines gesunden Lebens zu geben, sie zu einer Hochschätzung der wahren und wirksamen christlichen Liebe, der Achtung vor den geistigen Werten zu führen.
68. Es ist für Uns schmerzlich, daran denken zu müssen: viele junge Menschen, die in die hochentwickelten Länder kommen, um dort Wissen, Können, Bildung zu erwerben, damit sie ihrer Heimat besser dienen können, erwerben dort zwar ganz gewiß eine Ausbildung von hoher Qualität, aber sie verlieren zu oft die Achtung vor den geistigen Werten, die sich als kostbares Erbe in den Kulturen finden, in denen sie groß geworden sind.
69. Die gleiche Gastfreundschaft sind wir auch den Gastarbeitern schuldig, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und mit ihrem Geld äußerst sparsam umgehen müssen, um ihre Familie zu unterhalten, die in der Heimat zurückgeblieben ist und Not leidet.
70. Unsere Mahnung richten Wir weiterhin an die, die ihr Beruf in die Länder führt, die erst jüngst der Industrialisierung erschlossen wurden: Industrielle, Kaufleute, Leiter und Bevollmächtigte von Großunternehmen. Nicht selten erweisen sie sich in ihrer Heimat für soziale Verantwortung aufgeschlossen. Warum betreiben sie dann aber in den Entwicklungsländern ihre Geschäfte nach den unmenschlichen Grundsätzen des krassen Eigennutzes? Ihre Überlegenheit sollte für sie doch eigentlich ein Ansporn sein, dort, wo sie von ihren geschäftlichen Interessen hingeführt werden, als Initiatoren des sozialen Fortschritts und des menschlichen Aufstiegs zu wirken. Ihre unternehmerische Begabung müßte ihnen Wege zeigen, wie man die Arbeit der Eingeborenen produktiver gestalten könnte; wie Facharbeiter, Ingenieure und Betriebsleiter heranzubilden sind; wie man ihre Initiative wecken, wie man sie Schritt für Schritt in führende Stellungen bringen kann, um somit ihnen in nicht allzu ferner Zukunft die Führungsverantwortung zu teilen. In der Zwischenzeit sollten wenigstens die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen immer nach der Gerechtigkeit geregelt, die gegenseitigen Verpflichtungen in einwandfreien Verträgen niedergelegt und keiner, welche Stellung er immer haben mag, rechtlos der Willkür anderer ausgeliefert sein!
71. Wir freuen Uns über die stetig wachsende Zahl von Fachleuten, die von weltweiten oder auf gegenseitiger Vereinbarung beruhenden Institutionen oder auch von privaten Organisationen zur Entwicklungshilfe ausgesandt werden. "Sie dürfen bei ihrem Einsatz (jedoch) nicht als Herren auftreten, sondern sollen Helfer und Mitarbeiter sein (49)." Jedes Volk merkt sehr schnell, ob seine Helfer mit oder ohne Zuneigung zugreifen, ob sie nur Technik bringen oder die Würde der Menschen fördern wollen. Ihre Botschaft wird nur dann angenommen, wenn sie von brüderlicher Liebe getragen ist.
72. Das unerläßlich fachliche Können genügt also nicht, hinzukommen müssen echte Erweise selbstloser Liebe. Frei von jedem nationalistischen Hochmut wie von jedem Anschein eines Rassenvorurteils, müssen diese Fachleute lernen, eng mit allen zusammenzuarbeiten. Sie müssen wissen, daß ihr Fachwissen durchaus keine Überlegenheit auf allen Gebieten besagt. Die Kultur, in der sie aufgewachsen sind, enthält zweifellos Elemente eines universalen Humanismus, aber sie ist nicht die einzige, darf andere nicht ablehnen und bedarf der Anpassung, wenn sie in andere Weltteile übertragen werden soll. Wer sich dieser Aufgabe widmet, dem muß es ein Anliegen sein, mit der Geschichte des Landes, in dem er gleichsam als Gast weilt, auch dessen kulturelle Kräfte und Reichtümer zu entdecken. So kommt es zu einer beider Kulturen, durch die beide befruchtet werden.
73. Aufrichtiger Austausch zwischen den Kulturen wie den Menschen schafft brüderliche Gesinnung. Wenn alle, angefangen von den Regierungen und ihren Vertretern bis zum letzten Fachmann, von brüderlich er Liebe beseelt und von dem aufrichtigen Verlangen erfüllt sind, eine allgemeine Geisteskultur auf der ganzen Welt aufzubauen, dann werden die Unternehmungen der Entwicklungshilfe die Völker innerlich verbinden. Dann nimmt das Gespräch seinen Anfang mit dem Menschen, nicht mit Agrar- und Industrieerzeugnissen. Es wird fruchtbar sein, wenn es den Völkern, die so ins Sprechen gekommen sind, die Möglichkeit gibt, wirtschaftlich und geistig voranzukommen; wenn die Techniker zu Lehrern werden, und wenn die Unterweisung von solcher geistiger und sittlicher Kraft ist, daß sie nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den menschlichen Fortschritt gewährleistet; dann bleiben auch nach Abschluß der Hilfeleistung die entstandenen menschlichen Beziehungen bestehen. Und wer sähe nicht, welche Bedeutung dies für den Frieden der Welt hat?
74. Viele junge Menschen haben bereits mit Feuereifer auf den Anruf Pius' XII. für die laienmissionarische Bewegung geantwortet (50). Zahlreich sind auch jene, die sich freiwillig den öffentlichen und privaten Organisationen zur Arbeit in den Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt haben. Wir freuen Uns zu hören, daß in manchen Nationen der durch einen Sozialdienst oder überhaupt durch irgendeinen sonstigen Dienst wenigstens teilweise ersetzt werden kann. Wir segnen diese Initiativen und die Menschen voll guten Willens, die sie verwirklichen. Möchten doch alle, die sich zu Christus bekennen, seinen Ruf hören: "Ich war hungrig, ihr habt mich gespeist; ich war durstig, ihr habt mich getränkt; ich war Fremdling, ihr habt mich beherbergt; ich war nackt, ihr habt mich bekleidet; ich war krank, ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, ihr seid zu mir gekommen (Mt 25,35-36)." Niemand darf dem Los seiner Brüder gleichgültig gegenüberstehen, die in Elend versunken, der Unwissenheit ausgeliefert, Opfer der Unsicherheit sind. Wie das Herz Christi, muß auch das Herz der Christen mit dem Elend mitempfinden: "Mich erbarmt des Volkes (Mk 8,2)"
75. Möchten doch alle Gott, den allmächtigen Vater, bitten, daß sich die Menschheit in Erkenntnis der großen Übel mit Intelligenz und Mut daran mache, sie aus der Welt zu schaffen. Diesem Gebetseifer aller muß die Entschlossenheit eines jeden entsprechen, sich nach dem Maß seiner Kräfte und Möglichkeiten im Kampf gegen die Unterentwicklung einzusetzen. Möchten sich doch alle Menschen, die sozialen Gruppen und die Völker, brüderlich die Hand reichen, die Starken den Schwachen zum Fortschritt verhelfen, indem sie ihre ganze Einsicht, ihre Tatkraft, ihre selbstlose Liebe einsetzen. Mehr als irgend jemand, ist der wahre Liebende erfinderisch im Entdecken der Ursachen des Elends, im Finden der Mittel, es zu bekämpfen und zu besiegen. Der Friedensstifter "geht gerade seinen Weg, entzündet die Freude und verbreitet Licht und Gnade in den Herzen der Menschen auf der ganzen Welt, und lehrt sie über alle Grenzen hinweg das Antlitz von Brüdern, das Antlitz von Freunden, entdecken (51)".
Schluss
Entwicklung, der neue Name für Friede
76. Die zwischen den Völkern bestehenden übergroßen Unterschiede der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, wie auch der Lehrmeinungen, sind dazu angetan, Eifersucht und Uneinigkeit hervorzurufen und gefährden so immer wieder den Frieden. Nach der Rückkehr von Unserer Friedensreise zur UNO haben Wir vor den Konzilsvätern gesagt: "Die Daseinsbedingungen der Entwicklungsländer verdienen unsere gespannte Aufmerksamkeit, deutlicher gesagt; unsere Liebe zu den Armen in dieser Welt - und es sind unzählige Scharen - muß hellhöriger, aktiver, hochherziger werden (52)." Das Elend bekämpfen und der Ungerechtigkeit entgegentreten heißt nicht nur die äußeren Lebensverhältnisse bessern, sondern auch am geistigen und sittlichen Fortschritt aller arbeiten und damit zum Nutzen der Menschheit beitragen. Der Friede besteht nicht einfach im Schweigen der Waffen, nicht einfach im immer schwankenden Gleichgewicht der Kräfte. Er muß Tag für Tag aufgebaut werden mit dem Ziel einer von Gott gewollten Ordnung, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt (53).
77. Weil die Völker die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind, müssen sie selbst auch an erster Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen. Aber sie werden es nicht schaffen, wenn sie gegenseitig isoliert bleiben. Regionale Übereinkünfte unter den schwachen Völkern zu gegenseitiger Unterstützung, umfassende Hilfeleistungsabmachungen und noch gewichtigere Zusammenschlüsse und gemeinsame Vorhaben sind sozusagen Meilensteine auf dem Weg zur Entwicklung, der auch zum Frieden führt.
78. Diese internationale Zusammenarbeit auf Weltebene braucht Institutionen, die sie vorbereiten, aufeinander abstimmen, leiten, bis eine Rechtsordnung geschaffen wird, die allgemein anerkannt ist. Von ganzem Herzen ermutigen Wir die Organisationen, die bisher schon das Werk der kulturellen Entwicklung der Völker in die Hand genommen haben, und Wir wünschen, daß ihre Autorität wachse. "Ihre Aufgabe ist es", so sagten Wir vor den Vertretern der Vereinten Nationen in New York, "nicht einige, sondern alle Völker einander brüderlich näherzubringen.., Wer sieht nicht die Notwendigkeit ein, allmählich zur Errichtung einer die Welt umfassenden Autorität zu kommen, die imstande ist, auf der rechtlichen wie auf der politischen Ebene wirksam zu handeln? (54)"
79. Manche mögen solche Hoffnungen für utopisch halten. Es könnte aber sein, daß sich ihr Realismus als irrig erweist, daß sie die Dynamik einer Welt nicht erkannt haben, die brüderlicher leben will, die sich trotz ihrer Unwissenheit, ihrer Irrtümer, ihrer Fehler, ihrer Rückfälle in die Barbarei, ihres Abschweifens vom Weg des Heils, langsam, ohne sich darüber klar zu sein, ihrem Schöpfer nähert. Dieser Weg zu einer größeren Menschlichkeit verlangt Anstrengungen und Opfer. Aber auch die Widrigkeiten, angenommen aus Liebe zu unseren Brüdern, tragen bei zum Fortschritt der gesamten Menschheitsfamilie. Die Christen wissen sehr wohl, wieviel ihre Vereinigung mit dem Sühnopfer des göttlichen Erlösers beiträgt zur Erbauung des Leibes Christi (Eph 4,12), damit er nämlich seine Fälle erlangt in der Vereinigung des Volkes Gottes (55).
SCHLUSSMAHNUNG
80. Auf diesem Weg müssen wir alle solidarisch sein. Darum hatten Wir es für unsere Pflicht, allen die gewaltige Bedeutung dieses Anliegens und die dringende Notwendigkeit der Aufgabe vor Augen zu stellen. Jetzt schlägt die Stunde der Tat: das Leben so vieler unschuldiger Kinder, der Aufstieg so vieler unglücklicher Familien zu einem menschlichen Leben, der Friede der Welt, die Zukunft der Kultur, stehen auf dem Spiet. Alle Menschen, alle Völker haben ihre Verantwortung zu übernehmen.
81. Wir richten diesen Aufruf in erster Linie an Unsere Söhne. Denn auch in den Entwicklungsländern, genau sowie in den andern, müssen die Laien es als ihre Aufgabe erkennen, die irdischen Dinge in eine bessere Ordnung zu bringen. Wenn es die Aufgabe der Hierarchie ist, die für diesen Bereich geltenden sittlichen Grundsätze zu lehren und verbindlich zu interpretieren, dann ist es die Aufgabe der Laien, in freier Initiative und ohne erst träge Weisungen und Direktiven von anderer Seite abzuwarten, das Denken und die Sitten, die Gesetze und die Lebensordnungen ihrer Gemeinschaft mit christlichem Geist zu durchdringen (56). Wandlungen sind notwendig, tiefgreifende Reformen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse unumgänglich. Die sich damit befassen, müssen vor allem sich bemühen, die Reformen mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen. Besonders die Katholiken in den wohlhabenden Ländern bitten Wir, ihre Kenntnis und wirksame Hilfe den öffentlichen und privaten, den staatlichen und kirchlichen Organisationen zur Überwindung der Notlagen in den Entwicklungsländern zur Verfügung zu stellen. Es wird ihnen sicher ein Herzensanliegen sein, in der vordersten Linie derer zu stehen, die sich unablässig darum bemühen, daß wirklich bei alten Völkern die sittlichen Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit herrschen.
82. Weiter sind Wir sicher, daß alle, die sich als Christen bekennen und deshalb Unsere Brüder sind, ihre gemeinsame Anstrengung verdoppeln, um den Menschen zu helfen, über den Egoismus, den Stolz, die Rivalitäten und Streitigkeiten zu triumphieren. Ehrsucht und Ungerechtigkeiten zu überwinden, um allen den Weg zu einem menschlicheren Leben zu öffnen, wo jeder als Bruder von Brüdern geliebt und ihm geholfen wird. Ebenso sind Wir noch tief bewegt von der unvergeßlichen Begegnung, die Wir mit Männern aus verschiedenen nichtchristlichen Religionsgemeinschaften in Bombay hatten; auch diese Unsere Brüder laden Wir ein, mit ihrem Herzen und ihrer Intelligenz mitzuarbeiten, damit alle Menschenkinder ein der Kinder Gottes würdiges Leben führen können.
83. Schließlich wenden Wir Uns an alle Menschen guten Willens, die sich dessen bewußt sind, daß der Weg zum Frieden nur über den Fortschritt der Zivilisation und das Wachstum der verfügbaren Mittel führt. Delegierte bei den internationalen Organisationen, Staatsmänner, Publizisten, Erzieher und Lehrer, jeder an seinem Platz. Wir möchten euch darauf aufmerksam machen, ihr alle seid die Baumeister einer neuen Welt! Wir bitten den allmächtigen Gott, euren Verstand zu erleuchten, euren Mut zu stärken, um die öffentliche Meinung zu alarmieren und die Völker mitzureißen zur Mitarbeit an der Lösung dieser schwierigen Fragen. Erzieher, an euch ist's, schon in den Kindern die Liebe zu den notleidenden Völkern zu wecken! Publizisten, ihr müßt uns die Augen öffnen für das, was unternommen wird, um die gegenseitige Hilfe unter den Völkern in Gang zu bringen, aber auch für das bejammernswerte Bild des Elends, vor dem die Menschen nur zu leicht den Blick abwenden, um in ihrer Ruhe nicht gestört zu werden! Die Reichen sollen wenigstens wissen, daß die Armen vor ihrer Tür stehen und auf die Brosamen von ihren Tischen warten.
84. Staatsmänner, ihr habt die Pflicht, eure Völker zu einer wirksameren weltweiten Solidarität zu mobilisieren, sie davon zu überzeugen, daß Abstriche au verschwenderischen Ausgaben notwendig sind zugunsten der Entwicklungshilfe und zur Sicherung des Friedens! Delegierte der internationalen Organisationen, ihr vermögt viel, um an die Stelle der gefährlichen und unfruchtbaren militärischen Blockbildungen eine freundschaftliche, friedliche, selbstlose Zusammenarbeit zu einer solidarischen Entwicklung der Menschheit zu setzen, die allen Menschen Gelegenheit zu reicherer Entfaltung bietet!
85. Da die Menschen - wie man gestehen muß - oft genug nur deshalb verkehrt handeln, weil sie diese Dinge nicht genug bedenken, deshalb rufen Wir alle besonnenen und weisen Menschen auf, Katholiken, Christen, jene, die Gott verehren, jene, die nach der höchsten Wahrheit und der Gerechtigkeit verlangen: alle Menschen guten Willens. Mit den Worten Christi bitten Wir sie inständig: "Suchet und ihr werdet finden (Lk 11,9)", erschließt den Menschen die Wege zu gegenseitiger Hilfe, zu vertieftem Wissen, zu einem weiten Herzen, zu einem brüderlichen Leben in der einen, wahrhaft universalen Gemeinschaft der Menschen.
86. Ihr alle, die ihr den Ruf der notleidenden Völker gehört habt, ihr alle, die ihr euch müht, darauf zu antworten, euch alle betrachten Wir als Apostel einer wahren und gesunden Entwicklung. Diese besteht nicht in egoistischem und um seiner selbst willen erstrebtem Reichtum, sondern in einer Wirtschaftsgestaltung im Dienst des Menschen, im täglichen Brot für alle. Da liegt die Quelle der Brüderlichkeit, hier wird die Hilfe der Fürsorge Gottes sichtbar. dargestellt.
87. Von ganzem Herzen segnen Wir euch, und Wir rufen alle Menschen guten Willens auf, sich mit euch brüderlich zu verbinden. Denn wenn heute niemand mehr bezweifeln kann, daß Entwicklung gleichbedeutend ist mit Frieden, wer wollte dann nicht mit ganzer Kraft an dieser Entwicklung mitarbeiten? Gewiß niemand. Darum laden Wir alle ein, auf Unsern Ruf der Sorge eine hochherzige und mutvolle Antwort zu geben im Namen des Herrn.
Gegeben zu Rom bei St. Peter am Osterfest, dem 26. März 1967, im vierten Jahre Unseres Pontifikates.
PAULUS PP. VI.
ANMERKUNGEN
(1) PAUL PP. VI., Enzyklika Populorum progressio über die Entwicklung der Völker, [An die Bischöfe, die Priester, die Ordensleute, die Gläubigen der gesamten katholischen Welt und an alle Menschen guten Willens ], 26. März 1967: AAS 59 (1967), S. 257-299.
(2) Vgl. Acta Leonis XIII., t. XI (1892) 97-148.
(3) Vgl. AAS 23 (1931), S. 177-228
(4) Vgl. Besonders: Rundfunkbotschaft vom 1. Juni 1941 zum 50jährigen Jubiläum von Rerum novarum: AAS 33 (1941) 195-205; Weihnachtsbotschaft 1942: AAS 35 (1943) 9-24; Ansprache an die katholische Arbeiterbewegung Italiens anläßlich der jährlichen Gedenkfeier von Rerum novarum am 14. Mai 1953: AAS 45 (1953) 402-408.
(5) Vgl. AAS 53 (1961), S. 401-464
(6) Vgl. AAS 55 (1963), S. 257-304
(7) Vgl. Enzyklika Mater et Magistra: AAS 53 (1961), S. 440
(8) Vgl. Gaudium et spes Nr. 72: AAS 58 (1966), S. 1084
(9) Motu Proprio Catholicam Christi Ecclesiam, 6. Januar 1967: AAS 59 (1967), S. 27
(10) Vgl. LEO XIII., Enzyklika Rerum novarum, 15. Mai 1891: Acta Leonis XIII, XI (1892), p. 98
(11) Vgl. Gaudium et spes Nr. 63: AAS 58 (1966). S. 1085
(12) Vgl. Gaudium et spes Nr.3, § 2.
(13) Vgl. Enzyklika Immortale Dei, 1. November 1885: Acta Leonis XIII., t. V. (1885) 127.
(14) Gaudium et spes Nr.4, § 1.
(15) Vgl. L.-J. Lebret OP, Dynamique concrète du développement (Economie et Humanisme) (Paris 1961), Les Editions Ouvrières, 28.
(16) Vgl. J. Maritain, Les conditions spirituelles du progrès et de la paix:, in: Rencontres des cultures à l'UNESCO sous le signe du Concile oecuménique Vatican II (Paris 1966) Mame 66.
(17) Vgl. Gaudium er spes Nr. 69, § 1.
(18) De Nabuthe (Über Naboth) c. 12, n. 53 PL 14, 747 - vgl. R. Palanque, Saint Ambroise et l'empire romain (Paris 1953) de Broccard, 336 ff.
(19) Vgl. Brief an die Semaine sociale zu Brest, in: L'homme et la révolution urbaine (Lyon 1965) Chronique sociale, 8 f.
(20) Vgl. Gaudium er spes Nr. 71, § 6.
(22) Enzyklika Quadragesimo anno, 15. Mai 1931: AAS 23 (1931) 212.
(23) Vgl. z. B. Colin Clark, The conditions of economic progress (London3 1960) Macmillan & Co. New York) St. Martin's Press, 3-6.
(24) Vgl. Brief an die Semaine sociale von Lyon, in: Le travail et les travailleurs dans la société contemporaine (Lyon 1965) Chronique sociale, 6.
(25) Vgl. Z. B. M.-D. Chenu OP, Pour une théologie du travial (Paris 1965) Editions du Seuil.
(26) Vgl. Mater et Magistra: AAS (1961) 423.
(27) Vgl. z. B. Oswald von Nell-Breuning SJ, Wirtschaft und Gesellschaft Bd. 1 Grundfragen Freiburg 1956 - Herder), 183-184.
(28) Vgl. z.B. Mgr. M. Larrain Errazuriz, Bischof von Talca (Chile), Präsident der CELAM, Hirtenschreiben über die Entwicklung und den Frieden (Paris 1965) Pax Christi.
(29) Vgl. Gaudium er spes Nr.25, § 4.
(30) Vgl. Mater et Magistra: AAS 53 (1961) 414.
(31) Vgl. L'Osservatore Romano, 11. September1965.
(32) Vgl. Gaudium er spes Nr.52, § 2.
(33) Vgl. ebd. Nr. 50-51 (mit Fußnote 14), Nr.87, § 2 und 3.
(35) Gaudium et spes Nr.57, § 4.
(37) Vgl. z. B. J. Maritain, L'humanisme intégral (Paris 1936) Aubier.
(38) Vgl. H. de Lubac SJ, Le drame de 1'humanisme athée (Paris 1945) Spes, 10.
(39) Vgl. Pensées, ed. Braunschweig Nr. 434 - Vgl. M. Zundel, L'homme passe l'homme (Kairo 1944) Editions du lien.
(40) Vgl. Ansprache an die Vertreter der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften, 3. Dezember 1964: AAS 57 (1965)132.
(41) Vgl. Mater et Magistra: AAS 53 (1961) 440.
(42) Vgl. AAS 56 (1964) 57-58.
(43) Vgl. Encicliche e Discorsi di Paolo VI (Rom 1966) ed. Paoline, t. IX., 132-136.
(44) Vgl. Gaudium er spes Nr. 86, § 3.
(45) Botschaft an die Journalisten in Begleitung des Hl. Vaters auf der Reise nach Bombay, 4. Dezember 1964: AAS 57 (1965)135.
(46) Vgl. AAS 56 (1964) 639 f.
(47) Vgl. Acta Leonis XIII. (1892) 131.
(49) Vgl. Gaudium et spes Nr.58, § 2.
(50) Vgl. Enzyklika Fidei Donum, 21. April 1957: AAS 49 C1957) 246.
(51) Ansprache Johannes' XXIII. anläßlich der Überreichung des Balzanpreises, 10. Mai 1963: AAS 55 (1963) 455.
(53) Vgl. Enzyklika Pacem in terris, 11.Apr.1963: AAS 55 (1963) 301.
(55) Vgl. Lumen gentium Nr. 13.
(56) Vgl. Apostolicam actuositatem Nr.7, 13-24.
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