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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DEN SICHERHEITSRAT DER VEREINTEN NATIONEN  

Mittwoch, 14. Juni 2023

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Frau Präsidentin des Sicherheitsrates,
Herr Generalsekretär,
lieber Bruder, Großimam von Al-Azhar,
meine Damen und Herren!

Ich bedanke mich für die freundliche Einladung, mein Wort an Sie zu richten, die ich gerne angenommen habe, weil wir uns in einem entscheidenden Augenblick für die Menschheit befinden, in dem der Friede dem Krieg zu unterliegen scheint. Die Konflikte nehmen zu, und die Stabilität gerät immer mehr in Gefahr. Wir erleben derzeit einen dritten Weltkrieg in Stücken, der sich mit der Zeit immer mehr zu erweitern scheint. Der Rat, dessen Auftrag es ist, über Sicherheit und Frieden in der Welt zu wachen, erscheint in den Augen der Völker zuweilen machtlos und gelähmt. Ihre vom Heiligen Stuhl sehr geschätzte Arbeit ist jedoch wesentlich, um den Frieden zu fördern, und gerade deshalb möchte ich Sie dringend ersuchen, sich den gemeinsamen Problemen zu stellen, indem Sie sich von Ideologien und Partikularismen, von eigennützigen Ansichten und Interessen distanzieren und ein gemeinsames Anliegen verfolgen: sich für das Wohl der gesamten Menschheit einzusetzen. Denn vom Rat wird erwartet, dass er »die Charta der Vereinten Nationen mit Transparenz und Aufrichtigkeit und ohne Nebenabsichten als obligatorischen rechtlichen Bezugspunkt beachtet und anwendet und nicht als ein Mittel, um unlautere Absichten zu tarnen«.1

In der heutigen globalisierten Welt sind wir uns alle näher, aber nicht deshalb auch geschwisterlicher. Im Gegenteil, wir leiden an einem Mangel an Geschwisterlichkeit, der aus vielen Situationen der Ungerechtigkeit, der Armut und der Missstände, des Mangels an einer Kultur der Solidarität hervorgeht. »Die neuen Ideologien, die durch verbreiteten Individualismus, Egozentrismus und materialistischen Konsumismus gekennzeichnet sind, schwächen die sozialen Bindungen, indem sie jene Mentalität der ›Aussonderung‹ fördern, die dazu verleitet, die Ärmsten, diejenigen, die als ›nutzlos‹ betrachtet werden, zu verachten und zu verlassen. So wird das menschliche Zusammenleben einem bloßen pragmatischen und egoistischen ›Do ut des‹ immer ähnlicher.«2  Die schlimmste Auswirkung dieses Mangels an Geschwisterlichkeit sind jedoch die bewaffneten Konflikte und die Kriege, die nicht nur Menschen, sondern ganze Völker zu Feinden machen und deren negative Folgen sich über Generationen auswirken. Mit der Entstehung der Vereinten Nationen schien es, dass die Menschheit gelernt hätte, sich nach zwei schrecklichen Weltkriegen auf einen stabileren Frieden auszurichten und endlich zu einer Familie von Nationen zu werden. Es scheint jedoch, dass das Rad der Geschichte erneut zurückgedreht wird, mit dem Wiederaufleben verbohrter, übertriebener, wütender und aggressiver Nationalismen, die nicht nur anachronistische und überwundene, sondern sogar noch gewaltsamere Konflikte ausgelöst haben.3

Als Mann des Glaubens bin ich überzeugt, dass der Friede der Traum Gottes für die Menschheit ist. Ich stelle jedoch leider fest, dass dieser wunderbare Traum sich aufgrund des Krieges in einen Albtraum verwandelt. Gewiss, unter wirtschaftlichem Aspekt ist der Krieg oft attraktiver als der Frieden, da er die Verdienste fördert, aber immer nur jene weniger Menschen und zum Schaden des Wohlergehens ganzer Völker; daher sind die durch Waffenverkäufe erzielten Verdienste Gelder, die mit unschuldigem Blut besudelt sind. Man braucht mehr Mut, um auf leichten Profit zu verzichten und den Frieden zu bewahren, als immer höher entwickelte und stärkere Waffen zu verkaufen. Man braucht mehr Mut, um die Begegnung anstelle der Auseinandersetzung zu fördern, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, statt die Feindseligkeiten fortzusetzen.

Um den Frieden aufzubauen, müssen wir die Logik der Rechtmäßigkeit des Krieges hinter uns lassen: Wenn diese in vergangenen Zeiten, in denen bewaffnete Konflikte eine beschränktere Tragweite hatten, Gültigkeit haben konnte, so ist heute mit den Atom- und Massenvernichtungswaffen das Schlachtfeld praktisch unbegrenzt und die Auswirkungen sind potenziell katastrophal geworden. Es ist an der Zeit, ernsthaft »Nein« zu sagen zum Krieg, zu sagen, dass nicht die Kriege gerecht sind, sondern dass nur der Friede allein gerecht ist: ein stabiler und dauerhafter Friede, nicht aufgebaut auf dem brüchigen Gleichgewicht der Abschreckung, sondern auf der Geschwisterlichkeit, die uns verbindet. Denn wir sind unterwegs auf derselben Erde, alle Brüder und Schwestern, Bewohner des einen gemeinsamen Hauses, und wir dürfen den Himmel, unter dem wir leben, nicht mit Wolken der Nationalismen verdunkeln. Wo soll das enden, wenn jeder nur an sich selbst denkt? Daher müssen alle, die sich für den Aufbau des Friedens einsetzen, die Geschwisterlichkeit fördern. Es ist eine kunstfertige Arbeit, die Leidenschaft und Geduld, Erfahrung und Weitblick, Ausdauer und Hingabe, Dialog und Diplomatie erfordert. Und Hören: Hören auf den Schrei derer, die aufgrund der Konflikte leiden, insbesondere der Kinder. Ihre mit Tränen gefüllten Augen verurteilen uns; die Zukunft, die wir ihnen bereiten, wird das Gericht über unsere gegenwärtigen Entscheidungen sein.

Der Friede ist möglich, wenn man ihn wirklich will! Er sollte im Sicherheitsrat »seine grundlegenden Charakterzüge wiederfinden, die ein irriger Friedensbegriff leicht vergessen lässt: der Frieden muss vernünftig, nicht leidenschaftlich sein, hochherzig und nicht egoistisch; der Frieden darf nicht träge und passiv sein, sondern dynamisch, aktiv und auf Fortschritt ausgerichtet, je nachdem berechtigte Forderungen der erklärten und ausgeglichen formulierten Menschenrechte neue und bessere Ausdrucksformen verlangen; der Frieden darf nicht schwach, unfähig und knechtisch sein, sondern stark, sei es durch die moralischen Gründe, die ihn rechtfertigen, oder sei es durch die einmütige Zustimmung der Nationen, die ihn aufrechtzuerhalten haben«4 .

Wir haben immer noch Zeit, ein neues Kapitel des Friedens in der Geschichte zu schreiben: Wir können dafür sorgen, dass der Krieg der Vergangenheit und nicht der Zukunft angehört. Die Debatten im Sicherheitsrat sind darauf hingeordnet und dienen zu diesem Zweck. Ich möchte noch einmal ein Wort hervorheben, das ich gerne immer wieder sage, da ich es als entscheidend erachte: Geschwisterlichkeit. Sie darf keine abstrakte Idee bleiben, sondern muss zum konkreten Ausgangspunkt werden: Denn sie ist »eine wesentliche Dimension des Menschen, der ein relationales Wesen ist. Das lebendige Bewusstsein dieser Bezüglichkeit bringt uns dazu, jeden Menschen als wirkliche Schwester bzw. wirklichen Bruder zu sehen und zu behandeln; ohne dieses Bewusstsein wird es unmöglich, eine gerechte Gesellschaft und einen gefestigten, dauerhaften Frieden aufzubauen«.5

Für den Frieden, für jede Friedensinitiative und jeden Friedensprozess sichere ich meine Unterstützung, mein Gebet und das der katholischen Gläubigen zu. Ich wünsche von Herzen, dass nicht nur der Sicherheitsrat, sondern die ganze Organisation der Vereinten Nationen, ihre Mitgliedstasten und ein jeder ihrer Funktionäre in der Lage sein werden, der Menschheit einen nachhaltigen Dienst zu leisten, indem sie die Verantwortung auf sich nehmen, nicht nur die eigene Zukunft zu bewahren, sondern die Zukunft aller Menschen, mit dem Mut, heute furchtlos das zu erneuern, dessen es bedarf, um die Geschwisterlichkeit und den Frieden des ganzen Planeten zu fördern. »Selig, die Frieden stiften« (Mt 5,9).
 

Fußnoten

1 Ansprache an die Mitglieder der UN-Generalversammlung, 25. September 2015.

2 Botschaft zur Feier des 47. Weltfriedenstages, 1. Januar 2014.

3 Vgl. Enzyklika Fratelli tutti , 11.

4 Hl. Paul VI., Botschaft zum 6. Weltfriedenstag, 1. Januar 1973.

5 Botschaft zur Feier des 47. Weltfriedenstages, 1. Januar 2014.



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