JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 21. November 2001
Siegeshymnus für den Durchzug durchs Rote Meer
(Lesung: Ex 15,1-4a.13.17).
1. Dieser Siegeshymnus (vgl. Ex 5,1 –18), der in den Laudes am Samstag der ersten Woche vorkommt, führt uns zu einem Schlüsselereignis der Heilsgeschichte zurück: zu den Geschehnissen des Exodus, als das Volk Israel in einer nach menschlichem Ermessen verzweifelten Situation von Gott gerettet wurde. Die Umstände sind bekannt: Nach der langen Sklaverei in Ägypten hatten sich die Juden auf den Weg ins Gelobte Land gemacht; dabei wurden sie aber von der Streitmacht des Pharaos eingeholt, und nichts hätte sie vor der Vernichtung bewahrt, wenn der Herr nicht mit seiner starken Hand eingegriffen hätte. Der Hymnus beschreibt detailliert die Überheblichkeit in den Vorhaben des bewaffneten Feindes: »Ich jage nach, hole ein. Ich teile die Beute« (Ex 5,9).
Doch was vermag selbst das größte Heer angesichts der göttlichen Allmacht? Gott gebietet dem Meer, einen Durchgang für das angegriffene Volk zu schaffen und sich beim Durchzug der Angreifer zu schließen: »Da schnaubtest du, Sturm. Das Meer deckte sie zu. Sie sanken wie Blei ins tosende Wasser« (Ex 15,10 ).
Es sind eindrucksvolle Bilder, die das Ausmaß der Größe Gottes vermitteln wollen, wobei sie das Erstaunen eines Volkes zum Ausdruck bringen, das seinen Augen fast nicht glauben kann und einstimmig einen ergriffenen Gesang anstimmt: »Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden. Er ist mein Gott, ihn will ich preisen; den Gott meines Vaters will ich rühmen« (Ex 5,2).
2. Das Canticum spricht nicht nur von der wiedergewonnenen Freiheit; es weist auch auf ihren positiven Zweck hin, nämlich auf den Eintritt in die Wohnung Gottes, um in Gemeinschaft mit ihm zu leben: »Du lenktest in deiner Güte das Volk, das du erlöst hast, du führtest sie machtvoll zu deiner heiligen Wohnung« (Ex 15,13 ).So ver standen war dieses Ereignis nicht nur Grundlage des Bundes zwischen Gott und seinem Volk, sondern es wurde gewissermaßen zum »Symbol« der ganzen Heilsgeschichte. Das Volk Israel wird viele ähnliche Situationen erleben, und auch dann wird es jedes Mal zu einem Exodus kommen. Im besonderen nimmt jenes Geschehnis die große Befreiung vorweg, die Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung verwirklichen wird.
Deshalb erklingt unser Hymnus auf ganz besondere Weise in der Liturgie der Osternacht, um mit der Intensität seiner Bilder darzustellen, was sich in Christus erfüllt hat. In ihm wurde uns die Rettung zuteil, allerdings nicht vor einem menschlichen Unterdrücker, sondern vor der Sklaverei Satans und der Sünde, die seit Anbeginn auf dem Schicksal der Menschheit lastet. Mit ihm macht sich die Menschheit erneut auf den Weg, auf jenen Pfad, der zum Haus des Vaters zurückführt.
3. Diese Befreiung,im Mysterium schon verwirklicht und in der Taufe als zum Wachsen bestimmter Lebenssamen bereits gegenwärtig, wird ihre Fülle am Ende der Zeiten erreichen, wenn Christus in Herrlichkeit zurückkehrt und die »Herrschaft Gott,dem Vater,übergibt« (1 Kor 5,24). Das Stundengebet lädt uns ein,genau auf diesen endgültigen, eschatologischen Horizont zu schauen, wenn es das Canticum mit einem Zitat aus dem Buch der Offenbarung eröffnet: »Die Sieger über das Tier […] sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes« (Offb 5,2.3).
Am Ende der Zeiten wird sich für alle Geretteten all das vollkommen verwirklichen, was das Geschehen des Auszugs aus Ägypten vorwegnahm und was das Osterereignis Christi in endgültiger, aber für die Zukunft offener Weise gewirkt hat. Unsere Rettung ist nämlich wahrhaftig und tiefgreifend, ber sie steht zwischen dem »schon« und dem »noch nicht« des irdischen Zustands, wie der Apostel Paulus uns sagt: »Wir sind gerettet, doch in der Hoffnung« (Röm 8,24).
4. »Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch erhaben« (Ex 5,). Indem uns das Stundengebet diese Worte des antiken Hymnus auf die Lippen legt, fordert es uns auf, unseren Tag in den großen Horizont der Heilsgeschichte zu stellen. Das ist die christliche Art, den Lauf der Zeit wahrzunehmen. In der Aufeinanderfolge der Tage gibt es nicht etwa eine uns niederdrückende Fatalität, sondern einen Plan, der sich entwickelt: Hierbei müssen unsere Augen lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.
Diese heilsgeschichtliche Perspektive war den Kirchenvätern besonders wichtig, und sie deuteten die Hauptereignisse des Alten Testaments – von der Sintflut zu Zeiten Noahs bis hin zur Berufung Abrahams, von der Befreiung des Exodus bis zur Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil – gerne als »Vorwegnahmen« künftiger Begebenheiten und erkennen ihnen einen »archetypischen« Wert zu: In ihnen wurden die Grundeigenschaften angekündigt, die sich im Laufe der ganzen Menschheitsgeschichte auf unterschiedliche Weise wiederholen sollten.
5. Schon die Propheten hatten sich mit den Ereignissen der Heilsgeschichte auseinandergesetzt und deren immer aktuellen Sinn sowie deren vollkommene Verwirklichung in der Zukunft dargestellt. So gelangen sie durch ihre Überlegungen über das Geheimnis des von Gott mit dem Volk Israel geschlossenen Bundes dazu, von einem »neuen Bund« zu sprechen (Jer 3 ,31; vgl. Ez 36,26 –27), in dem das Gesetz Gottes in das Herz des Menschen selbst eingeschrieben ist. Es ist nicht schwer, in dieser prophetischen Vorhersage den neuen Bund zu sehen, der im Blut Christi geschlossen und durch die Gabe des Geistes verwirklicht worden ist.Wenn die Gläubigen diesen Siegeshymnus des damaligen Auszugs im Licht des österlichen Exodus sprechen, werden sie von der Freude darüber erfüllt, sich als durch die Zeit pilgernde Kirche zu fühlen, die zum himmlischen Jerusalem unterwegs ist.
6.Es geht also darum, mit immer neuem Staunen das zu betrachten, was Gott seinem Volk bereitet hat: »Du brachtest sie hin und pflanztest sie ein auf dem Berg deines Erbes. Einen Ort, wo du thronst, Herr, hast du gemacht; ein Heiligtum, Herr, haben deine Hände gegründet« (Ex 15,17). Der Siegesgesang bringt nicht den Triumph des Menschen zum Ausdruck, sondern den Triumph Gottes. Er ist nicht ein Kriegslied, sondern ein Liebesgesang.
Wenn wir zulassen,daß unsere Tage von diesem überschwenglichen Lob der damaligen Juden erfüllt sind, gehen wir durch die nicht gefahr- und risikolosen und zuweilen leidvollen Straßen der Welt in der Gewißheit, vom barmherzigen Blick Gottes umgeben zu sein: Nichts kann der Macht seiner Liebe widerstehen.
Liebe Schwestern und Brüder!
In der Bedrängnis dürfen wir dem befreienden Gott begegnen. Gott ist der Retter unseres Lebens! Diese frohe Erfahrung ist zum Refrain der Heilsgeschichte geworden: Unaufhörlich preist die Kirche die Macht und Liebe Gottes, sein befreiendes Handeln an uns sündigen Menschen.
Gott lenkt das Volk der Erlösten mit Güte und führt es auf den Weg zu seiner heiligen Wohnung (vgl. Ex 15,13). Das Ziel unserer Befreiung aus der Macht von Sünde und Tod ist ein Leben in voller Gemeinschaft mit dem ewigen Gott. Die Erlösung ist von Gott her real und geht an die Wurzeln. Sie erreicht uns, wenn wir uns von Jesus Christus auf den Weg zum Vaterhaus führen lassen.
Als Christen wissen wir: Die Zeit vergeht nie umsonst. Jeder Tag unseres Lebens hat teil an der Heilsgeschichte. Was immer auch geschehen mag, der liebende Blick und der starke Arm des gütigen Gottes begleiten uns auf allen unseren Wegen.
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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, unter ihnen den Absolventenverein Landwirtschaftlicher Schulen aus Südtirol. Möge die lebendige Hoffnung auf Gottes rettende Macht und Liebe euer Leben froh und hell machen! Mit diesem Wunsch erteile ich euch, euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.
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