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INTERVIEW MIT PAPST FRANZISKUS
IN EINER AUFGEZEICHNETEN VIDEOKONFERENZ DES
AMERIKANISCHEN FERNSEHSENDERS ABC

[Multimedia]


(aus L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache. 45. Jahrgang, Nr. 38, 18. September 2015)

»Euch begegnen zu können, erfüllt mich mit Hoffnung. Ich bete für euch, für die ganze amerikanische Bevölkerung, und ich bitte euch, für mich zu beten. Danke.«

Mit diesen Worten »verabredete« sich der Papst mit den US-amerikanischen Gläubigen für seine Reise, die vom kommenden 23. bis 28. September auf dem Programm steht und ihn nach Washington, New York und Philadelphia führen wird. Der Papst sprach diese Worte zum Abschluss einer Videokonferenz, die in den vergangenen Tagen aufgezeichnet und am Abend des 4. September von dem Fernsehsender ABC ausgestrahlt wurde, dessen Moderator David Miur in den Vatikan gekommen war. Der Papst hatte sich über Satellit mit drei verschiedenen Gruppen verbunden: mit den Schülern des Jesuitenkollegs »Christkönig« im historischen Zentrum von Chicago, das sich der vorbereitenden Ausbildung von armen und ausgegrenzten Jugendlichen widmet; mit obdachlosen Frauen und Männern aus Los Angeles und freiwilligen Helfern, die sich um sie kümmern; mit den Gläubigen der Pfarrei »Herz Jesu« in McAllen, Texas, die in der Nähe der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko liegt. Die Übertragung dauerte etwa anderthalb Stunden, während derer der Papst auf Spanisch und mit einigen Worten auf Englisch antwortete. Im Folgenden veröffentlichen wir die Worte des Heiligen Vaters und eine Zusammenfassung der Zeugnisse und Fragen seiner Gesprächspartner.

Einen herzlichen Gruß. Einen herzlichen Gruß an die katholische Gemeinschaft der Vereinigten Staaten und an alle Bürger der Vereinigten Staaten. Das ist meine Botschaft, ein herzlicher  Gruß.

Im Jesuitenkolleg von Chicago gab Valery Herrera Zeugnis. Sie sprach über ihre Hautkrankheit und wie sie die Schwierigkeiten mit Hilfe der Familie und ihrem Einsatz in einem Chor überwunden habe. Die Musik habe ihr auch geholfen, sich dem Glauben zu nähern und sich weniger allein zu fühlen. Sie würde sich gerne an der Universität einschreiben – sie wäre die erste in der Familie – und Pharmazie studieren. Sie fragte den Papst, was er von den Jugendlichen erwarte.

Papst Franziskus: Valery, ich würde dich gerne singen hören. Darf ich dich bitten, ein Lied für mich zu singen? Ich warte, damit du es tust. Komm nach vorne, weiter, nur Mut! [Valery singt ein Lied.] Danke, das war sehr freundlich von dir. Und meine erste Antwort auf deine Frage ist: Was ich von den Jugendlichen erwarte, ist, dass sie nicht allein durch das Leben gehen. Das ist der erste Schritt, aber ich erwarte noch viele andere Dinge. Dass sie den Mut haben, mit der Liebe und Zärtlichkeit der anderen auf dem Weg zu sein. Dass sie jemanden finden – du hast zur Jungfrau Maria gesungen, dass sie dich auf den Armen tragen und dich beim Vorangehen an die Hand nehmen möge –, der ihnen in ihrem Leben hilft, voranzugehen. Im Leben ist es sehr sehr schwierig, allein den Weg zu gehen. Man verirrt sich, ist verwirrt, kann einen falschen Weg einschlagen oder wie in einem Labyrinth umherirren oder, schlimmer noch, man kann stehen bleiben, weil man des Laufens müde ist. Auf dem Weg sein, immer an der Hand von jemandem, der dich liebt, von jemandem, der dir Zärtlichkeit schenkt. Und du hast dies zu Unserer Lieben Frau gesagt.

An der Hand Jesu zu gehen, an der Hand der Jungfrau Maria, das schenkt Sicherheit. Das ist das erste, was ich von den jungen Menschen erwarte: dass sie sich begleiten lassen, aber von guter Gesellschaft, das heißt, dass sie in guter Begleitung ihren Weg gehen. In meinem Land gibt es ein Sprichwort, das lautet: »Lieber allein als in schlechter Gesellschaft.« Das ist wahr, aber geht in Gemeinschaft. Jeder junge Mensch muss im Leben jemanden suchen, der ihm auf seinem Weg hilft: das kann sein Vater sein, seine Mutter, ein Verwandter, ein Freund, ein Großvater, eine Oma – die Großeltern geben solche guten Ratschläge! –, ein Lehrer, jemand der dir hilft, dich mit den Dingen des Lebens auseinanderzusetzen. In Begleitung gehen, das ist das erste.

Zweitens: Von den Jugendlichen erwarte ich, dass sie mutig vorangehen. Dir ist es vorhin schwergefallen, den ersten Schritt zu tun auf diesem Weg, um den ich dich gebeten habe, das heißt ein Lied zu singen. Du warst aufgeregt, wusstest nicht, wie du es tun sollst, aber du warst mutig und hast den ersten Schritt getan, und du hast sehr gut gesungen. Mach weiter mit dem Singen, du singst sehr gut. Das heißt der Mut, den ersten Schritt zu tun, den Mut, weiterzugehen. Wisst ihr, wie traurig es ist, einen jungen Menschen zu sehen, der nicht mutig ist? Das ist ein trauriger Jugendlicher, ein Jugendlicher mit einem Gesicht wie bei einer Beerdigung, ein Jugendlicher ohne Freude. Der Mut gibt dir Freude, und die Freude gibt dir Hoffnung, die eine Gabe Gottes ist, ganz klar. Es ist wahr, dass es auf dem Lebensweg Schwierigkeiten gibt, und zwar viele. Habt keine Angst vor den Schwierigkeiten! Seid vorsichtig, seid aufmerksam, aber habt keine Angst! Ihr habt die Kraft, sie zu überwinden. Erschreckt nicht, bleibt nicht stehen! Es gibt nichts Schlimmeres als einen Jugendlichen, der vor der Zeit in Rente geht. Ich weiß nicht, wann man in den Vereinigten Staaten pensioniert wird, aber könnt ihr euch einen Jugendlichen mit 25 Jahren in Rente vorstellen? Schrecklich! Geht immer voran, mit Mut und Hoffnung. Und Gott wird euch die Hoffnung schenken, wenn ihr ihn darum bittet. Das ist meine Antwort, Valery. Und danke für das Lied.

Anschließend gab Alexandra Vázquez aus Chicago Zeugnis, worauf der Papst sagte: »Danke, Alexandra. Geh weiter auf dem Weg. Gott segne dich.« Es folgte die Live-Schaltung nach Los Angeles, wo Menschen versammelt waren, die in verschiedenen Aufnahmeeinrichtungen für Arme und Obdachlose leben. Der 19-jährige Marcos, dessen Traum es ist, Musiker zu werden, stellte die Frage, warum die Reise in die Vereinigten Staaten für den Papst so wichtig sei.

Papst Franziskus: Für mich ist sie sehr wichtig, weil ich euch begegnen werde, den Bürgern der Vereinigten Staaten, die ihr eure Geschichte habt, eure Kultur, eure Tugenden, Frohes und Trauriges, eure Probleme wie alle. Ich stehe im Dienst aller Teilkirchen und aller Männer und Frauen guten Willens. Für mich ist eine Sache sehr wichtig, und das ist die Nähe. Mir fällt es schwer, den Menschen nicht nahe zu sein. Wenn ich mich dagegen den Menschen nähere, wie ich es bei euch tun werde, dann fällt es mir leichter, sie zu verstehen und ihnen auf dem Weg des Lebens zu helfen. Deshalb ist diese Reise sehr wichtig, um eurem Weg und eurer Geschichte nah zu sein.

Es folgte das eindrückliche Zeugnis von Rosemary, einer ledigen Mutter mit ihren beiden Töchtern. Nachdem sie in einer Aufnahmeeinrichtung gelebt hatte, hat sie jetzt eine Wohnung für sich und ihre Kinder erhalten.

Papst Franziskus: Danke, Rosemary, für dein Zeugnis. Ich möchte dir etwas sagen. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, eine ledige Mutter zu sein. Ich weiß, dass die Leute euch manchmal schief ansehen, aber ich sage dir etwas: Du bist eine mutige Frau, weil du in der Lage warst, diese beiden Töchter zur Welt zu bringen. Du hättest sie töten können, als sie in deinem Bauch waren, aber du hast das Leben respektiert, du hattest Achtung vor dem Leben, das du in dir trugst. Und Gott wird dich dafür belohnen, er belohnt dich. Schäme dich nicht, geh erhobenen Hauptes. »Ich habe meine Töchter nicht getötet, ich habe sie zur Welt gebracht!« Ich beglückwünsche dich, und Gott segne dich!

Schließlich folgte die Schaltung nach Texas, wo Ricardo, der im Alter von vier Jahren immigriert war, über sein Leben sprach. Nach einem Unfall seines Vaters musste er als 16-Jähriger eine Zeitlang für seine Familie sorgen, die aus sechs Personen bestand. Dann hat sein Vater ihn wieder abgelöst und ihm auch geholfen, sein Studium zu finanzieren. Seine Frage berührte einige der aktuellen sozialen Probleme – Armut, Bildungssystem, Immigration – und mögliche Lösungen.

Papst Franziskus: Wenn ich deine Geschichte höre, dann kann ich dir sagen, dass das Leben aus dir noch vor der Zeit einen Vater gemacht hat, weil du während der Krankheit deines Vaters für die Familie sorgen musstest, als du noch sehr jung warst. Aber du konntest es tun, weil dein Vater den Mut hatte, dich in den Weg der Arbeit und des Kämpfens einzuführen, und danach den Mut, dich um den Preis von Opfern studieren zu lassen. In diesem Leben gibt es viele Ungerechtigkeiten, und als Gläubiger, als Christ, weißt du, dass der erste, der sie auf sich genommen hat, Jesus war. Jesus wurde auf dem Weg geboren, er wurde geboren wie ein Obdachloser, seine Mutter hatte keinen Ort, an dem sie gebären konnte. Man muss immer auf Jesus schauen. Du fragst mich wie. Wenn wir auf Jesus blicken, dann legen wir einen weiteren Schritt zurück. Gott spricht manchmal zu uns mit Worten, wie in der Bibel, er sagt uns sein Wort. Gott spricht manchmal zu uns mit Gesten durch die Geschichte, durch die Situationen. Und Gott spricht oft, sehr oft, zu uns mit seinem Schweigen. Wenn ich sehe – das ist es, was du mich gefragt hast –, wie viele Menschen Hunger leiden, nicht das Notwendige zum Wachsen, für die Gesundheit haben, in jungem Alter sterben, nicht das Notwendige für die Bildung haben… Wie viele Menschen haben kein Zuhause, wie viele Menschen verlassen heute, das sehen wir jetzt, das eigene Land auf der Suche nach einer besseren Zukunft und sie sterben; so viele sterben auf dem Weg. Dann blicke ich auf Jesus am Kreuz und entdecke das Schweigen Gottes. Das erste Schweigen Gottes liegt im Kreuz Jesu. Es war die größte Ungerechtigkeit der Geschichte und Gott schwieg. Jetzt werde ich in meiner Antwort auf anderen Ebenen konkreter sein, aber vergiss nicht, dass Gott zu uns spricht mit Worten, mit Gesten und mit Schweigen. Und das, was du mich gefragt hast, versteht man nur im Schweigen Gottes, und das Schweigen Gottes verstehen wir nur, wenn wir auf das Kreuz blicken. Was tun? Die Welt muss sich bewusster werden, dass die gegenseitige Ausbeutung nicht der Weg ist. Wir alle sind geschaffen für die soziale Freundschaft. Jeder hat eine Verantwortung für jeden anderen. Niemand kann sagen: »Meine Verantwortung geht bis hier.« Alle sind wir für alle verantwortlich, und wir müssen einander so helfen, wie jeder es kann. Soziale Freundschaft, dafür hat Gott uns geschaffen. Aber es gibt ein sehr hässliches Wort, das auch auf den ersten Seiten der Bibel auftaucht. Gott sagt zum Satan, dem Vater der Lüge, zur Schlange: »Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau.« Und das Wort Feindschaft ist im Laufe der Geschichte gewachsen, und kurze Zeit später gab es die erste Feindschaft zwischen Brüdern: Kain tötet Abel. Das war die erste Ungerechtigkeit. Von da an gab es Kriege, Zerstörung. Von da an Hass. Mit Worten aus dem Fußball würde ich dir sagen, dass das Match stattfindet zwischen der sozialen Freundschaft und der sozialen Feindschaft. Die Entscheidung muss jeder in seinem Herzen treffen, und wir müssen helfen, diese Entscheidung im Herzen zu treffen. Die Flucht in Abhängigkeiten und Gewalt ist keine Hilfe. Helfen können nur die Nähe und dass ich meinerseits gebe, was ich geben kann, so wie du alles gegeben hast, was du konntest, als du als Heranwachsender für deine Familie gesorgt hast. Vergiss das nicht, die soziale Freundschaft gegen das Angebot der Welt, das die soziale Feindschaft ist: »Hilf dir selbst, und der andere soll allein sehen, wie er zurechtkommt!« Das ist nicht der Plan Gottes. Das kommt mir in den Sinn, um es dir zu sagen, während ich dir auch meine Bewunderung zum Ausdruck bringe. Das Leben hat dich wie ein Vater werden lassen, als du sehr jung warst. Wenn du wirklich Vater sein und eigene Kinder haben wirst, dann mögest du sie weiter auf diesem Weg erziehen können, den du von deinem Vater gelernt hast. Danke.

Zum Schluss kam Vilma zu Wort, die eine elektronische Fußfessel tragen muss, weil sie illegal aus El Salvador eingewandert ist: sie wollte ihrem Sohn Ernesto, der mit einer angeborenen Augenkrankheit zur Welt kam und deshalb nicht sehen kann, Hoffnung auf ein besseres Leben schenken. Sie bat den Papst um einen Segen, den er ihr auch erteilte. Franziskus hatte auf dem Bildschirm eine Ordensschwester – Schwester Norma – gesehen und sagte zu ihr:

Papst Franziskus: Schwester, durch Sie möchte ich allen Ordensschwestern der Vereinigten Staaten danken. Die Arbeit, die ihr Ordensschwestern in den Vereinigten Staaten getan habt und tut, ist großartig. Ich beglückwünsche euch. Ihr seid mutig. Geht voran, immer an vorderster Front. Und ich sage euch noch etwas – Ist das schlecht, wenn der Papst das sagt? Ich weiß es nicht –: Ich habe euch sehr gern! Die Videokonferenz schloss mit dem Zeugnis von Wendy, einem elfjährigen Mädchen, das gerade erst mit seiner Mutter aus El Salvador gekommen war. Sie hatten das Land verlassen wegen der von den Banden ausgeübten Gewalt. Nachdem sie weinend von den dramatischen Tagen der Reise erzählt hatte, zeigte sie dem Papst eine Zeichnung. Franziskus erhielt auch ein von den Schülern aus Chicago angefertigtes Kreuz als Geschenk.

 



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