Index

  Back Top Print

[DE - EN - ES - FR - HU - IT -PT]


 

Internationale Theologische Kommission

Die Religionsfreiheit im Dienste des Allgemeinwohls

Eine theologische Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen

 

INHALT

Vorbemerkung

1 Ein Blick auf den aktuellen Kontext

2 Die Sicht von Dignitatis humanae damals und heute

2.1 Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil
2.2 Die wichtigsten Aussagen der Erklärung Dignitatis humanae
2.3 Religionsfreiheit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
2.4 An der Schwelle zu etwas Neuem?

3 Das Recht der Person auf Religionsfreiheit

3.1 Der Disput über die theoretischen Grundlagen
3.2 Würde und Wahrheit der menschlichen Person
3.3 Das in der conditio humana verankerte Personsein
3.4 Die Vermittlung des Gewissens

4 Das Recht der Gemeinschaften auf Religionsfreiheit

4.1 Die soziale Dimension des Menschen
4.2 Subsidiarität und Gründungsgeschichte
4.3 Religiöse Praxis und konkrete Humanität
4.4 Ganzheitliche Erziehung und Einbindung in die Gemeinschaft
4.5 Der Wert der Zwischenkörper und der Staat
4.6 Staat, Internet und Überzeugungsgemeinschaften

5 Staat und Religionsfreiheit

5.1 Das Christentum und die Würde des Staates
5.2 Die „monophysitische“ Abweichung in den
5.3 Beziehungen zwischen Religion und Staat
5.4 Die „liberale“ Einschränkung der Religionsfreiheit
5.5 Die Ambiguität des moralisch neutralen Staates

6 Religionsfreiheit als Beitrag zum

6.1 sozialen Frieden
6.2 Religionsfreiheit zum Wohle aller
6.3 Das Zusammensein als Gut
6.4 Die richtige Unterscheidung der Religionsfreiheit
6.5 Die Verbreitung der Religionsfreiheit

7 Religionsfreiheit in der Sendung der Kirche

7.1 Das freie Zeugnis der Liebe Gottes
7.2 Die Forderung der Kirche nach Religionsfreiheit für alle
7.3 Der interreligiöse Dialog als Friedensweg
7.4 Der Mut zur Unterscheidung und Ablehnung von Gewalt im Namen Gottes

Schluss

Vorbemerkung

Während ihres 9. Quinquenniums konnte die Internationale Theologische Kommission eine Studie zum Thema Religionsfreiheit im heutigen Kontext erarbeiten. Diese Studie wurde von einer zu diesem Zweck eingerichteten Unterkommission unter dem Vorsitz von Pater Javier Prades López durchgeführt, der folgende Mitglieder angehören: Pater Željko Tanjić, Pater John Junyang Park, Prof. Moira Mary McQueen, Pater Bernard Pottier SJ, Prof. Tracey Rowland, Msgr. Pierangelo Sequeri, Pater Philippe Vallin, Pater Koffi Messan Laurent Kpogo und Pater Serge-Thomas Bonino OP.

In den verschiedenen Sitzungen der Unterkommission und in den Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission fanden in den Jahren 2014–2018 entsprechende allgemeine Diskussionen zu dem Thema statt. Der vorliegende Text wurde in forma specifica von der Mehrheit der Mitglieder der Kommission in schriftlicher Abstimmung angenommen. Anschließend wurde er dem Präsidenten der Kommission, Seiner Eminenz Kardinal Luis F. Ladaria SJ, dem Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, zur Approbation vorgelegt, der nach einer positiven Stellungnahme von Papst Franziskus am 21. März 2019 die Veröffentlichung des Textes genehmigte.

1 Ein Blick auf den aktuellen Kontext

1. Die Erklärung Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils ist in einem signifikant anderen geschichtlichen Kontext als dem heutigen verabschiedet worden. Die klare Benennung der christlichen Gründe für die Achtung der Religionsfreiheit des je Einzelnen und der Glaubensgemeinschaften vonseiten des Rechtsstaates und der zivilgesellschaftlichen Gerichtsbarkeit verdient auch heute noch Bewunderung. Der durchaus als prophetisch zu bezeichnende Beitrag des Konzils hat der Kirche neue Glaubwürdigkeit und Wertschätzung ermöglicht, weil er die Verkündigung des Evangeliums in den Gesellschaften der Gegenwart in kaum überschätzbarer Weise erleichtert.

2. Inzwischen haben vor allem die religiösen und nationalen Traditionen des Mittleren und Fernen Ostens eine spürbar veränderte Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Religion und Gesellschaft evoziert. Die großen religiösen Traditionen der Welt werden nicht mehr nur als von der Geschichte überholte Relikte vergangener Zeiten und prämoderner Kulturen betrachtet. Denn unterschiedliche Gestalten religiöser Zugehörigkeit nehmen erneut Einfluss auf die Ausgestaltung der personalen Identität, der sozialen Bindungen und der Bestimmung des Gemeinwohls. In vielen säkularisierten Staaten werden religiöse Gemeinschaften bei all ihrer Unterschiedlichkeit als wichtige Faktoren der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft wahrgenommen. Relativ neu mag erscheinen, dass sich religiöse Gemeinschaften vonseiten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und der funktional-ökonomisch denkenden Zivilgesellschaft aufgefordert fühlen, ihre Bedeutung für das Allgemeinwohl unter Beweis zu stellen.

3. Wo immer man heute das Thema „Religionsfreiheit“ debattiert, orientiert man sich – positiv oder negativ – an einem Begriff der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten, der von einer liberalen, demokratischen, pluralistischen und säkularen politischen Kultur gebildet wurde. Die humanistische Rhetorik – bestimmt von der Sprache des politischen Liberalismus – appelliert an die Werte des friedlichen Zusammenlebens, der Würde des Individuums, des interkulturellen und des interreligiösen Dialogs. Aber tiefer betrachtet schöpfen diese Werte auch aus christlichen Quellen. Denn die christlichen Prinzipien der personalen Würde des Einzelnen und der Verwiesenheit des „Ich“ auf das „Du“ und die Gemeinschaft haben zur Ausbildung und Universalisierung des besagten Humanismus wesentlich beigetragen.

4. Die als „Fundamentalismus“ bezeichnete Radikalisierung von Religionen ist – auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher politischer Kulturen – nicht einfach die Rückkehr zu einer regeltreueren religiösen Praxis. Fundamentalismus ist oft verbunden mit der Ablehnung des liberalen Selbstverständnisses der sich modern nennenden Staaten und mit dem Vorwurf des ethischen Relativismus und des religiösen Indifferentismus. Diese Kritik ist weithin ungerecht. Aber es gibt auch den berechtigten Vorwurf einer Neutralität, die in Wahrheit keine ist, weil sie eine Stimmung fördert, die ein Glaubensbekenntnis und eine religiöse Zugehörigkeit als der vollen kulturellen und politischen Zugehörigkeit abträglich betrachtet. Diese Tendenz kann man als eine Art weichen „Totalitarismus“ bezeichnen; er ist nicht selten Wegbereiter eines ethischen Nihilismus.

5. Eine Neutralität des Staates, die sich auf die prozedurale Anwendung von Regeln stützt, ohne diese in Ethik und Religion zu verankern, ist anfällig für Ideologien. Dies ist nicht selten der Fall, wenn ein Staat mit Berufung auf seine Neutralität dahin tendiert, öffentlich gelebte Ausdrucksgestalten der Religion an den Rand zu drängen oder gar aus dem öffentlichen Leben zu verbannen oder den Anspruch Gläubiger auf volle Teilhabe an den Freiheitsrechten demokratischer Staatsbürgerschaft zu beschneiden. Scheinbare Neutralität kann verbunden sein mit objektiv diskriminierendem Verhalten. Eine Zivilkultur, die ihren Humanismus mit der Verdrängung der religiösen Komponente des Menschseins verbindet, schneidet sich ab von tragenden Wurzeln ihrer Geschichte, ihrer Tradition, ihres Gedächtnisses und ihrer sozialen Identität. Auf Dauer verliert ein seinen Wurzeln entfremdeter Humanismus seine Staat und Gesellschaft prägende Kraft. Es gibt nicht wenige – vor allem junge – Menschen, die das ethische und religiöse Vakuum moderner Gesellschaften mit der Flucht in einen entweder atheistischen oder aber theokratischen Fanatismus beantworten. Gewaltbereite politische und religiöse Ideologien, die von der philosophischen und historischen Vernunft überwunden schienen, entwickeln neue Anziehungskraft und bedürfen deshalb einer verstärkten Aufmerksamkeit und Analyse.

6. Die gängig gewordene These, der Rückgang der Religion sei eine unvermeidliche Begleiterscheinung des ökonomischen und technischen Fortschritts, steht in Spannung zu der Feststellung, es gebe so etwas wie eine Rückkehr der Religion auf die Bühne des öffentlichen Interesses. Die Behauptung, es gebe einen automatischen Zusammenhang zwischen dem Fortschritt einer Gesellschaft und dem Aussterben des religiösen Lebens, stützt sich auf die ideologisch untermauerte These, Religion sei das Konstrukt im Mythos befangener Gesellschaften, die – noch nicht durch Vernunft und Technik aufgeklärt – die Errungenschaften von Emanzipation und Wohlstand entbehren. Diese Sichtweise verfehlt die Wirklichkeit des religiösen Bewusstseins und ist zugleich naiv, wo sie undifferenziert von den humanisierenden Auswirkungen des technischen Fortschritts schwärmt. Und was die Gegenthese von der Rückkehr der Religion betrifft, hat christliche Theologie mit guten Gründen die Ambivalenz des so bezeichneten Phänomens beschrieben. Denn die sogenannte Rückkehr der Religion ist nicht selten bestimmt durch regressive Tendenzen in Bezug auf die Würdigung der Einzelperson wie in Bezug auf die humanisierenden Werte, die jede politische Ordnung und soziale Bindung garantieren. Viele Phänomene, die mit der erneuten Präsenz des Religiösen im politischen und gesellschaftlichen Leben assoziiert werden, stehen im Widerspruch zu den genuinen Inhalten und Traditionen der großen Religionen. Neue Formen von Religiosität instrumentalisieren auf der Suche nach geistig-körperlichem Wohlbefinden Versatzstücke der Tradition und entwerfen auf diese Weise pseudowissenschaftliche Anthropologien und Kosmologien. Gläubige Menschen erleben diese Trends als das Gegenteil religiöser Orientierung; ganz zu schweigen von den Phänomenen eines totalitären Fanatismus, der unter dem Deckmantel der Religion Terror und Gewalt zu legitimieren versucht.

7. Die postmoderne Suspension der Wahrheitsfrage stellt das Thema „Religionsfreiheit“ vor neue Herausforderungen im Bereich von Politik und Recht. Staaten, die sich unabhängig von ihren religiösen Traditionen verstehen, sind dadurch keineswegs gefeit gegen den Einfluss der religiösen und pseudoreligiösen Gruppierungen, die alle Regeln eines von Respekt bestimmten Dialogs und einer demokratischen Streitkultur ignorieren. Geschützt werden Religionsfreiheit und sozialer Friede nur von den Staaten, die ein auf gegenseitigen Respekt gegründetes Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften organisieren und so eine entsprechende Kultur des religiösen Lebens ermöglichen. Die Zivilgesellschaft muss das Vorurteil begraben, Religion sei letztlich irrational oder ideologisch. Und jede Religionsgemeinschaft muss sich bemühen, ihre Interpretation von Welt und Gesellschaft so zu vermitteln, dass sie auch außerhalb der eigenen Grenzen verstanden und gewürdigt wird.

8. Das Christentum – und speziell auch der Katholizismus mit seinem Konzilsdokument über die Würde des Menschen – hat sein Selbstverständnis mit der These verbunden, dass jede Instrumentalisierung von Religion durch politische Macht abzulehnen ist – auch dann, wenn politische Interessen das Wachstum der eigenen Religionsgemeinschaft favorisieren. Jedwede Evangelisierung muss von dem Grundsatz bestimmt sein, die Institutionen von Religion und Zivilgesellschaft so zu gestalten, dass sie die Gewissensfreiheit des je Einzelnen ermöglichen. Sie sind aus christlicher Sicht der historische, soziale und kulturelle Rahmen, der Entscheidungen zum Glauben schützen soll. Sie dürfen nichts erzwingen wollen oder Religion gar als Mittel des Gehorsams und der Unterwerfung instrumentalisieren. Dem Wesen des christlichen Glaubens entspricht eine für alle geltende Religionsfreiheit und die Bezeugung einer Wahrheit, die sich niemandem mit Gewalt aufdrängt. Der christliche Glaube ist von Natur aus offen für jede Suche nach dem Wahren und Guten, die die Kulturgeschichte im Leben und Denken der Völker entwickelt hat. Und das Suchen nach Worten und Zeichen der Wahrheit muss stets verbunden sein mit leidenschaftlichem Einsatz für eine solidarische Menschheit.

9. Veränderungen der religiösen Szene und ebenso des weltanschaulich ungebundenen Humanismus lassen in den Gesellschaften vieler Völker die Notwendigkeit erkennen, sich gemeinsam um eine verbesserte Qualität des Zusammenlebens zu bemühen. Es geht um die Suche nach den am besten geeigneten Mitteln, um optimale Bedingungen für Frieden in Freiheit zu garantieren – ein gewiss entscheidender Faktor für das Gemeinwohl und den Fortschritt aller menschlichen Zivilisation. Mit den Migrationsströmen ganzer Völker, deren Heimat vor allem durch endemisch verbreitete Armut und dauerhafte Kriegssituationen zu einem feindlichen Umfeld für jegliches Leben und Zusammenleben geworden ist, entstehen im Westen interreligiöse, interkulturelle und interethnische Gesellschaften. Abgesehen von den faktischen Zwängen der Migrationsfolgen erhebt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, neu nachzudenken über eine künftige Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Religionsfreiheit und Demokratie. Es muss doch möglich sein, die über Jahrhunderte erworbenen und tradierten Schätze von Religion und Kultur auch in einer weltanschaulich neutralen Demokratie fruchtbar werden zu lassen für die Humanisierung der Gesamtgesellschaft.

10. Im Blick auf die Zeichen unserer Zeit bedarf es geeigneter Mittel und Wege, um die Reflexion auf das christliche Selbstverständnis, den interreligiösen Dialog und das Gespräch mit allen Kräften der Zivilgesellschaft zu vertiefen. In Anbetracht der Härte und Komplexität zunehmender Herausforderungen wäre jede Art von Resignation verantwortungslos und Ausweis eines schwach gewordenen Glaubens. Die Untrennbarkeit von Religionsfreiheit und Menschenwürde ist ein Kriterium jeder gerechten Politik. Nachdem die Vergangenheit von verschiedenen Versuchen bestimmt war, den Wahrheitsanspruch einer Religion und die Freiheit des je Einzelnen als konkurrierende Größen zu betrachten, scheint heute endgültig geklärt, dass jede Religion um ihrer selbst willen die Freiheit ihrer Adressaten wahren muss. Die in zunehmend multireligiös und multiethnisch geprägten Gesellschaften lebende Kirche erkennt die Zeichen unserer Zeit nur, wenn sie sich rechtzeitig in die Lage versetzt, den Glauben auch unter radikal veränderten Bedingungen zu verkünden. Sie befindet sich heute – bei Licht betrachtet – in einer Situation, die sich in vielerlei Hinsicht mit der Ausgangssituation des Christentums vergleichen lässt.

11. Zu Beginn dieses Dokumentes werden die Lehrinhalte der Konzilserklärung Dignitatis humanae resümiert und deren lehramtliche und theologische Rezeption skizziert (Kapitel 2). Es folgt ein kurzer Abschnitt über die anthropologischen Voraussetzungen des christlichen Verständnisses von Religionsfreiheit, um anschließend deren individuelle (Kapitel 3) und kommunitäre (Kapitel 4) Dimension zu behandeln. Letztere befasst sich u. a. auch mit der Bedeutung von Religionsgemeinschaften für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Beide Dimensionen, die individuelle und die kommunitäre, gehören zusammen. Doch weil die Religionsfreiheit in der Person beziehungsweise unbedingten Würde des je einzelnen Menschen gründet, geht die Behandlung der individuellen Dimension den Ausführungen über den kommunitären Aspekt voraus. Anschließend (Kapitel 5) geht es um die politische Dimension der Religionsfreiheit; und dabei auch um die Widersprüche, in die sich eine Staatsdoktrin verstrickt, die Religionsfreiheit mit religiöser Abstinenz und ethischer Indifferenz verwechselt. In Kapitel 6 versucht das Dokument den Beitrag zu erfassen und zu bewerten, den gelebte Religionsfreiheit zum sozialen Frieden leistet. Und das abschließende Kapitel 7 erklärt den zentralen Stellenwert der Religionsfreiheit für die Sendung der Kirche in der Gegenwart.

12. In Bezug auf die Konzeption des Dokumentes ist zu beachten: Es geht nicht um eine akademische Abhandlung, die die verschiedenen Aspekte des Themas „Religionsfreiheit“ möglichst umfassend abdeckt. Dies ist angesichts der offensichtlichen Komplexität des Themas unmöglich. Diese Komplexität betrifft beide Dimensionen, die individuelle und die kommunitäre; ganz zu schweigen von der Interdisziplinarität des Themas. Die methodische Selbstbeschränkung der hier präsentierten Reflexionen lässt sich wie folgt kennzeichnen: Angezielt wird erstens (a) eine aktualisierende Bilanz der Rezeptionsgeschichte der konziliaren Erklärung Dignitatis humanae und zweitens (b) ein Resümee der teils anthropologischen, teils soziologischen Interpretamente, die den inneren Zusammenhang von individueller und kommunitärer Dimension begründen und erklären. Ein besonderer Akzent wird auf den geschichtlich bedingten Faktoren zunehmender Globalisierung liegen; denn dieser Herausforderung muss sich die kirchliche Soziallehre stellen.

13. Ein Staat, der sich als neutral gegenüber ethischen Werten und gelebter Religiosität versteht, unterscheidet nur sehr bedingt zwischen den Gemeinschaften, die wirkliche Freiheit und rechtsgebundene Demokratie fördern, und denen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Gemeinwohl möglicherweise schaden. Angesichts der kulturellen Komplexität moderner Gesellschaften ist die christliche Theologie aufgerufen, die Realität genau zu analysieren und mit ihren Grundsätzen zur Religionsfreiheit jedwede Rückkehr in theokratische Gesellschaftsformen zu verhindern. Die sich anschließenden Ausführungen sind in ihren anthropologischen Teilen ebenso wie in ihren theologischen Partien durchgängig von dem Bemühen bestimmt, die individuell-personale, die kommunitäre und die christliche Dimension des Themas „Religionsfreiheit“ so eng wie möglich zu verzahnen. Eine systematische Gesamtdarstellung ist, wie gesagt, nicht beabsichtigt. Das vorliegende Dokument will und kann keine detaillierte Reflexion der politischen und ekklesiologischen Interpretamente leisten, die das Thema „Religionsfreiheit“ mitbestimmen. Bekanntlich sind diese Interpretamente mit Kategorien und Begriffen verbunden, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Sprachspielen Unterschiedliches bedeuten. Doch ungeachtet der so benannten Einschränkungen kann und will das hier präsentierte Dokument eine solide Hilfe für alle sein, die den christlichen Glauben in der modernen Gesellschaft vermitteln, erklären, bezeugen und aktualisieren. Dies gilt für die Kirche nach innen, wenn es um die Verhältnisbestimmung von christlichem Glauben und allgemein geltenden Menschenrechten geht; dies gilt auch nach außen, wenn es um das nicht immer konfliktfreie Verhältnis des Selbstverständnisses der Kirche zum Selbstverständnis von Staaten geht. Diese erwarten von einer Religionsgemeinschaft nicht nur eine theologische, sondern auch eine anthropologische und rechts- beziehungsweise staatstheoretische Reflexion der Beziehungen zwischen der Zivilgesellschaft und den Religionsgemeinschaften.

2 Die Sicht von Dignitatis humanae damals und heute

Dieses Kapitel soll herausstellen, welche Bedeutung die Konzilsväter der Religionsfreiheit als unveräußerlichem Recht jedes Einzelnen zugemessen haben. Wir bieten zunächst einen Überblick über entsprechende Verlautbarungen vor dem Konzil und fragen dann nach der postkonziliaren Rezeption von Dignitatis humanae.

Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil

14. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit ist gewissermaßen das Ergebnis eines Reifungsprozesses – bezogen auf das Wesen der Kirche und deren rechtlich geregeltes Verhältnis zum Staat.[1] Die Geschichte des Dokumentes belegt die zentrale Bedeutung dieses Verhältnisses für die kontinuierliche Entfaltung der Lehre über die Religionsfreiheit im Kontext von Veränderungen des Beziehungsgeflechtes von Politik, Staat und Gesellschaft zu religiösen Traditionen, zur Zivilkultur, zur Rechtsordnung und zur Selbstbestimmung des Menschen in der Moderne.[2] Die Erklärung Dignitatis humanae dokumentiert einen wesentlichen Fortschritt im Denken der Kirche, der ihrem Glaubensbekenntnis nicht nur nicht widerspricht, sondern dieses besser und tiefer als bisher erschließt. Ein fortschreitendes Verstehen und Ausloten ist nicht nur vereinbar mit einer kritischen Revision kontextbedingter Sichtweisen und Verlautbarungen der Vergangenheit, sondern ein wesentliches Implikat der Tradierung des christlichen Glaubens.

15. Eine Staatstheorie, die Modernität als Emanzipation einer Gesellschaft von ihren religiösen Traditionen missversteht, hat zur Verurteilung einer bestimmten Auffassung von Gewissensfreiheit durch das kirchliche Lehramt geführt. Verurteilt wurde die Verwendung des Begriffes „Gewissensfreiheit“ als Synonym für Subjektivismus und Indifferentismus.[3] So aber entstand der Eindruck eines Widerspruches zwischen dem kirchlichen Anspruch auf Freiheit für sich selbst und jedes ihrer Mitglieder einerseits und der besagten Verurteilung von Gewissens- und Religionsfreiheit andererseits. Es handelt sich um einen scheinbaren Widerspruch, der zu klären und zu überwinden ist – z. B. durch positive Rezeption der Begriffe und Kategorien, mit denen eine moderne Gesellschaft dem je Einzelnen und seinem Gewissen gerecht zu werden versucht. Gemeint sind die legitime Autonomie der staatlichen Institutionen, die demokratische Rechtfertigung der politischen Freiheit und die Idee der weltanschaulichen Neutralität des öffentlichen Lebens. Die oben erwähnte Reaktion der Kirche auf eine falsche Auslegung der Gewissensfreiheit erklärt sich nicht zuletzt aus der historischen Tatsache, dass das Christentum in vielen Ländern Europas Staatsreligion beziehungsweise die de facto dominante Religion war. Die Angriffe der Aufklärung und der Säkularisation auf das institutionell verfasste Christentum wurden vom Lehramt nicht in erster Linie deshalb mit Verurteilungen erwidert, weil damit die Trennung von Staat und Kirche verbunden war, sondern weil man diese Angriffe theologisch als Abfall vom Glauben verstand. Die weitere Ausgestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat wurde im Wesentlichen durch zwei Faktoren begünstigt: zum einen durch ein besseres Selbstverständnis der kirchlichen Autorität in Abgrenzung zur politischen Ausübung von Macht; und zum anderen durch eine schrittweise vertiefte Reflexion der Frage, wie die Freiheit der Kirche in Relation zu den Grundfreiheiten jedes einzelnen Menschen zu bestimmen ist.[4]

16. Zu der Zeit, als die Diskussion der Menschenrechte in den Fokus des öffentlichen Interesses rückte, hat Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil vorbereitet und eröffnet. In der Enzyklika Pacem in terris beschreibt er die Rechte und Pflichten des Menschen aus einer an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte orientierten Perspektive. Er betont, dass menschliches Zusammenleben in Freiheit erfolgen muss, „und zwar in Formen, die der Würde der Menschen angemessen sind. Denn weil Menschen von Natur aus vernunftbegabt sind, tragen sie auch die Verantwortung für ihr Tun“[5]. Die unbedingte Wahrung der Würde des je Einzelnen ist Voraussetzung für jedes gelingende Zusammenleben. Sie wurzelt in der von Gott begründeten Schöpfungsordnung. Freiheit ist jene den Menschen auszeichnende Begabung, mit der er von seinem Schöpfer aufgefordert wird, vernunftgeleitet nach der Wahrheit zu suchen, sich willentlich für das Gute zu entscheiden und mit ganzem Herzen den Gott zu lieben, der ihm die Erfüllung seines Lebens verheißt. Die so beschriebene Freiheit des Menschen muss gegen jede Art von Missbrauch, Einschüchterung oder Gewalt verteidigt werden.[6]

Die wichtigsten Aussagen der Erklärung Dignitatis humanae

17. Im Folgenden geht es, wenn auch nur kurz, um die zentralen Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. In der Erklärung Dignitatis humanae lesen wir: „(…) das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird“ (DH 2a). Die Erklärung führt vier Argumente an, die Religionsfreiheit als ein in der Menschenwürde gründendes Recht ausweisen (vgl. DH 1–8). Und diese Argumente werden im Licht der göttlichen Offenbarung (vgl. DH 9 ff.), die im Glauben frei angenommen wird (vgl. DH 10), noch einmal reflektiert – unter besonderer Berücksichtigung ihrer kirchlichen Rezeption (vgl. DH 12 ff.).[7]

18. Das erste Argument betrifft die personale Integrität des Menschen; es widerspricht dem Wesen des Menschen, seine innere Freiheit von deren öffentlicher Bekundung zu separieren. Das Recht auf Freiheit ist keineswegs etwas nur Subjektives, sondern es gründet in der Natur des Menschen, der wesentlich eine mit Vernunft und Willen ausgestattete Person und deshalb immer schon dazu bestimmt ist, sein Leben auf das Gute – auf Wahrheit und Gerechtigkeit – auszurichten. Diese alles integrierende Berufung jeder Person ist das, was den Menschen theologisch gesehen (von Gott her betrachtet) auszeichnet: Er ist geschaffen als capax Dei und also wesentlich verwiesen auf die transzendente Wirklichkeit. Dies ist das eigentliche Fundament der Religionsfreiheit (vgl. DH 2a, 9, 11, 12). Auszugehen ist stets von der gottgewollten Freiheit des Einzelnen. Aus ihr folgt, dass niemand an der regelgetreuen Ausübung seiner Religion gehindert und also gedemütigt werden darf. Jeder Einzelne muss sich seiner Verantwortung für das eigene Verhalten bewusst sein – in der Freiheit, die ausgerichtet ist auf das Gute und also nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebt (vgl. DH 2, 4, 5, 8, 13).

19. Das zweite Argument ergibt sich aus der Pflicht des Menschen, die Wahrheit zu suchen. Diese Suche aber ist unmöglich ohne Dialog. Denn der Mensch ist verwiesen auf den Anderen und also ein wesentlich soziales Wesen. Religionsfreiheit intendiert alles andere als eine Abwertung der sozialen Einbindung des Einzelnen. Im Gegenteil, sie versteht sich als Bedingung für das gemeinsame Suchen aller Freiheitssubjekte nach der Wahrheit. Der dialogische Charakter der Wahrheitssuche ist unabdingbar; denn andernfalls beansprucht die Wahrheit den Menschen nicht „kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“ (DH 1c). Eine dialogisch vorangetriebene Suche nach Wahrheit ermöglicht es allen Beteiligten, die empfangene beziehungsweise entdeckte Wahrheit begrifflich mitzuteilen und argumentativ so zu begründen, dass sie fruchtbar werden kann für die gesamte Menschheit (vgl. DH 3b[8]). Subjekt der Religionsfreiheit ist nicht nur der Einzelne, sondern auch die Gemeinschaft und insbesondere die Familie. Daher spricht die Erklärung Dignitatis humanae von der Notwendigkeit, bei der Weitergabe religiöser Werte in Bildung und Lehre Freiheit walten zu lassen (vgl. DH 4, 5, 13b). Bezogen auf die Familie und speziell die Eltern heißt das: „Einer jeden Familie, die ja eine Gesellschaft eigenen und ursprünglichen Rechtes ist, steht das Recht zu, ihr häusliches religiöses Leben unter der Leitung der Eltern in Freiheit zu ordnen. Die Eltern haben das Recht, die Art der religiösen Erziehung ihrer Kinder gemäß ihrer eigenen religiösen Überzeugung zu bestimmen. Daher muss vonseiten der staatlichen Gewalt das Recht der Eltern anerkannt werden, in wahrer Freiheit Schulen und andere Erziehungseinrichtungen zu wählen“ (DH 5a).

20. Das dritte Argument ergibt sich aus der Religion selbst, die der homo religiosus als soziales Wesen durch seiner Überzeugung entsprechende Vollzüge und durch öffentlichen Kult lebt und zum Ausdruck bringt.[9] Das Recht auf Religionsfreiheit wird stets innerhalb einer Zivilgesellschaft realisiert; es gewährt dem Menschen vor allem die Gesichertheit seines religiös gelebten Gottesbezuges gegen jegliche Art von äußerem Zwang (vgl. DH 2, 3c–e, 4, 10, 11, 13). Zivilstaatliche und politische Autoritäten, deren Zweck darin besteht, sich um das weltliche Gemeinwohl zu kümmern, haben keinerlei Recht, sich in Angelegenheiten einzumischen, die die Sphäre der persönlichen Religionsfreiheit tangieren. Diese bleibt nicht nur in Bezug auf die Gewissensentscheide des je Einzelnen, sondern auch in Bezug auf deren öffentliche Bekundung unantastbar, – es sei denn, diese Bekundung verletzt aufgrund offensichtlicher Fakten und zuverlässiger Informationen das Recht der öffentlichen Ordnung (vgl. DH 1, 2, 5).

21. Das vierte Argument schließlich betrifft die Grenzen der von Menschen organisierten zivilen und rechtlichen Macht auf dem Feld der Religion. Die Religion selbst muss um ihre Wirkung in die zivile Öffentlichkeit hinein wissen. Denn auch die Gläubigen (vgl. DH 7, 15) sind gefragt, wenn es um die Bestimmung der Grenzen der Religionsfreiheit zu dem Zwecke geht, Gerechtigkeit und Frieden als alles bedingende Dimensionen des Gemeinwohls zu schützen (vgl. DH 3 f., 7 f.).

Religionsfreiheit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

22. Der Grundsatz der Religionsfreiheit ist inzwischen unstrittig als Recht des einzelnen Bürgers und jeder religiös bestimmten Gemeinschaft definiert. Dies vorausgesetzt, schließen die Konzilsväter eine Vertiefung der bisher skizzierten Überlegungen nicht aus. Im Gegenteil, nach Darstellung der Grundlagen der Religionsfreiheit spricht die Erklärung sich für eine Weiterentwicklung der Punkte aus, die soeben expliziert wurden. Auch heute – so heißt es in Dignitatis humanae, „gibt es Regierungsformen, in denen die öffentlichen Gewalten trotz der Anerkennung der religiösen Kultusfreiheit durch ihre Verfassung doch den Versuch machen, die Bürger vom Bekenntnis der Religion abzubringen und den religiösen Gemeinschaften das Leben aufs Äußerste zu erschweren oder dieses gar zu gefährden. Indem das Konzil jene glückhaften Zeichen unserer Zeit mit Freude begrüßt, diese beklagenswerten Tatsachen jedoch mit großem Schmerz feststellt, richtet es die Mahnung an die Katholiken und die Bitte an alle Menschen, dass sie sich angelegentlich vor Augen stellen, wie notwendig die Religionsfreiheit ist, besonders in der gegenwärtigen Situation der Menschheitsfamilie“ (vgl. DH 15b–c). Dem entspricht, dass neue Bedrohungen der Religionsfreiheit fünfzig Jahre nach dem Konzil eine globale Dimension erreicht haben und damit auch andere moralische Werte gefährden. Darauf hat das päpstliche Lehramt mit grundlegenden Beiträgen, Ansprachen und Lehren von internationaler Bedeutung reagiert.[10] Die Päpste unserer Zeit geben eindeutig zu verstehen, dass das Thema „Religionsfreiheit“ aufgrund seiner Verwurzelung in der Gewissensfreiheit anthropologische, politische und theologische Fragen aufwirft, die für die Zukunft des Gemeinwohls und des Völkerfriedens von ausschlaggebender Bedeutung sind.

23. Für den hl. Papst Paul VI. ist das Recht auf Religionsfreiheit eine mit der Wirklichkeit der Personalität des Menschen verbundene Frage. Denn der mit Intellekt und Willen ausgestattete Mensch ist wesentlich bestimmt durch seine der Reflexion fähige Geistbegabung, die ihn zur Selbstüberschreitung befähigt.[11] Zum Menschen gehört, dass er versucht, die Grenzen seiner Endlichkeit zu transzendieren, – bis hin zu der Erkenntnis seiner Herkünftigkeit vom göttlichen Schöpfer und seiner Berufung zur Teilnahme am göttlichen Leben. Diese religiöse Selbsttranszendenz gehört wesentlich zu dem, was wir als „das Gewissen“ beschreiben; denn die Treue zum eigenen Gewissen bedeutet, sich an der Wahrheit des göttlichen Willens zu orientieren und diesen dialogisch zu erschließen. Heute bezieht der erforderliche Dialog alle Religionen ein, die sich gegenüber anderen Religionen nicht verschließen und also Andersdenkende nicht a priori verurteilen oder herabsetzen.

24. Entsprechend hat der hl. Papst Johannes Paul II. betont, dass die Religionsfreiheit Grundlage aller anderen Freiheiten sei, weil sie – von der Würde jedes einzelnen Menschen untrennbar – deren unbedingte Konsequenz ist. Also ist sie nicht ein Recht unter vielen anderen Rechten, sondern „die Garantie für alle Freiheiten, die das Gemeinwohl der Menschen und der Völker sichern“[12]. Sie ist „ein Eckstein im Gebäude der Menschenrechte“[13] als Grund zu mehr Hoffnung auf mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung. Die Freiheit des Menschen, nach der Wahrheit zu streben und die je eigene religiöse Überzeugung öffentlich zu bekennen, muss in der Rechtsordnung jeder Gesellschaft verankert, von ihr anerkannt und garantiert werden. Jeder Staat muss sich durch eine entsprechende Gesetzgebung dazu verpflichten, das Recht des Bürgers auf Religionsfreiheit anzuerkennen – als Grundlage für ein friedliches Zusammenleben; als wesentliches Element wahrer Demokratie; als unabdingbare Garantie für ein Leben in Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden; und nicht zuletzt auch als Voraussetzung für die Mission des Christentums beziehungsweise der christlichen Gemeinschaften.[14]

25. Als eine Art Synthese der Gedanken Papst Benedikts XVI. zur Religionsfreiheit darf man seine Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2011 bezeichnen.[15] Darin heißt es, dass das Recht auf Religionsfreiheit in der Würde des Menschen als dem geistbegabten, der Beziehung zum Du und der Selbstüberschreitung fähigen Geschöpf verankert ist. Das Recht auf Religionsfreiheit ist kein Privileg gläubiger Menschen, sondern es steht als Integral aller anderen Grundrechte jedem Menschen zu. Die Religionsfreiheit ist – weil Voraussetzung der Freiheit zum Guten – zumindest dann, wenn sie von allen respektiert wird, Kriterium jeder politischen und rechtlichen Kultur, die beiträgt zu einer authentischen und ganzheitlichen Entwicklung der Menschheit. Religionsfreiheit fördert Gerechtigkeit, Einheit und Frieden für alle Menschen; sie ermutigt die Suche nach der Wahrheit, die Gott ist, und die sich in allen gemeinsamen ethischen und geistigen Werten spiegelt; sie initiiert einen Dialog zwischen allen, die dem Wohle der Allgemeinheit dienen wollen. So entsteht eine Ordnung, die der Gerechtigkeit und dem Frieden dient. Wer die Religionsfreiheit auf irgendeiner Ebene des individuellen, gemeinschaftlichen, zivilen und politischen Lebens missachtet, wendet sich letztlich gegen Gott, verletzt die Menschenwürde und trägt möglicherweise bei zu gesellschaftlichen Missständen. Leider gibt es immer noch Fälle verweigerter Religionsfreiheit – z. B. innerhalb von pseudoreligiösen Sekten oder fundamentalistischen Zirkeln; oder dort, wo Menschen ihrer Religion wegen diskriminiert werden; schließlich auch dort, wo Laizität zur Ideologie wird und religiöse Überzeugungen ausgrenzt. Es bedarf einer positiven Laizität der staatlichen Institutionen, die religiöse Erziehung nicht unterdrückt, sondern schützt. Denn die religiöse Erziehung ist „der bevorzugte Weg, die neuen Generationen zu befähigen, im anderen den eigenen Bruder beziehungsweise die eigene Schwester zu erkennen, mit denen man gemeinsam vorangehen und zusammenarbeiten muss“[16].

Zugleich gilt: Jede Religion muss sich im Lichte einer vom Glauben erleuchteten Vernunft dem Prozess ständiger Läuterung und Umkehr unterwerfen.

26. Wo ein gewisser Laizismus meint, die Forderung nach Religionsfreiheit begünstige die Konservierung „religiöser Subkulturen“, bezeichnet Papst Franziskus Religion als wertvolles Geschenk Gottes, als grundlegende Garantie freier Selbstbestimmung, als Bollwerk gegen jede Art von Totalitarismus und als entscheidende Voraussetzung für die bedingungslose Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen. Einige klassische Texte aus der schriftlichen Tradition der Religionen besitzen eine Motivationskraft, die immer wieder Horizonte eröffnet, zu neuen Reflexionen anregt und das intellektuelle und intuitive Erschließen von Sinn fördert. Solche Texte können im Kontext jeder Zeit eine je neue Bedeutung gewinnen. Zu den Aufgaben jedes Staates gehört es, Menschenrechte wie die Gewissens- und Religionsfreiheit zu wahren, zu schützen und zu verteidigen. Die Achtung des Rechtes auf Religionsfreiheit bedeutet keine Schwächung, sondern eine Stärkung jeder Nation. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Wertschätzung, die Papst Franziskus für die zahlreichen Märtyrer unserer Zeit hegt, die Opfer von Verfolgung und Gewalt wurden – von Seiten derer, die mit ihren Ideologien Gott aus dem Leben des Einzelnen und aller Gemeinschaften verbannen wollen. Papst Franziskus erklärt zum Kriterium jeder wahren Religion, dass sie von sich aus jeden Andersdenkenden respektiert und so beiträgt zu einem Raum der Kommunikation und Kooperation, – getragen von der Bereitschaft, gemeinsame Wege zu gehen, gemeinsam zu beten, gemeinsam zu arbeiten und sich gegenseitig zu helfen, um Frieden zu schaffen.[17]

An der Schwelle zu etwas Neuem?

27. Ungeachtet mancher Widrigkeit im Rezeptionsprozess der Erklärung Dignitatis humanae hat das nachkonziliare Lehramt die (mit diesem Prozess verbundene) Weiterentwicklung der Lehre über die Religionfreiheit vorangetrieben – im Sinne jener Wahrung der Kontinuität in der Diskontinuität, die Papst Benedikt XVI. als „Hermeneutik jeder Reform und also der Erneuerung des einen Subjekts Kirche [...] unter Wahrung der Kontinuität“[18] bezeichnet hat. Was mit der Formel „Kontinuität in der Diskontinuität“ gemeint ist, expliziert die Erklärung selbst wie folgt: „[Somit] hat [die Kirche] die Lehre, die sie von ihrem Meister und von den Aposteln empfangen hatte, im Laufe der Zeit bewahrt und weitergegeben. Gewiss ist bisweilen im Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt – im Wechsel der menschlichen Geschichte – eine Weise des Handelns vorgekommen, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war; aber die Lehre der Kirche, dass niemand zum Glauben gezwungen werden darf, hat dennoch die Zeiten überdauert“ (DH 12). Der Konzilstext verweist die Lehre des Christentums auf die evidente Tatsache, dass Religion nicht aufgezwungen werden darf, weil Zwang der von Gott geschaffenen Natur des Menschen widerspricht und also mit der Glaubenslehre unvereinbar ist, zu der sich die Christenheit bekennt. Gott ruft jeden Menschen zu sich, zwingt aber niemanden. Also ist die Religionsfreiheit ein Grundrecht, das jeder Mensch mit Berufung auf sein Gewissen und seine Eigenverantwortung gegenüber dem Staat einfordern kann.

28. Diesen Grundsätzen muss auch jede Mission entsprechen. Sie soll das Evangelium unter strikter Wahrung der Freiheit ihrer Adressaten so vermitteln, dass die fremde Kultur von innen heraus verwandelt und im Lichte der Offenbarung entfaltet wird. Dieser Prozess ist keine Einbahnstraße. Denn im Sinne einer echten „Inter-Kulturalität“ soll sich der christliche Glaube von den situationsbedingten Gegebenheiten seiner Mission so befragen lassen, dass die Wahrheit der Offenbarung durch Eintauchen in einen neuen kulturellen Kontext tiefer als bisher erschlossen und zugleich klarer profiliert wird.[19]

3 Das Recht der Person auf Religionsfreiheit

29. Die christliche Anthropologie beschreibt jeden Menschen von seiner Empfängnis im Mutterleib an durch alle Stadien seines Reifungsprozesses hindurch als relationales Wesen: „Wenn man von der Personalität des Menschen spricht, bezieht man sich sowohl auf die irreduzible Identität und Innerlichkeit, die seine spezifische Individualität konstituieren, als auch auf die grundlegende Beziehung zu anderen Personen, die die Basis für menschliche Gemeinschaft ausmacht.“[20] Wie die Geschichte jeder von Menschen gebildeten Gemeinschaft beweist, gehört Relationalität konstitutiv zur Individualität des Menschen; Relationalität ist ein Grundcharakteristikum des mit Geist begabten Menschen. Das Wohl des Einzelnen und das Wohl der Gemeinschaft widersprechen sich nicht, sondern sie bedingen einander bei dem Bemühen um ethischen Fortschritt und kulturelle Entfaltung.

30. Der Dialog über die von allen gesuchte Wahrheit und das von allen erstrebte Gemeinwohl verpflichtet alle Beteiligten, unter bestmöglichen Bedingungen ein dialogisches Ergründen der Wahrheit über den Menschen und über die sich aus seiner Personalität ergebenden Rechte zu fördern. Es bedarf verstärkter Anstrengungen zur Bewältigung der wahrscheinlich bedeutendsten Herausforderung gegenwärtiger Kultur. Es gilt, die von Wirtschaft und Technik bestimmte Zivilisation mit einem Menschenbild zu verbinden, das der Personalisierung des Einzelnen und jeder von Personen gebildeten Gemeinschaft dient. Die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens hängt nicht zuletzt von seiner humanisierenden Kraft ab. Jeder von der Gerechtigkeit bestimmte Einsatz zur Ermöglichung humaner Bedingungen ist weltweit, wo immer Menschen leben, ein leuchtendes Zeugnis für die Bekehrung von Geist und Herz durch die Wahrheit, die Gottes Liebe ist.

Der Disput über die theoretischen Grundlagen

31. Die traumatisierenden Erfahrungen mit totalitären Systemen, die im 20. Jahrhundert Menschen im Namen einer sich absolut nennenden Staatsmacht funktionalisiert, instrumentalisiert und auf alle mögliche Weise gequält haben, haben im Gegenzug Bewegungen evoziert, die die unveräußerlichen Rechte jedes einzelnen Menschen verteidigen. In diesem Zusammenhang erscheint das Recht auf Religionsfreiheit als eines der Grundrechte jedes Menschen.[21] Fast alle sind sich darin einig, dass „die Grundrechte des Menschen“ in der „Würde der menschlichen Person“ gründen. Über die Natur dieser Würde wird aber diskutiert und kontrovers gestritten. Geht diese Grundlage objektiv über die menschliche Selbstbestimmung hinaus oder hängt sie ausschließlich von der gesellschaftlichen Anerkennung ab? Ist sie ontologischer Art oder rein rechtlicher Natur? In welchem Verhältnis steht sie zur persönlichen Entscheidungsfreiheit, zum Schutz des Gemeinwohls und zum Wesen des Menschen? Wo kein Konsens – oder zumindest keine gemeinsame Orientierung – bei der Bestimmung der Kriterien für eine gerechte Realisierung der Religionsfreiheit erzielt wird, sind praktische Willkür und Interpretationskonflikte eine für die jeweilige Zivilgesellschaft oft nicht mehr beherrschbare Gefahr. Dieses Risiko ist doppelt so hoch in den Gesellschaften, in denen die religiös gelebte Selbstüberschreitung nicht mehr als Grundvollzug der conditio humana und so auch als Fundament wechselseitigen Vertrauens gewürdigt wird, sondern stattdessen Religion als Überbleibsel eines archaischen und also geschichtlich längst überholten Weltbildes gilt.

Würde und Wahrheit der menschlichen Person

32. Einleitend verankert die Erklärung Dignitatis humanae die Menschenrechte und insbesondere das Recht auf Religionsfreiheit in der Würde der je einzelnen Person. Ganz allgemein gesprochen ist mit dieser Würde die unbedingte Einzigkeit des einzelnen Subjekts gemeint – ontologisch, moralisch und sozial betrachtet.[22] Der Begriff der unbedingten Würde charakterisiert in Ethik und Moraltheologie die Grundvoraussetzung aller intersubjektiven Beziehungen. Er bezeichnet eine Wirklichkeit, die in sich einen unableitbaren Wert darstellt und deshalb unter keinen Umständen Mittel zur Herbeiführung eines angeblich höheren Zweckes werden darf. Die unantastbare Würde ist eine Eigenschaft, die das Wesen jeder Person immer schon bestimmt.

33. Die klassische Metaphysik – durch das christliche Denken rezipiert und entfaltet – fasst die irreduzible Singularität und individuelle Würde des Menschen in seine Bezeichnung als „eine individuelle Substanz rationaler Natur“[23]. Alle Individuen, die aufgrund ihrer biologischen Abstammung zur Menschengattung gehören, sind Teil dieser Natur. Anders gesagt: Jedes Individuum menschlicher Natur ist unabhängig von seinem biologischen oder psychologischen Entwicklungsniveau, seinem Geschlecht oder seiner ethnischen Zugehörigkeit eine Person, das heißt eine Wirklichkeit, die ganz unabhängig von ihren Eigenschaften unbedingt zu achten ist. Die Unableitbarkeit der Person widerspricht aber keineswegs ihrer Einbindung in das Geflecht der geistigen und leiblichen Welt.[24] Die Würde der menschlichen Person umfasst auch den Leib; denn der Mensch ist wesentlich auch Leib; die leibliche Dimension gehört zu seiner Gottebenbildlichkeit (nimmt teil „an der imago Dei[25]). Der Leib darf nicht als einfaches Mittel oder Instrument behandelt werden, so als ob er keine wesentliche Dimension der Personwürde des Menschen wäre. Der Leib teilt das Schicksal der Person und damit auch ihrer Berufung zur „Vergöttlichung“[26].

34. Die der menschlichen Natur wesentlich eingeschriebene Personalität entfaltet sich ethisch als Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstausrichtung auf das Gute und also als verantwortungsbewusste Freiheit. Eben diese Freiheit ist Inbegriff der Würde des Menschen, die es in der gesamten Menschheit zu wahren gilt. Papst Benedikt XVI. hat vor dem Deutschen Bundestag erklärt: „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst.“[27] Von Beginn an entdecken Mann und Frau sich als letztlich von Gott durch ihre Eltern sich selbst geschenkt. Dieses Geschenktsein will empfangen werden; und das Sich-Empfangen gehört wesentlich zur Gewissensbildung; es schränkt die Freiheit der Selbstbestimmung nicht ein, sondern ist im Gegenteil Bedingung einer Freiheit, die sich dazu bestimmt, Geschenk an den Nächsten zu sein. Wer dem zustimmt, widerspricht zugleich jedem Verständnis von Individualität, das den Menschen in sich selbst verschließt, statt die Entfaltung der Person auf die Intensivierung von Gegenseitigkeit zu gründen.

35. „In der theologischen Tradition des Christentums ist von zwei komplementären Aspekten der Person die Rede“.[28] Der Begriff „Person“ „verweist auf die Einzigkeit eines Subjektseins, das sich als geistbegabte Natur einer Würde und einer Autonomie erfreut, die sich im Selbstbewusstsein und in der freien Verfügung über das eigene Handeln zeigen“[29]. Und zugleich „zeigt sich die (geistbegabte) Person in ihrer Fähigkeit, in Beziehung zu treten: sie entfaltet ihr Handeln in der Ordnung der Intersubjektivität und der Gemeinschaft in Liebe“[30]. Es ist notwendig, den vom christlichen Glauben durchgängig bezeugten Zusammenhang zwischen der individuellen und der relationalen Dimension metaphysisch zu durchdringen und also weiter zu klären. Inzwischen gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die das christliche Denken und sein Potential im Dialog mit der modernen Kultur entscheidend bereichert haben. Philosophie, Naturwissenschaften und Sozialanthropologie der Gegenwart haben – nicht zuletzt angeregt durch die christliche Anthropologie – das Phänomen der Personalität und insbesondere die Wirklichkeit von Gewissen und Freiheit als für das Menschsein konstitutiv neu sehen gelehrt.

36. Die sogenannte „Moderne“ ist verbunden mit einer Aufwertung der Singularität des je einzelnen Menschen. Inzwischen allerdings beachtet man wieder stärker auch die Verwurzelung des Einzelnen in einer bestimmten Geschichte und Praxis. Die Anthropologie der „Moderne“ ist unterschiedlich gewertet und interpretiert worden. Es gibt Strömungen innerhalb der modernen Gesellschaft und Kultur, die die individuelle Realisierung der Freiheit im politischen, privaten und gesellschaftlichen Kontext an keine Bedingung binden wollen. Dem stehen wissenschaftliche Untersuchungen entgegen, die die faktische und materielle Konditionierung des menschlichen Denkens, Fühlens und Entscheidens unterstreichen. Die christliche Theologie hat noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil begonnen, sich im Lichte der Offenbarung den besagten Herausforderungen moderner Anthropologie zu stellen: – einerseits durch ein vertieftes Verstehen der göttlichen Berufung, die jeden einzelnen Menschen an dem ihm von der Geschichte zugewiesenen Ort auffordert, die eigene Einmaligkeit in Verantwortung vor Gott zu realisieren; – andererseits durch ein tieferes Erfassen der sozialen Dimension des Menschseins, die mit der Aufforderung verbunden ist, sich in ein je eigenes Verhältnis zu setzen zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Welt und zur Geschichte.

Das in der conditio humana verankerte Personsein

37. In diesem Kontext empfiehlt sich eine kurze Zusammenfassung der Anthropologie des Konzilsdokumentes. Die Erklärung Dignitatis humanae unterstreicht den Nexus zwischen den unverletzlichen Rechten jedes Einzelnen, seiner individuellen Freiheit und seiner Personalität. Folglich ist die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht das alleinige Kriterium der Zuerkennung von Personalität. In dieser Zugehörigkeit sind die persönliche Würde und die in ihr angelegten Menschenrechte bedingungslos verankert. Das Personsein beruht nicht auf Zuschreibungen, auf speziellen Eigenschaften oder Ausstattungen des Menschen; es ist auch nicht bedingt durch Zustände wie das Bewusstsein oder die aktuelle Befähigung zur Selbstbestimmung. Das Personsein ist deshalb auch nicht eine bloße Potenz oder das nachträgliche Ergebnis eines Reifungsprozesses. Vielmehr ist die Personwürde ein Apriori der conditio humana konstitutiv eingeschriebenes Faktum, das jeder einzelnen Eigenschaft, jedem existenziellen Zustand und jeder Entwicklungsstufe immer schon vorausliegt. Natürlich entwickelt und entfaltet sich jede Person durch ihre existenziellen Vollzüge; aber deshalb ist das Personsein nicht etwas, was man erwerben oder dem eigenen Dasein (oder dem des Anderen) hinzufügen kann. Niemand kann aus „etwas“ zu „jemandem“ werden. Mensch ist man nur als Person. Menschsein und Personsein sind untrennbar. Man wird nicht nachträglich Mensch beziehungsweise Person. Entweder ist eine bestimmte Wirklichkeit schon Mensch beziehungsweise Person; oder diese Wirklichkeit kann niemals Mensch beziehungsweise Person werden. Mensch ist man wesentlich im Modus persönlicher Individualität.

38. Die Anerkennung des jedem Menschen a priori zukommenden Personseins ist das Fundament jeder Gemeinschaft; denn eine Gemeinschaft wird dem Einzelnen gerecht, indem sie ihm unveräußerliche Rechte zuspricht. Daraus folgt, dass die Rechte der Person die Rechte des Menschen sind. Eine Gemeinschaft, die sich anmaßt, einzelnen Mitgliedern die Personwürde abzusprechen, verletzt damit ihr eigenes Wesen; sie beginnt, sich selbst zu zerstören, weil mit der Menschlichkeit jede Gemeinschaft stirbt. Die Zugehörigkeit jedes Einzelnen zur Menschheit setzt die Anerkennung der Unantastbarkeit der Personwürde jedes Menschen unbedingt voraus. Diese Zugehörigkeit – verbunden mit dem Recht auf Selbstbestimmung – darf niemals zur Disposition stehen, weil mit ihrer Anerkennung die gemeinsame Verantwortung für die Wahrung der Menschenwürde steht oder fällt. Eine von Menschen gebildete Gemeinschaft ist in dem Maße menschlich, in dem jeder Einzelne in ihr sein je eigenes Personsein beziehungsweise seine persönliche menschliche Qualität verwirklicht und einbringt. Von daher ist evident, dass die Achtung der Personwürde jedes Einzelnen und die Beteiligung jedes Einzelnen am Aufbau einer wahrhaft menschlichen Gemeinschaft zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.

39. Eine besondere Bedeutung kommt der Entwicklung von Anthropologien zu, die individualistische Subjekt-Theorien durch ein vertieftes Verstehen der relationalen Dimension der Personwürde korrigieren.[31] Bedeutende Schulen des neueren philosophischen Denkens und wichtige Tendenzen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bestätigen die konstitutive Bedeutung einer beziehungsorientierten Anthropologie. Denn dass sich das geistige und leibliche Dasein von Personen durch Interaktion und Gegenseitigkeit entfaltet, gehört zu den grundlegenden Bedingungen der Einzigartigkeit menschlicher Existenz. Offenbar „schön“ ist der Mensch, wenn er sein geistbegabtes Subjektsein intersubjektiv in Welt und Geschichte verleiblicht. Angesichts offenbarer „Schönheit“ bedarf die grundlegende Bedeutung der Dimension „Gemeinschaft“ keiner weiteren Begründung. Letztlich wurzelt sie in der Wahrheit, die die Liebe ist und als solche die christliche Prägung des Personseins und jeder Gemeinschaft von Personen bestimmt.[32]

Die Vermittlung des Gewissens

40. Die der conditio humana eingeschriebene Wahrheit vermittelt sich dem einzelnen Menschen über die moralischen Imperative seines Gewissens, – genauer gesagt mittels der „Urteile der Vernunft, die ihn erkennen lassen, ob eine konkrete Handlung, die er beabsichtigt, gegenwärtig ausführt oder schon vollzogen hat, sittlich gut oder schlecht ist“[33]. Der Mensch darf niemals gegen das Urteil seines Gewissens handeln. Und er muss sein Gewissen eigenverantwortlich mit allen zur Verfügung stehenden Hilfen nach der Wahrheit ausrichten. Die Entscheidung, gegen ein Gebot zu handeln, ist eine Gewissensentscheidung, wenn der Handelnde überzeugt ist, diese Option sei ein Erfordernis des Guten und damit in letzter Konsequenz Ausdruck des Willens Gottes.[34] Denn im Gewissen spricht Gott zu uns: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott.“[35] Gegen das Urteil des eigenen Gewissens zu handeln ist moralisch gesehen auch dann schlecht, wenn das entsprechende Urteil – objektiv (von außen) betrachtet – irrt. Die moralische Pflicht, selbst dann nicht gegen das Urteil des eigenen Gewissens zu handeln, wenn dieses sich im Irrtum befindet, gründet in dem Recht der Person, nie – und insbesondere nicht in Angelegenheiten des religiösen Lebens – von irgendjemandem zu irgendetwas gezwungen werden zu dürfen. Die zivilstaatlichen Behörden sind verpflichtet, dieses Grundrecht zu wahren und – soweit es nicht das Gemeinwohl gefährdet – für seine strikte Einhaltung zu sorgen.

41. Das Recht, nicht zum Handeln gegen das eigene Gewissen gezwungen werden zu dürfen, steht in tiefem Einklang mit der christlichen Überzeugung, dass die religiöse Zugehörigkeit im Wesentlichen durch einen Glaubensvollzug bestimmt wird, der seiner Natur gemäß nur frei erfolgen kann. Die für das Christentum wesentliche Betonung der unabdingbaren Freiheit des Glaubensaktes hat – so darf man vermuten – den historischen Emanzipationsprozess des Individuums in der frühen Moderne maßgeblich beeinflusst. „Im Gehorsam des Glaubens“ (vgl. Röm 1,5) unterwirft der Mensch sich aus freien Stücken dem Plan der Liebe des Vaters, der durch Christus und in der Kraft des Heiligen Geistes jeden Menschen einlädt, einzutreten in das Geheimnis der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes. Der Glaubensakt ist jener Akt, für den gilt: „Darin überantwortet sich der Mensch als ganzer in Freiheit so, dass er […] der Offenbarung Gottes in Christus zustimmt.“[36] Nachdem die faktische Geschichte des Christentums nicht selten in offensichtlichem Widerspruch zu dieser Lehre über die genuine Freiheit des Glaubens stand,[37] ist sich die Kirche bewusst, dass Gott die Freiheit des menschlichen Handelns und deren Verwirklichung in allem Auf und Ab des Lebens beziehungsweise der Geschichte gewahrt wissen will. Als Verteidigerin der Freiheit des Glaubensaktes richtet die Kirche sich mit folgender Einsicht an alle Menschen: Weil erwiesen ist, dass die Freiheit mit der Wahrheit wächst, ist offensichtlich, dass die Wahrheit ein Klima der Freiheit braucht, um erkannt und anerkannt werden zu können (vgl. Joh 8,32).

42. Bei eingehender Betrachtung ist die Freiheit des Glaubens das beste Paradigma, das man zur Erklärung der Personwürde des Menschen auswählen kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Kirche den Kern ihrer Botschaft als Befreiung des Menschen zu der Freiheit erklärt, die von der Macht der Sünde und des Bösen in ihr Gegenteil verkehrt wird. Damit widerspricht die Kirche allen, die dem Sünder einreden, Gott könne ihn gar nicht lieben. Die in Gen 3 geschilderte Schlange flüstert dem Menschen die Angst vor Gott ein; sie sperrt ihn ein in das Gefängnis des Verdachtes, Gott könne sein Feind sein. Dieses falsche Bild von Gott schürt Konflikte unter den Menschen, erstickt die Freiheit und tötet Beziehungen. Das durch böse Einflüsterungen verbreitete Bild von einem despotischen Willkürgott hat Auswirkungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen (z. B. auf die Beziehung zwischen Mann und Frau) und ist mitursächlich für eine Geschichte von Gewalt, Unterwerfung und Missachtung der Personwürde des Einzelnen und der in dieser Personwürde gründenden Gemeinschaften.[38] Die Soziallehre der Kirche betont durchgängig, dass die Basis und Quelle der politischen und gesellschaftlichen Ordnung die in der Personwürde jedes Menschen verankerte Freiheit ist.[39] Diese unumstößliche Tatsache begründet ein von keiner Bedingung eingeschränktes Prinzip, das von der philosophischen und politischen Moderne z. B. mit folgender Sentenz affirmiert wird: Der Mensch darf nie einfach nur als Mittel betrachtet werden, sondern er muss das Ziel sein.[40]

4 Das Recht der Gemeinschaften auf Religionsfreiheit

Die soziale Dimension des Menschen

43. Aus der Sicht der christlichen Tradition wurzeln die mit der Personwürde verbundenen Rechte in einer Freiheit, die sich als Verantwortung für das Gemeinwohl realisiert. Diese Sicht findet sich explizit (oder zumindest implizit) auch in den Anthropologien anderer religiöser Traditionen. Die reale Freiheit des je Einzelnen wird nur dann entfaltet und gestärkt, wenn sie – von zwischenmenschlichen Beziehungen getragen – befähigt wird, sich zu engagieren, sich zu binden, sich zu vervollkommnen und sich zu verschenken – weitab von den Entfremdungen, die ein in sich verschlossenes Ich in Individualismus abgleiten lässt. Mit anderen Worten: Faktisch lebt kein Mensch der Welt allein, sondern immer mit anderen, mit denen zusammen er Gemeinschaft ermöglichen und entfalten soll.[41] Unstrittig ist seit langem, dass ein Mensch gar nicht wissen könnte, ob etwas besser ist als etwas anderes, wenn ihm nicht immer schon eine Orientierung auf die Wahrheit hin eingeschrieben wäre. Das Urteil des Gewissens über die Rechtmäßigkeit einer Handlung wird durch persönliche Erfahrung und deren Reflexion gebildet; es orientiert sich an einem gemeinsam gelebten Ethos, das – bestimmt von der allen Menschen vorgegebenen Wahrheit – zur Tugend werdendes Verhalten schätzen und leben lehrt.[42] So gesehen liegen die Gemeinschaften, denen das Individuum angehört (Familie, Nation, Religion), jeder Entwicklung des Einzelnen voraus. Sie nehmen den Einzelnen auf; sie begleiten und sie unterstützen das große Abenteuer der das ganze Leben umfassenden Entfaltung seines Mensch- und Personseins.[43] Diese Entfaltung geschieht – geschichtlich und sozial betrachtet – durch die wechselseitige Verwiesenheit von Freiheit und Wahrheit.

44. Die Anerkennung der „gleichen Würde“ jeder Person wird nicht einfach durch die rechtliche Zuerkennung „gleicher Rechte“ realisiert. Wenn Rechtsinstitutionen eine zu abstrakte und formale Auffassung von der rechtlichen Gleichheit pflegen, ignorieren sie zumindest tendenziell die Unterschiede, die durch wechselseitige Ergänzung das Menschsein bereichern. Diese Unterschiede dürfen nicht mit dem Argument beseitigt werden, sie seien die Ursache von Ausgrenzungen oder geschwundener Identität. Allerdings gibt es sehr wohl auch die Kultivierung von Unterschieden, die die conditio humana der Willkür von Privatismus und Subjektivismus ausliefern. Ein Staat darf sich nicht darauf beschränken, Privatismus und Subjektivismus durch Gesetze zu bändigen. Er muss auch positiv darauf achten, dass die in seinem Zuständigkeitsbereich gelebten Unterschiede dem Gemeinwohl dienen. Andernfalls versagt er dem Gemeinwohl die institutionelle Unterstützung, die es braucht, um das Ethos der Zivilgesellschaft und die sozialen Bindungskräfte zu stärken.[44] Wenn das kostbarste Allgemeingut, die humanisierenden Kräfte der Gesellschaft, erodieren, wird auch dem Einzelnen Schaden zugefügt.[45] Insbesondere muss, wie wir heute klarer als zuvor erkennen, die Würdegleichheit der Frau ihren Niederschlag finden in der nicht nur theoretischen Zuerkennung gleicher Rechte. Denn hier gilt: „Die Bibel bietet keine Unterstützung für die Auffassung einer natürlichen Überlegenheit des männlichen über das weibliche Geschlecht.“[46] Die Betonung der gleichen Würde jedes Menschen hebt den Unterschied zwischen Mannsein und Frausein nicht auf; sie profiliert diesen Unterschied sogar, wie das Buch Genesis (vgl. Gen 2,18–25) und die neutestamentlich bezeugten Worte Jesu übereinstimmend bezeugen (siehe Mt 27,55; 28,6; Mk 7,24–30; Lk 8,1–3; Jona 4,1–42; 11,21–27; 19,25)[47]. Doch die theoretische und praktische Auslotung dieses Befundes hat nicht nur im christlichen Denken, sondern auch in der zivilgesellschaftlichen Kultur gerade erst begonnen.[48]

Subsidiarität und Gründungsgeschichte

45. Die generell fortschreitende Krise der Institutionen tangiert vor allem die humanisierende Funktion der Familie, in der die wechselseitige Treue von Mann und Frau die Basis für die Geborgenheit und Erziehung von Kindern bildet. Damit deren Anlagen (conditio humana) zu persönlicher Identität entfaltet werden können, bedarf es der leiblichen und geistigen Verbundenheit von Vater und Mutter in einem vorrangig von Gegenseitigkeit und selbstverständlicher Verantwortung geprägten Umfeld. Unter diesen Voraussetzungen wächst Sensibilität für den Nächsten und für die Gemeinschaft.[49] Die Gesamtgesellschaft basiert auf der Familie; das lehrt eine jahrtausendealte Erfahrung; alle Gesellschaften und Kulturen bezeugen ihre Unersetzlichkeit. Und in diesem Zusammenhang ist auch zu beachten: Die oft agnostisch begründete These, die Institutionen des Staates müssten sich allen Wertesystemen, Religionen und Sinndeutungen gegenüber neutral verhalten, reißt die Zivilgesellschaft aus ihrer kulturellen Verankerung. Die Symbole jeder Religionsgemeinschaft beantworten auf je eigene Weise die allen Menschen gemeinsamen Sinnfragen nach dem „Woher“ und „Wohin“. Ein Staat, der diese Sinnressourcen ignoriert, wirkt mit an der Erodierung der Fundamente des gegenseitigen Vertrauens und des sozialen Zusammenhalts. Selbst wo sie das Gegenteil intendieren, scheinen staatliche Autoritäten immer weniger in der Lage, religiöse und kulturelle Sinndeutungen zu verstehen, diese zu achten und aus ihnen zu schöpfen.

46. Religionen sind Ausdruck eines Erfahrungsschatzes, ohne den die Frage nach dem Sinn der Wirklichkeit (die der Einzelne und jede Gemeinschaft immer schon vorfindet) unbeantwortet bleibt – Fragen, die die conditio humana jedes Menschen betreffen: nach dem Sinn von Liebe und Tod, nach der Unterscheidung von „wahr“ beziehungsweise „richtig“ und „falsch“, nach den Rätseln des Daseins und dem Grund der Hoffnung. Indem Religionen Wächter der Sinnfrage sind, hüten sie das Geheimnis des Menschen. Religionen verweisen auf die ethische und emotionale Selbstüberschreitung des Menschen. Der nihilistischen Reduzierung des Menschen auf den „Willen zur Macht“ begegnen sie mit dem Glauben an die Liebe als höchste Entfaltung des Menschseins. Die das Christentum bestimmende Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe begründet die Hoffnung auf die Realisierung all dessen, was Menschen als wahre Gerechtigkeit und erfülltes Leben ersehnen.

Religiöse Praxis und konkrete Humanität

47. Die Verheißung, für immer von allen Leiden erlöst zu werden, und die Verheißung eines Heils, das den Sinn des Lebens über alle menschliche Erwartung hinaus erhellt, verhindert die melancholische Reduktion des Menschseins auf individuelle und materielle Bedürfnisse. Das für jede Religion charakteristische Gedenken an die Toten bezeugt die Realität unsterblicher, weil unwiderruflicher Bindungen des Menschen. Etwas in diesen Bindungen Unvollendetes wartet über den physischen Tod hinaus auf Erlösung. Eingekleidet in die Symbolwelten der ältesten Traditionen bezeugt die Geschichte der Religionen eine jedem Menschen eingeschriebene Hinordnung auf die transzendente Wirklichkeit. Die Geschichte der Religionen verweist auf das Geheimnis des göttlichen Lebens und wendet sich also gegen jede Reduktion des Menschen auf seine bloße Biologie. Konfrontiert mit Grenzerfahrungen, z. B. durch tragische Ereignisse, die das Leben aus seiner Verankerung reißen, greift auch ein Großteil der sich als dezidiert säkular verstehenden Gemeinwesen auf die Symbolsprache religiöser Feiern zurück. Wenn eine Gesellschaft von Grund auf erschüttert wird – z. B. durch eine Katastrophe großen Ausmaßes –, erscheint ihr der Nihilismus unerträglich und also der Glaube an ein Leben über den physischen Tod hinaus ein geradezu unentbehrlicher Faktor der Bewahrung des Menschseins. Etwas, was Menschen nicht machen oder herstellen können, nämlich die in Familien und christlichen Gemeinschaften gelebte Liebe und Gerechtigkeit, empfängt ihre den Tod besiegende Hoffnung aus dem Glauben an die Liebe und Gerechtigkeit des Schöpfers. Dass also die Frage nach dem Sinn und der letztendlichen Bestimmung des Menschen eine die Gesamtgesellschaft betreffende Frage ist, liegt auf der Hand. Folglich ist eine Religion, die die Sinnfrage beantwortet, auch in einem sich laizistisch nennenden Gemeinwesen von öffentlicher Bedeutung.

48. Heute lässt sich weltweit beobachten, dass viele Menschen ihre Identität in der Verbundenheit ihres persönlichen Schicksals (und des Schicksals ihrer Vorfahren) mit dem der eigenen Nation suchen – ganz unabhängig von wechselnden Staatsformen. Denn Identität – und mithin Freiheit und Würde – gibt es nicht unabhängig von Traditionen und Erzählungen. Die Traditionen und Erzählungen, die trotz ihrer Verschiedenheit und Komplexität zur Identität einer Nation beitragen, werden durch erzählte Überlieferungen in jeder einzelnen Familie und Gemeinschaft ergänzt und bereichert. Zu diesen zählt direkt oder indirekt auch die narrativ vermittelte Geschichte der je einzelnen Religionsgemeinschaft.[50] Wahrscheinlich können die Vielen, die das Christentum aus Unkenntnis mit einer Ideologie, einem Moralismus, einer Disziplin oder einem archaischen Überbau verwechseln, nur auf dem Wege der Begegnung mit dem erzählenden Zeugnis einzelner Personen und Familien bekehrt werden. Denn dort treffen sie auf die narrativ vermittelte Geschichte, die der Grund des von einer Generation zur nächsten tradierten Glaubens an Gott ist. Im Buche Deuteronomium heißt es: „Wenn dich morgen dein Kind fragt: Warum achtet ihr auf die Eidesbestimmungen und die Gesetze und die Rechtsentscheide, auf die der HERR, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Kind antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten und der HERR hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt. […] uns aber hat er dort herausgeführt, um uns in das Land, das er unseren Vätern mit einem Schwur versprochen hatte, hineinzuführen und es uns zu geben. Der HERR hat uns verpflichtet, alle diese Gesetze zu halten und den HERRN, unseren Gott, zu fürchten, damit es uns alle Tage gut geht und er für unser Leben aufkommt wie am heutigen Tag […]“ (Dtn 6,20–24).

Ganzheitliche Erziehung und Einbindung in die Gemeinschaft

49. Eine aus Überzeugung gelebte Beziehung zur Person Jesu, zu seinen Worten und Taten wird in der Regel durch die Kirche vermittelt. Denn in ihrer Gemeinschaft ist die Beziehung der Gläubigen zu dem gegenwärtigen Christus nicht nur theoretisch, sondern auch existenziell erfahrbar.[51] Im Leben eines Christen beziehungsweise einer Christin sind die individuelle Freiheit des Glaubensaktes und die Eingliederung in eine gemeinsam gelebte Tradition die beiden Seiten derselben Medaille. Wer um die Genese des eigenen Glaubens weiß, wird zu der anthropologisch erhärteten Überzeugung gelangen, dass die von den Menschenrechten geschützte Freiheit nicht individualistisch, sondern durch Integration in eine Gemeinschaft entfaltet wird. Freiheit wird sich ihrer selbst bewusst in der Beziehung zu Mitmenschen, die, was die Entfaltung ihrer Freiheit angeht, schon einen gewissen Weg gegangen sind. Von ihnen kann man lernen, wie man im eigenen Leben ausmerzt, was noch gefangen ist durch Triebe, Konditionierungen, konformistische Zwänge und narzisstische Selbstbespiegelung. Unabhängig von den Eigenschaften – z. B. „demokratisch“, „liberal“ oder „pluralistisch“ –, mit denen sich moderne Staaten als verlässlichen Schutz der Menschenrechte ausweisen, muss auch gefragt werden, wie dieser Schutz möglichst angemessen und effektiv garantiert werden kann.

50. Mit anderen Worten: Es geht um die Beantwortung der Frage, wie abstrakte Einsichten und Axiomata so auf die Entfaltung des Einzelnen und seine kommunitäre Integration appliziert werden können, dass die Reifungsprozesse des Individuums sich harmonisch einfügen in das Leben der Generationen und der nationalen Gemeinschaft.[52] Nur durch eine positive Beantwortung dieser Frage kann ein Staat die Gemeinschaften erhalten, denen er die Vitalität seiner Demokratie und die Wahrung des Gemeinwohls verdankt.[53] Andernfalls sind auch die edelsten Absichtserklärungen bloße Worte oder gar Scheinfassaden und sinnentleerte Floskeln. Christlich gesehen ist gutes Regieren immer von der Einsicht bestimmt, dass die Freiheit ihre Erfüllung nicht in sich selbst findet. Denn Freiheit erfüllt ihren Sinn nicht in der Auswahl unbegrenzter Möglichkeiten; nicht in willkürlich gesetzten Akten. Der Sinn der Freiheit wird nur durch die Willensakte verwirklicht, die in Einklang stehen mit der Würde des Menschen; denn diese ist – wie oben dargelegt – immer schon ausgerichtet auf das Gute.

51. Die Freiheit, die sich von der Vernunft und der Offenbarkeit des Guten bestimmen lässt, intendiert die persönliche und zugleich kommunitäre Vervollkommnung des Menschen. Daran, ob die Freiheit ihr Sinnziel verwirklicht, entscheidet sich, wie der Mensch seine Geschichte und Welt gestaltet. Diese Einsicht schlägt sich nieder in dem, was man gemeinhin „Humanökologie“ nennt. Gemeint ist das Bemühen um eine Ordnung des Lebens und des Lebensraumes, die in Einklang steht mit den tiefsten philosophischen und theologischen Erklärungen des Ursprungs und der Bestimmung allen Daseins. Inzwischen wurde der Begriff „Humanökologie“ erweitert zu dem Begriff „ganzheitliche Ökologie“, um so alle Dimensionen, die das Menschsein betreffen, einzubeziehen.[54] Man darf behaupten, dass das Christentum maßgeblich beigetragen hat zu einer vertieften Reflexion von Freiheit und Verantwortung und des dabei vorausgesetzten Personbegriffs. Aus christlicher Sicht ist die Freiheit des als Mann und Frau erschaffenen Menschen strahlender Spiegel der Liebe des Schöpfers. Nur wo Menschen ihre Freiheit in Treue zu ihrem Gewissen leben, wahren und entfalten sie die ihnen vom Schöpfer verliehene Würde und tragen so bei zur Vollendung der Heilsgeschichte. Die Freiheit, deren Inhalt die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist, trägt bei zum Heil aller Menschen und ihrer Geschichte. Denn deren Grund und Sinnziel ist der biblisch bezeugte Bundesgott, der seine Adressaten nicht zu passiven Objekten degradiert, sondern von ihnen willentlich bejaht (geglaubt) und geliebt werden will.

Der Wert der Zwischenkörper und der Staat

52. Unsere bisherigen Überlegungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der Freiheit lassen sich ausweiten durch Einbeziehung der Vermittlungsinstanzen und Gruppen, die in bestimmten Bereichen der Zivilgesellschaft tätig werden.[55] Sie üben eine Vermittlungsfunktion aus zwischen den persönlichen Rechten Einzelner und den Interessen eines Staates beziehungsweise seiner Regierung. Sie sind allerdings zu unterscheiden von Lobbyisten (z. B. pressure groups oder Sammelklagegruppen), die der von ihnen vertretenen Gesinnungsgemeinschaft ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl einen Vorteil verschaffen wollen. Im Vergleich dazu erstreben die besagten Zwischeninstanzen eine faire Vermittlung zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates; sie sind subsidiäre Institutionen im Interesse des Gemeinwohls.[56]

53. Die katholische Kirche versteht sich nicht als Subjekt eines privaten Interesses, das mit anderen um die Durchsetzung von Privilegien konkurriert. Die Sendung der Kirche ist die Evangelisierung. Sie (die Evangelisierung) verheißt die Liebe Gottes allen Menschen und dient also nicht politischen Interessen. Der Beitrag der Kirche zu einer Kultur und Ethik des öffentlichen Lebens liegt folglich in der Stärkung der sozialen Bindungen und der gesellschaftlichen Teilhabe. So ist sie bedeutsam für das Gemeinwohl und die Entwicklung eines politischen Humanismus. Aus gutem Grund darf man behaupten, dass die Kirche Vermittlungsinstanzen bildet und ermutigt und durch sie – im Rahmen staatlich geregelter Möglichkeiten und Grenzen – national und international dazu beiträgt, das Ethos und den Zusammenhalt der Zivilgesellschaften zu stärken. Sie versteht sich nicht als bloße Überzeugungs- oder Interessensgemeinschaft. Und sie versteht sich auch nicht als mit dem Staat konkurrierende Ordnungsmacht. Nachdem sie jede Rückkehr in eine theokratisch verstandene Symbiose von Staat und Religionsgemeinschaft ausgeschlossen hat, will sie überall zielgerichtet mitwirken an einer gerechten Implementierung der Religionsfreiheit in das öffentliche Leben. Auf die hier gemeinte Religionsfreiheit allerdings kann sich kein Gemeinwesen berufen, das aufgrund seines Agnostizismus und Multikulturalismus ideologisch oder religiös bestimmte Parallelwelten entstehen lässt, die keinen Beitrag ethischer, kultureller oder sozialer Vermittlung zugunsten von Gesellschaft und Staat leisten.

Staat, Internet und Überzeugungsgemeinschaften

54. Die Entwicklung der Kommunikation durch Internet und soziale Netzwerke lässt erahnen, welches Potential technische Innovationen für eine interaktive Menschheit bereithalten. Damit berühren wir ein viel diskutiertes Themenfeld, dessen Komplexität konstante Aufmerksamkeit erfordert. Moderne Informationsnetze sind auch für die Selbstdarstellung der Religionen von kaum zu überschätzender Bedeutung; sie verbreiten jedoch auch Theorien und Praktiken, die der Wirklichkeit nicht entsprechen. Die Leichtigkeit und die Schnelligkeit, mit der Beiträge unterschiedlichen Niveaus im Netz veröffentlicht werden können, ermöglichen zweifellos Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation, die zuvor nicht denkbar waren; und diese Möglichkeiten sind nicht zu unterschätzen. Allerdings fördern sie auch einen emotionalen Interaktionsstil, der immer intensiver wird, wie Beobachter mittlerweile hervorheben. Die Freiheit, sich online auf vielerlei Weise individuell äußern zu können, fördert neben der zunehmenden Schwierigkeit, Inhalte auf ihre Zuverlässigkeit überprüfen zu können, Phänomene wie die massenhafte Verbreitung von Falschinformationen (Fake News) und die Polarisierung der Nutzer durch Hassbotschaften (Haters). Die auf dem Wechselspiel von Information und Diskussion, von Konsens und Dissens beruhende Kommunikation dieser neuen Agora zeitigt ambivalente Folgen, deren politische und soziale Auswirkungen nicht unterschätzt werden dürfen.

55. Meinungsfreiheit einerseits und Verantwortungsbewusstsein andererseits werden auf dem Feld der Online-Interaktion schnell zu „feindlichen Brüdern“ – z. B., wenn Einzelne oder eine Gemeinschaft neuen Formen von Druck ausgesetzt werden. Dann trägt Online-Interaktion nicht bei zu einer von Reflexion und Partizipation bestimmten Ethik der Freiheit, sondern ist im Gegenteil eine subtile Form der Manipulation. Religiöse Gemeinschaften werden im Internet besonders oft und heftig mit unkontrollierter Emotivität und gezielten Desinformationen konfrontiert. Man wird auf Dauer weltweit geeignete Regeln finden müssen für angemessene Umgangsformen auf den privaten und öffentlichen Foren des Internets. Schon jetzt sind alle christlichen Gemeinschaften aufgerufen, Bildungseinrichtungen zu etablieren, die der neuen Medienlandschaft entsprechen und in ihr Prozesse initiieren, die sie an ein Ethos der kommunikativen Beziehungen und des politischen Konsenses binden.[57] Dabei muss jede christliche Gemeinschaft aufpassen, dass sie von den Medien nicht als parteiische Interessengemeinschaft, als bloße Pressure Lobby oder gar als in Gesellschaft und Staat mit der rechtmäßigen Regierung konkurrierender Machtfaktor diffamiert wird.

5 Staat und Religionsfreiheit

Das Christentum und die Würde des Staates

56. Schon im Alten Testament ist offenbar, dass einerseits die Herrschaft Gottes und andererseits der ihr in Freiheit antwortende Gehorsam des Glaubens der Logik des durchgängig bezeugten Bundes entsprechen (vgl. Dtn 6,4–6). Allerdings schließt der Gehorsam gegenüber Gott den Gehorsam gegenüber einer irdischen Regierung nicht aus, die – rechtmäßig etabliert – sich an ein entsprechend geordnetes Regelwerk bindet, das für die Bildung politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Institutionen unabdingbar ist. Diese Institutionen sind für die Verwaltung und Organisation jeder Nation unerlässlich. Die im auserwählten Volk Gottes etablierte Herrschaft kennt in der biblisch bezeugten Geschichte verschiedene Formen der Organisation und Ausübung – angefangen vom Stammesbund bis hin zu einer regelrechten (Doppel-)Monarchie. Auch wenn für alle Kulturen der Frühzeit bezeugt wird, dass politische Institutionen verankert sind in einer theologisch begründeten Kultur, sind im Blick auf das biblisch bezeugte Volk Gottes doch zwei Aspekte bemerkenswert. Da ist zunächst die Tatsache, dass der eingeforderte Gehorsam des Glaubens gegenüber den Geboten Gottes der Bundeslogik folgt und deshalb aufseiten der zum Gehorsam aufgeforderten Adressaten Freiheit voraussetzt. Und als zweiter Aspekt zu nennen ist, dass die aus Freiheit geleistete Bundes- und Gesetzestreue durch das regelmäßig erneuerte Versprechen garantiert wird, Gottes Gebote zu halten, damit es dem ganzen Volk gut ergehe (vgl. Dtn 7,7–16; Jer 11,1–7). Der einmal geschlossene Bund muss sich also ständig neu durch die Treue des Herzens und durch die praktische Ausübung der Gerechtigkeit bewähren.

57. Die Bundestreue des Volkes ist unvereinbar mit einem Verständnis des eigenen Erwähltseins als Privileg, das von der Wahrung des Gemeinwohls, von der Einhaltung ökonomischer Gerechtigkeit, wechselseitigen Respekts und solidarischer Selbstverpflichtung dispensiert. Die biblisch bezeugte Geschichte des alten Bundes kennt in der Zeit der Könige die Unterscheidung zwischen politischer Macht und religiöser Institution. Die politische Macht des Königs wird von der religiösen Macht des Priesters unterschieden, wenngleich dem König das Recht zusteht, den Hohenpriester zu ernennen und umgekehrt dem Hohepriester zugestanden wird, Einfluss zu nehmen auf die Herrschaft des Königs (vgl. 2 Kön 11–12). Nachdem das Königtum Israels von Besatzungsmächten (Nebukadnezar) beseitigt worden war, erfolgte eine Konzentration weltlicher und religiöser Macht in der Person des Hohepriesters als einer Person allgemeinen Vertrauens; doch auch in dieser Zeit blieb eine gewisse Unterscheidung in Kraft zwischen politischen Ämtern im eigentlichen Sinne und den spezifisch religiösen Aufgaben.[58] Der Anspruch, im öffentlichen Leben die Treue zu Gott und seinen Geboten mit der praktischen Ausübung von Gerechtigkeit zu vereinbaren, bestimmt auch den politischen Verhaltenskodex des Volkes, das den Gesetzen eines mit Gott geschlossenen Bundes entsprechen soll. Wenn die Propheten Israels soziale Ungerechtigkeit und politische Korruption, gewalttätige Einschüchterung und wirtschaftlichen Missbrauch anprangern, verurteilen sie zugleich den Verrat des mit Gott geschlossenen Bundes und die Beschädigung des von ihm getragenen Ethos (s. Samuel in 1 Sam 13, Nathan in 2 Sam 12, Elias in 1 Kön 17–19; vgl. auch Am 4–6, Hos 4, Jes 1, Mi 1 usw.). Die Konkretheit der prophetischen Anklage mit ihren detailgenauen Beispielen appelliert an die der politischen Gerechtigkeit eingeschriebene Vernunft und an den Glauben, der diese Vernunft von Gottes Willen bestätigt weiß.

58. Gleich zu Beginn seiner Sendung zur Aufrichtung des Reiches Gottes greift Jesus die besagte Kritik der Propheten auf – indirekt in seiner durch Gleichnisse veranschaulichten Predigt und direkt in seiner Verurteilung des zeitgenössischen Legalismus (vgl. Mt 23,13–28; Lk 10,29–37; 18,9–14). Auch Jesu Reich-Gottes-Botschaft setzt die besagte Unterscheidung zwischen Politik und Religion voraus – auf der einen Seite die an historisch bedingte Möglichkeiten und Grenzen gebundene Ausübung ökonomischer und politischer Macht; auf der anderen Seite die religiöse Sorge um das Heil Israels, die in Jesu Person identisch ist mit der Offenbarkeit Gottes beziehungsweise mit dem Handeln Gottes selbst. Auch in der frühen Kirche wird die grundsätzliche Rechtmäßigkeit politischer Macht nicht hinterfragt; und ebenso wenig deren Unterscheidung von der religiösen Autorität. Letztere wird auf eine direkte Anweisung Jesu zurückgeführt. Dem entsprechen die Empfehlungen der Apostelfürsten Petrus und Paulus zur Achtung der rechtmäßigen weltlichen Autorität (vgl. Röm 13,1–7; 1 Petr 2,13–14). Weil die zum Wohl des Volkes ausgeübte Macht als von Gott gewollte verstanden wird, gilt die Maxime, dass eine geschichtlich bewährte und als gerecht befundene Ordnung nicht beseitigt werden darf. Denn wer als Vertreter politischer Macht einer gerechten Ordnung dient, ist letztlich auch ausführendes Organ der Sorge Gottes für seine Geschöpfe. Es besteht kein Grund, die Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Autorität aufzuheben; aber gerade deshalb muss auch das Spezifische des in Jesu Weisung selbst gründenden Evangelisierungsauftrags der Kirche stets neu profiliert werden. Es muss deutlich erkennbar sein, dass das mit Jesus anbrechende Gottesreich nicht „von dieser Welt“ ist (Joh 18,36); und dass die Logik der Hirtengewalt eine andere ist als die Logik der politisch Mächtigen, die „über ihre Völker herrschen“ (vgl. Lk 22,25). Dem steht eine rechtmäßige und gebührende Anerkennung der politischen Prärogative (z. B. der Autorität des Kaisers) nicht entgegen – vorausgesetzt natürlich, die politische Autorität beansprucht den Platz Gottes nicht für sich (vgl. Mt 22,21).[59] Für Christen steht außer Zweifel, dass der höchste Gehorsam Gott gilt, und zwar ihm allein (vgl. Apg 5,29). Dieser in Freiheit geleistete Gehorsam gegenüber Gott ist Ausweis der Freiheit des Glaubens (vgl. 1 Petr 3,14–17); er tangiert weder die individuelle Freiheit des Individuums, noch bedroht er die öffentliche Ordnung irgendeiner Gemeinschaft (vgl. 1 Petr 2,16–17).

59. Wenn man auf die Zeit des römischen Weltreiches zurückblickt, fehlt es nicht an Belegen für den christlichen Widerstand gegen jene Interpretationen der religio civilis, die zur Durchsetzung des Kaiserkultes Verfolgung rechtfertigen.[60] Der religiöse Kaiserkult versteht sich als ausschließende Alternative zu dem christlichen Dogma von der Einzigkeit Christi und der mit ihm angebrochenen Herrschaft des einzigen Gottes; er wurde deshalb mit Gewalt durchgesetzt.[61] Die Evangelien binden zivile Machtausübung an das Kriterium der Gemeinwohlverpflichtung und wenden sich zugleich gegen jede Politik, die sich als Religionsersatz versteht – eine Position, die von Augustinus in seiner Spätschrift De civitate Dei ausführlich aufgegriffen und begründet wird.[62] Weit davon entfernt, der politischen Macht ihre Berechtigung abzusprechen, verteidigt Augustinus die Aufgaben des Staates. Denn er ist überzeugt, dass die Sicherung des irdischen Friedens und also die vornehmste Pflicht des Staates so etwas wie die zeitliche Antizipation des ewigen Friedens ist, den Gott als Integral des ewigen Lebens verheißt. Das irdische Gut der von Menschen gebildeten Gemeinschaft und das ewige Gut der Gemeinschaft mit Gott sind nicht zwei völlig voneinander getrennte Güter, wie einige Interpreten der augustinischen Gegenüberstellung der civitas terrena und der civitas Dei fälschlich vermutet haben. Auch die dualistische These, der Staat regiere „den Leib“, die Kirche hingegen die „Seele“ der Menschen, ist das Ergebnis einer oberflächlichen Vereinfachung der entsprechenden Ausführungen des heiligen Augustinus.

60. Mit den Gesetzen des Kaisers Theodosius (ca. 380–390) verändern sich die Rahmenbedingungen für die Bestimmung der Religionsfreiheit und für das Verhältnis von Kirche und Staat. Das Ergebnis ist die Rechtfertigung eines „christlichen Staates“, in dem religiöser Pluralismus unerwünscht ist; damit ist ein wichtiger Paradigmenwechsel vollzogen.[63] Auch nach dieser Wende hat das Christentum die Trennung der politischen Macht des Staates von der geistlichen Macht der Kirche und damit die spezifische Eigenart beider Größen zu wahren versucht. Doch dieser Versuch blieb stets auf doppelte Weise gefährdet. Da ist zunächst die theokratische Versuchung, Ursprung und Legitimität der weltlichen Macht aus der plenitudo potestatis der religiösen Autorität abzuleiten – mit der Konsequenz, dass die politische Autorität nur nach Maßgabe der kirchlichen Autorität ausgeübt werden kann. Und da ist die gegenteilige Versuchung der weltlichen Macht, sich die Kirche so zu unterwerfen, dass diese nichts anderes mehr ist als ein Organ oder eine Funktion des Staates, von ihm mit religiöser Traditionspflege beauftragt. Das schon im 5. Jahrhundert (Gelasius I., 494) einsetzende und sich bis ins 19. Jahrhundert (Leo XIII., 1885) fortsetzende Bemühen der Theologie um eine angemessene Verhältnisbestimmung beider Größen ging zwar immer von der Prämisse aus, dass die geistliche Autorität der sacra potestas über der politischen Autorität steht; war aber zugleich geleitet von der Sorge um eine möglichst harmonisch gestaltete Ordnung.[64] Die Suche nach einer Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche wird von dem Konzilsdokument Gaudium et spes mit dem Vorschlag fortgesetzt, beides, die Autonomie beider Größen und auch deren wechselseitige Verwiesenheit, in gleichem Maße zu wahren.[65] Der gesellschaftspolitische Wandel unserer Zeit ist begleitet von zunehmender Distanz gegenüber jeder religiösen Legitimierung des von Politik und Staat geförderten Ethos; aber gleichzeitig auch durch ein vertieftes Verstehen und Achten der Freiheit von Glaube und Konfession. Zu den Werten, die von allen zu beachten sind, zählen Zivilgesellschaften inzwischen ganz generell auch die Maxime, dass jede Form von Zwang, insbesondere auch psychischer Zwang, zu vermeiden ist. Diese Entwicklung darf als Frucht christlicher Tradition betrachtet werden; und sie ist zugleich ein Implikat der von jedem Staat zu schützenden Menschenwürde.

Die „monophysitische“ Abweichung in den Beziehungen zwischen Religion und Staat

61. Die civitas Dei lebt und entwickelt sich „innerhalb“ der civitas terrena. Dem entspricht die kirchliche Soziallehre, wenn sie jedes gemeinwohlorientierte Engagement zur Verbesserung der hiesigen Lebensbedingungen als Segen würdigt.[66] Die christliche Unterscheidung zwischen civitas Dei und civitas terrena will keineswegs einen Gegensatz aufrichten zwischen der weltlichen und der geistlichen Sphäre. Zudem: Gott verordnet ganz sicher keine bestimmte Form von Staat oder Regierung; theologisch unbestritten ist aber, dass jede Autorität, die Menschen über Menschen ausüben, letztlich von Gott legitimiert ist und deshalb mit den Kriterien seiner Gerechtigkeit zu messen ist. Dieser Hinweis auf das von Gott gelegte Fundament bestreitet nicht, dass die Wahrung des sozialen Zusammenhaltes und der politischen Ordnung in der Hand des Menschen liegen. Hingewiesen werden soll lediglich auf die von Gott gesetzten Grenzen, die jeder Machtausübung von Menschen über Menschen gezogen sind.[67] Folglich sind „Staatstheokratie“ und „Staatsatheismus“ zwei Seiten derselben Medaille; beide Phänomene ersetzen Gott durch eine Ideologie; die eine pervertiert die Religion in ihr Gegenteil, die andere die Aufgaben von Politik und Staat. Man kann von einer gewissen Analogie der beiden genannten Absolutismen mit der christologischen Häresie des Monophysitismus sprechen; denn der Monophysitismus wahrt weder die Unterschiedenheit der göttlichen von der menschlichen Natur des Erlösers, noch deren personal begründete Vereinigung. Gegenwärtig allerdings begegnet uns die in bestimmten Phasen der Christentumsgeschichte virulente Versuchung eines „politischen Monophysitismus“ wohl eher in radikalen Strömungen nichtchristlicher Religionen.

Die „liberale“ Einschränkung der Religionsfreiheit

62. Das Axiom der Gleichheit aller Bürger blieb ursprünglich auf das Rechtsverhältnis zwischen Individuum und Staat beschränkt und bedeutete in der Praxis die gesetzliche Gleichbehandlung aller Mitglieder eines Gemeinwesens. Inzwischen aber spricht man auch von einer „Gleich-Gültigkeit“ und „Gleich-Wertigkeit“ aller Gestaltungen von Ethik und Kultur. Vor diesem Hintergrund ist schon die Diskussion darüber umstritten, ob man als Politiker sagen darf, dass ein moralisches Werturteil einem anderen oder eine kulturelle Präferenz einer anderen deshalb überlegen ist, weil sie mehr zum Gemeinwohl beiträgt. Viele verbinden den Gedanken der weltanschaulichen Neutralität des Staates mit der Forderung, man solle moralische und soziale Fragen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip lösen.[68] Die Folgen, die eine konsequente Umsetzung dieses ideologischen Egalitarismus für das Ethos und die Kultur einer Gesellschaft zeitigen, sind Anlass zu großer Sorge. Wenn eine Gemeinschaft die Kräfte, die sie tragen und zusammenhalten, ignoriert, zerstört sie sich selbst. Es lässt sich außerdem beobachten, dass ein Staat, der seiner Neutralität wegen auf ethische Wertungen verzichtet, sich selbst zur Kontrollinstanz aufschwingt und in der Konsequenz nicht demokratischer, sondern autoritärer wird. Denn ein Staat, der ethische Werturteile mit Berufung auf seine weltanschauliche Neutralität zensiert, beschränkt die Gewissensfreiheit, statt sie zu schützen. Eine angeblich neutrale Staatsethik kann dazu führen, dass Religionsgemeinschaften das Recht abgesprochen wird, sich nach eigenen Grundsätzen zu organisieren – unabhängig von der durchaus berechtigten Frage, ob das spezifische Ethos einer religiösen Gruppierung mit der öffentlichen Ordnung kompatibel ist oder nicht.[69]

63. Die besagte Neutralität (eines Staates in Bezug auf ethische Werte) ist das Ergebnis verschiedener Vorstellungen von dem, was die Modernität und Liberalität eines Gemeinwesens ausmacht. Denn der Liberalismus hat als politische Theorie eine lange und komplexe Geschichte, die sich nicht auf ein von allen Beteiligten geteiltes Konzept reduzieren lässt. Es gibt Theorien, die eine strikt am Einzelnen orientierte Anthropologie voraussetzen; und es gibt Theorien, die das Recht als Ergebnis einer Vereinbarung betrachten, die Staat und Gesellschaft umsetzen. Man kann mindestens vier Konzepte staatlicher Neutralität unterscheiden: (a) Da ist zunächst der Vorschlag, alles, was die individuelle Freiheit in Gestalt von Regeln oder Normen binden soll, pragmatisch zu bestimmen. (b) Da ist zweitens der Vorschlag, die normative Zuständigkeit des Gesetzgebers an klar definierte Kriterien (an eine bestimmte Logik) zu binden. (c) Da ist drittens der Vorschlag, auch solche Gesetze zu tolerieren, die Teile der Gesellschaft begünstigen, sofern diese Begünstigung nicht Grund für die Erlassung entsprechender Gesetze war. (d) Und da ist viertens der Vorschlag, Freiheit auch da politisch zu garantieren, wo diese sich nicht auf einen ihr vorgegebenen Begriff des Guten verpflichtet. Der vierte Vorschlag reagiert auf faktische Einschränkungen von Meinungs-, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Die Neutralität des Staates soll sich nicht darauf beschränken, die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zu gewährleisten, sondern auch bestimmte Definitionen des (für den Einzelnen und die Allgemeinheit) Guten und damit ethische Präferenzen bestimmter Gruppierungen ausschließen. Aber so kann – zumindest tendenziell – eine laizistische Version der Theokratie entstehen. Denn hier entscheidet der sich liberal nennende Staat, was orthodoxe und was häretisch gelebte Freiheit ist. Hier erklärt ein Staat seine politische Vision von einer idealen Gesellschaft zum Heilsbringer. Hier erklärt ein Staat sich selbst als vollkommen identisch mit allem, was vernünftig und für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen gut ist. Absolutismus und ethischer Relativismus erweisen sich hier als die zwei Seiten derselben Medaille. Denn derselbe Staat, der bestimmte Spielarten konkret gelebter Freiheit verbietet, brüstet sich zugleich mit dem ethischen Relativismus seiner dem Liberalismus verpflichteten Neutralität.

Die Ambiguität des moralisch neutralen Staates

64. Das moralische Gewissen ist wesentlich ausgerichtet auf die ihm vorgegebene Wahrheit des Guten. Es ist frei, indem es sich auf die Wahrheit des Guten bezieht. Das wahrhaft Gute kann von niemandem vereinnahmt oder privatisiert werden; es ist immer das für alle Gute. Über individuelle Gewissensfreiheit zu sprechen heißt, über ein „Ur-Recht“ des Menschen zu sprechen, das der Willkür immer schon entzogen ist, weil es wesentlich konstituiert ist durch den besagten Bezug auf das alle Menschen verbindende Gute. Wo dieser Bezug auf das allen gemeinsame Gute geleugnet wird, ist das Gewissen nicht mehr Letztinstanz der ethischen Wahrheit, sondern nur noch Spiegel dessen, was faktisch gilt oder gar willkürlich dekretiert wird. Der moralische Imperativ des Gewissens ist nicht das Ergebnis von Überlegungen oder Optionen; er steht weder im Dienste der individuellen Freiheit, noch im Dienste des Gemeinwohls. Er liegt alldem voraus, weil nur in der Treue zu ihm die Würde der handelnden Person gewahrt wird. Ein Gewissen, das den Ursprung seiner selbst und seiner apriorischen Ausrichtung auf das Gute mit Gott identifiziert, anerkennt damit eine Instanz, die jede Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen ausschließt und jedem Glied einer von Menschen gebildeten Gemeinschaft die gleiche Würde zuspricht. Wo aber Gott durch menschengemachte Götzen ersetzt wird, die das Gewissen des Einzelnen dem von ihnen beherrschten Kollektiv unterordnen, ist das Ergebnis nicht die Befreiung des Einzelnen zu sich selbst, sondern im Gegenteil eine Form von Versklavung. Staaten, die sich für ethisch neutral halten und deshalb das Recht von Religionsgemeinschaften auf freie Selbstdarstellung einschränken, bereiten so den Boden für die Ersetzung Gottes durch absolutistische Ideologien. Papst Franziskus hat vor dieser Gefahr mit folgenden Worten gewarnt: „Wenn man im Namen einer Ideologie Gott aus der Gesellschaft ausstoßen will, betet man schließlich Götzen an, und sehr bald verliert der Mensch sich selber, wird seine Würde mit Füßen getreten und werden seine Rechte verletzt.“[70]

65. Das beschriebene Problem wird für Christen akut, wenn sie dazu aufgefordert werden, sich in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit der ethischen Neutralität des Staates zu unterwerfen. Wer zugleich verschiedenen Gemeinschaften – Familie, Staat, Kirche – angehört, wird aufgefordert, Familie und Kirche als Privatsache zu betrachten und die Staatsbürgerschaft so zu realisieren, als stünde man jeder religiösen und ethischen Option „neutral“ gegenüber. Mit anderen Worten: Christ ist man nur privat; in der Öffentlichkeit ist man ein religiös und moralisch indifferentes Mitglied des Staates, der seine christlich geprägten Traditionen als historisch bedingten Zufall betrachtet. Wenn Christen die besagte Aufspaltung in ein vom Staat regiertes Außenleben und ein von der Kirche regiertes Innenleben einfach akzeptieren, verzichten sie bereits auf die Ausübung ihres Rechtes auf Religions- und Meinungsfreiheit. Christen dürfen niemals beitragen zu einem gesellschaftlichen Pluralismus, der grundlegende ethische Normen vergleichgültigt, statt diese im Sinne des Gemeinwohls zu schützen.[71] Es geht nicht darum, Werte oder Positionen einer bestimmten Konfession durchzusetzen, sondern es geht um den Schutz des Gemeinwohls. Es geht um die Verpflichtung jeder Art von Zusammenleben und politischer Öffentlichkeit auf den Schutz der Personwürde jedes Einzelnen. Wie die folgenden Kapitel erklären, ist das Christentum gerade deshalb, weil es seine Aufgabe von der des Staates strikt unterscheidet, nicht Konkurrent, sondern Partner bei der legitimen Ausgestaltung dessen, was Papst Benedikt XVI. als „positive Laizität“ im Verhältnis zwischen Politik und Religion bezeichnet hat.[72]

6 Religionsfreiheit als Beitrag zum Zusammenleben und sozialen Frieden

Religionsfreiheit zum Wohle aller

66. In den vorausliegenden Kapiteln wurden die verschiedenen Aspekte des individuellen und des kommunitären Charakters der Religionsfreiheit behandelt. Wir haben die anthropologischen Implikationen der Religionsfreiheit ebenso erörtert wie deren Bedeutung im Verhältnis von Staat und Kirche. Dabei ging es immer um die Personwürde jedes einzelnen Menschen – nicht nur bei der Erläuterung dessen, was Gewissensfreiheit bedeutet, sondern auch in unseren Reflexionen über den Stellenwert von Religionsgemeinschaften in Staat und Gesellschaft. Eigens thematisiert wurden die Widersprüche, in die sich Staaten verwickeln, die den Einfluss von Religion z. B. auf Bildung und Kultur ausschließen, um ihre „ethische Neutralität“ zu wahren. In den folgenden Paragraphen nun soll es um die konkrete Ausübung der Religionsfreiheit gehen. Das heißt: Wir befassen uns mit den eher praktischen Themen der Vermittlung von Religionsfreiheit im Leben einer Zivilgesellschaft, die diese durch ihre Institutionen juristisch regeln und schützen muss.

Das Zusammensein als Gut

67. Das Zusammensein beziehungsweise das Zusammenleben ist ein hohes Gut für jeden Einzelnen, aber auch für jede Gemeinschaft. Dieses Gut ist ein evidentes Faktum; es bedarf keiner theoretischen Herleitung oder Rechtfertigung.[73] Wenn es anerkannt, geschätzt und verteidigt wird, trägt es ganz entscheidend bei zum sozialen Frieden und Gemeinwohl. Akzeptanz und bestmögliche Ausgestaltung des besagten Gutes sind die Grundvoraussetzungen für jedes Bündnis und jede gemeinsame Anstrengung zur Realisierung des Gemeinwohls. Erschütternd ist, dass die Konflikte, die gegenwärtig zu größter Sorge Anlass geben, und dass die Brüche und Greueltaten, die „abschnittweise“[74] Brandherde eines dritten Weltkrieges zu werden drohen, nicht selten ein über lange Zeit erprobtes und bewährtes friedliches Zusammenleben in plötzlich aufwallender Wut zerstören und damit unermessliches Leid über die betroffenen Menschen und ihre Völker bringen.[75] In diesem Kontext dürfen auch die Folgen der besagten Konflikte nicht vergessen werden. Zu nennen sind vor allem Migrationsbewegungen infolge politischer Konflikte oder prekärer wirtschaftlicher Bedingungen. Weil Migranten ihre Religion mitnehmen, entstehen neue Herausforderungen an eine gerechte Ausübung der Religionsfreiheit, die eigens zu thematisieren sind.[76]

68. Nur wo der Wille existiert, zusammen zu leben, lässt sich eine gute Zukunft für alle gestalten. Andernfalls gibt es für keinen eine gute Zukunft. Im Zeitalter der Globalisierung hat sich das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit und Gemeinschaft nicht verändert. An einem konkreten Ort geboren zu werden, bedeutet immer noch, mit anderen in Kontakt zu treten – angefangen bei den Nächsten, aber letztlich mit der ganzen Welt. Diese Tatsache macht uns – ob nah oder fern – füreinander verantwortlich. Heute sind Verantwortlichkeiten immer stärker miteinander vernetzt; sie überschreiten soziale Unterschiede und Grenzen. Probleme, die alle Menschen betreffen, können nur gemeinsam beziehungsweise interaktiv gelöst werden. Deshalb ist das besagte Gut des Zusammenlebens kein statischer Besitz, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; und es muss politisch gesichert werden, damit es sich fortschreitend entfalten kann.[77] Religionen, denen man staatlicherseits erlaubt, sich mit den in ihren Gemeinschaften gelebten Traditionen und Werten in die Gesellschaft einzubringen, können die ganze Menschheit einen, wenn die Wurzel ihres Denkens und Handelns die niemanden ausschließende Liebe ist. Das Gut des Zusammenlebens wird zu einem Reichtum für alle, wenn alle für das Gemeinwohl sorgen.

69. Ein Ausgleich der verschiedenen Dimensionen des Zusammenlebens gelingt am ehesten dort, wo Menschen ihren religiös gelebten Glauben und ihre ethischen Grundüberzeugungen so einbringen, dass sie zugleich dem eigenen Gewissen und der Verpflichtung auf das Gemeinwohl dienen. Denn nichts spricht dagegen, dass eine Religionsgemeinschaft ihren Glauben an Gott individuell und kommunitär so lebt, dass dieser ein allen offenstehendes Gut ist. Eine Religionsgemeinschaft sollte jedenfalls keine Geheimgesellschaft sein; im Gegenteil, alle Mitglieder der Gesellschaft sollten sich von ihr eingeladen fühlen und also, falls gewünscht, freien Zugang erhalten. Wenn Religion gelebte Beziehung zu Gott ist, dann ist sie ein Gut, das alle angeht. Diese Überzeugung ist ein Segen, wenn sie von allen Beteiligten ehrlich vertreten und gelebt wird. Mit dieser Überzeugung verbunden ist das Bemühen um eine stete Verbesserung des Dialogs zwischen Religion und Zivilgesellschaft. Es liegt im Interesse beider Seiten, die Sinnressourcen eines Gemeinwesens vor Indifferentismus und radikalem Relativismus zu bewahren.

Die richtige Unterscheidung der Religionsfreiheit

70. Wie oben ausgeführt, kann man nicht alle Ausformungen des religiösen Lebens gleich bewerten. Das gilt individuell wie kollektiv, für traditionelle ebenso wie für neuere Phänomene. Daher ist es notwendig, die verschiedenen Gestalten des religiösen Lebens vergleichend zu prüfen und sie nach dem Kriterium zu beurteilen, in welchem Maße sie der Gesamtgesellschaft Sinn und Halt vermitteln und also beitragen zur Wahrung des Gemeinwohls.[78] Alle in einer Zivilgesellschaft aktiven Religionen müssen bereit sein, sich vor dem Forum einer der Menschenwürde aller Menschen dienenden Vernunft zu verantworten; dabei geht es um die von jeder weltlichen Autorität zu schützenden Menschenrechte. Die politische Autorität ist als Hüterin der öffentlichen Ordnung auch dazu verpflichtet, alle Bürger – und insbesondere die Schwächsten unter ihnen – gegen religiös verkleidete Übergriffe zu schützen, die in bestimmten Sekten praktiziert werden – durch psychologische oder emotionale Manipulation, durch wirtschaftliche oder politische Ausbeutung, durch isolierende Absonderung und Ähnliches. Zu den Implikaten einer der Menschenwürde dienenden Vernunft gehört die politische und juristisch abgesicherte Forderung der friedlichen Koexistenz und der wechselseitigen Zuerkennung gleicher Rechte. Und dazu gehört auch das Recht, die eigene Religion oder Konfession zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen.[79] Wechselseitige Gewährung der gleichen Rechte bedeutet: Wenn irgendwo freie Meinungsäußerung und freie Religionsausübung auch der religiösen Minderheit gewährt werden, dann muss diese Minderheit überall da, wo sie die Mehrheit vertritt, ihrerseits der Minderheit dieselben Rechte zusprechen. Dieses Gegenseitigkeitsprinzip ist bedeutend anspruchsvoller als die Formel cuius regio eius et religio, mit der Protestanten und Katholiken den Augsburger Religionsfrieden (1555) besiegelt haben. Zu dem damaligen Zeitpunkt der europäischen Geschichte war das Prinzip der Identität von Staats- und Religionszugehörigkeit das Mittel, mit dem allein man meinte, sogenannte „Religionskriege“ eindämmen und verhindern zu können. Diese Position ist von der Rechtsentwicklung längst überholt. Denn die rechtliche Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion beziehungsweise Kirche orientiert sich an der Wahrung der Freiheit des Einzelnen und seines Gewissens.

Die Verbreitung der Religionsfreiheit

71. In einigen Ländern gibt es bis heute keine rechtlich gesicherte Religionsfreiheit. In anderen Ländern wird die Freiheit der Religionsausübung auf den Raum von Gottesdienst und privater Frömmigkeit beschränkt. In manchen Ländern ist jede nach außen getragene Glaubenspraxis und also auch jede öffentliche Verkündigung des Glaubens untersagt. Wer dagegen verstößt, muss mit schweren Strafen rechnen – bis hin zur Todesstrafe für den Fall, dass er konvertieren möchte oder versucht, andere zu bekehren. In Diktaturen, die sich atheistisch nennen – aber mit gewissen Abstrichen auch in einigen Ländern, die sich demokratisch nennen – werden Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften nicht selten verfolgt und ausgegrenzt. Sie werden z. B. von öffentlichen Ämtern oder staatlichen Beihilfen ausgeschlossen. Diese Diskriminierung betrifft in bestimmten Ländern auch soziale Hilfswerke in christlicher Trägerschaft (im Gesundheitswesen oder im Bildungswesen...); ihre Arbeit wird erschwert oder gar verunmöglicht durch gesetzgeberische, finanzielle oder propagandistische Schikanen. Von wirklicher Religionsfreiheit kann dann keine Rede mehr sein. Denn wirkliche Religionsfreiheit ist die Freiheit des Bekenntnisses nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.[80]

72. Nur wo die Freiheit des Gewissens gewahrt wird, wird jedes Individuum geachtet, wird seine Selbstbestimmung ermöglicht und all das abgewiesen, was dem Einzelnen und dem Gemeinwohl schadet. Die Kirche erwartet, dass ihre Mitglieder ihren Glauben frei leben können, und dass die Rechte des Einzelgewissens solange geschützt werden, wie sie in Einklang stehen mit den Rechten aller anderen Menschen. Wer seinen Glauben lebt, kann vor eine Situation gestellt werden, in der er seinem Gewissen nur dann gehorcht, wenn er sich einem Gesetz des Staates widersetzt. Zivilgesetze, die dem natürlichen Sittengesetz widersprechen, können das Gewissen nicht verpflichten. Deshalb muss jeder Staat das Recht des Menschen auf Weigerung aus Gewissensgründen anerkennen.[81] Zuerst und zunächst ist das Gewissen Gott, dem Vater aller Menschen, verpflichtet. Wo der Gottesbezug geleugnet wird, entstehen fast zwangsläufig andere Abhängigkeiten – was schon den hl. Ambrosius zu der Klage veranlasst hat: „Wie viele Götter hat doch der, der vor dem wahren Gott geflohen ist!“[82]

7 Religionsfreiheit in der Sendung der Kirche

Das freie Zeugnis der Liebe Gottes

73. Evangelisierung besteht nicht nur darin, das von der Liebe Gottes geschenkte Heil zu verkünden, sondern auch – und sogar zuerst – darin, selbst ein Leben zu führen, das bestimmt ist von der Barmherzigkeit Gottes, die im Christuserereignis gipfelt. Durch Jesus Christus hat Gott die gesamte Geschichte ausgerichtet auf die Verwirklichung des Reiches Gottes. So entfaltet sich die Sendung der Kirche in der Liebe, die den Menschen vermenschlicht, und in der Verantwortung für eine entsprechende Erziehung von Generation zu Generation.

74. So bringt die Kirche ihre tiefe Verbundenheit mit Männern und Frauen in jeder Lebenssituation zum Ausdruck, und so beweist sie ihre besondere Zuwendung zu den Armen und Verfolgten. Diese Präferenz ist Kriterium ihrer Bereitschaft, die Hoffnungen und Ängste der gesamten Menschheit zu teilen.[83] Die Hinwendung zu den Armen entspricht dem Wesen des christlichen Glaubens. Denn mit dem Ereignis der Fleischwerdung des göttlichen Sohnes wurde das Menschsein des Erlösers nicht aufgehoben, sondern ohne jeden Abstrich (vgl. Eph 4,13) gewahrt.[84] Zugleich verheißt das Geheimnis der Inkarnation dem Menschen eine „Neuschöpfung“ (vgl. 2 Kor 5,17), weil es die ihm ursprünglich geschenkte Gottebenbildlichkeit vollständig wiederherstellt.[85] Die Kirche ist wesentlich bestimmt durch das von ihr empfangene Heil. Und sie ist gerufen, das, was sie empfangen hat, so zu vermitteln, dass Menschen zu sich selbst und zu wahrer Menschlichkeit befreit werden. Letztlich ist diese Vermittlungsaufgabe der Kirche eine Gestalt der Anbetung Gottes; denn sie ist Antwort des Menschen auf den von Gott mit ihm gestifteten Bund.

Die Forderung der Kirche nach Religionsfreiheit für alle

75. Religionsfreiheit ist nur da gesichert, wo sie – verankert in der Personwürde und Gewissensfreiheit jedes Einzelnen – ein wahrhaft menschliches Zusammenleben und Zusammenwirken fördert. Eine um ihre kommunitäre Dimension verkürzte Religionsfreiheit kann eine Zivilgesellschaft nicht prägen. Und im Übrigen widerspricht eine individualistisch verkürzte Religionsfreiheit der göttlichen Wahrheit, auf die sie sich beruft; individualistisch verkürzt wird sie anfällig für Kompromisse, die dem Gemeinwohl schaden.[86] Diese Gefahr ist kaum zu überschätzen. Eine mit höchsten Risiken verbundene Versuchung besteht für jede Religion darin, sich auf Kompromisse mit den jeweils Mächtigen einzulassen, um dadurch möglicherweise Vorteile für die eigenen Mitglieder und deren Glaubensleben zu erlangen. Um dieser Versuchung nicht zu erliegen, muss die Kirche die Unterscheidung der Geister üben und sich ständig selbst läutern und hinterfragen; andernfalls verliert sie ihr Eigentlichstes in der Anpassung.[87] Die Kirche muss sich selbstkritisch prüfen, ob sie noch mit der Begeisterung der „erste(n) Liebe“ (Offb 2,4) auf dem Weg der Anbetung Gottes „im Geist(e) und in der Wahrheit“ (Joh 4,23) ist. Nur durch ständige Umkehr bereitet die Kirche dem Evangelium Wege zu den Herzen der Menschen und also in jene Mitte, in der sich – verborgen und oft auch unbewusst – entscheidet, ob jemand den wahren Gott und die wahre Religion zu erkennen vermag. Das Evangelium widerspricht jeder Art von religiöser Manipulation; es wendet sich gegen jede Art von religiös begründeter Ausgrenzung, Verdemütigung und Absonderung.

76. Eine genuin christlich konzipierte Religionsfreiheit ist zutiefst bestimmt von dem Glauben an die Wahrheit des für uns und unser Heil Mensch gewordenen Sohnes. Durch ihn zieht der Vater alle „verlorenen Söhne“ und alle „Schafe, die keinen Hirten haben“, an sich (vgl. Joh 10,11–16; 12,32; Mt 9,36; Mk 6,34). Und der Heilige Geist ist es, der das Seufzen der von den Mächten der Sünde gefesselten Kreatur (vgl. Röm 8,22) – mag es auch noch so wirr und schwach sein – aufgreift und in Gebet verwandelt. Der Geist Gottes weht, wo er will. Und wo immer der Mensch fähig wird, sein Seufzen und Flehen frei zu artikulieren, wird auch das Wirken des Heiligen Geistes zumindest jenen offenbar, die sich ausstrecken nach der Gerechtigkeit. Der Trost des Heiligen Geistes ist Ausweis einer versöhnten Menschheit. Religionsfreiheit macht bewusst, dass alle Menschen eine Herkunfts- und Schicksalsgemeinschaft bilden, und dass diese Gemeinschaft sich selbst aufgibt, wenn sie nicht ausgerichtet bleibt auf jene universale Gerechtigkeit, die – obwohl von allen erstrebt – doch nicht allein aus eigener Kraft verwirklicht werden kann. Der Glaube an die eschatologische Versöhnung aller Wirklichkeit in Christus erwartet für jeden Einzelnen die Früchte des in ihm wirksam gewordenen Geistes und für alle die Einlösung der verheißenen Ankunft des Sohnes (vgl. Eph 1,3–14).

Der interreligiöse Dialog als Friedensweg

77. Religionsfreiheit fördert den interreligiösen Dialog auf der gemeinsamen Suche nach der bestmöglichen Gestaltung des Gemeinwohls. Von daher ist der interreligiöse Dialog eine wesentliche Dimension des Selbstverständnisses der Kirche.[88] Er ist zwar nicht Ziel der Evangelisierung, trägt aber zu deren Gelingen wesentlich bei. Anders gesagt: Interreligiöser Dialog steht keineswegs in Konkurrenz zur Mission der Kirche, und er ist schon gar nicht deren Alternative.[89] Der mit Respekt und Kooperationsbereitschaft verbundene Dialog ist Ausdruck der dem Evangelium entsprechenden Liebe, deren unauslotbarer Ursprung das Leben des trinitarischen Gottes ist.[90] Und Dialogbereitschaft – so hat die Kirche erkannt – trägt entscheidend dazu bei, das Partizipations- und Kommunikationsbedürfnis demokratischer Gesellschaften positiv aufzugreifen.[91] Dialogbereitschaft und Förderung des Friedens sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Und Dialog befähigt auch, sich bei wachsender Komplexität von Meinungen, Informationen und Lebensentwürfen zu orientieren – auch und vor allem in Fragen der Religion.

78. Auf den Foren des interreligiösen Dialogs über die grundlegenden Themen des menschlichen Lebens bringen die Gläubigen unterschiedlicher Religionen die zentralen Werte ihrer geistlichen Tradition zur Sprache. So wird für alle Teilnehmer erkennbar, wie die anderen Religionen die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens beantworten und wie sie ihre Hoffnung auf eine gerechtere und „brüderliche“ Gesellschaft begründen.[92] Die Kirche ist auf jeden Fall bereit, mit all jenen in einen konkreten und konstruktiven Dialog zu treten, die sich für Gerechtigkeit und Brüderlichkeit einsetzen.[93] Wenn sich die Kirche auf den besagten Dialog verpflichtet, entspricht sie dem von ihr verkündeten Evangelium; denn so bringt sie das Evangelium zum Leuchten unter allen Völkern und Religionen.

Der Mut zur Unterscheidung und Ablehnung von Gewalt im Namen Gottes

79. Ohne Unterschiede und Dissonanzen zu ignorieren, trifft das Christentum im interreligiösen Dialog auf Affinitäten und Ähnlichkeiten, die den Universalanspruch des eigenen Glaubens und seiner theologischen Durchdringung nicht schmälern, sondern fördern.[94] Das Recht jedes Einzelnen auf Religionsfreiheit ist – unbeschadet des allgemeinen Schutzes der öffentlichen Ordnung – wesentlich verbunden mit der Zuerkennung desselben Rechtes an alle anderen.[95] Aber damit stellt sich die altbekannte Frage, wie die Toleranz einer Zivilgesellschaft gegenüber der Religion näherhin zu bestimmen ist. Wahre Religionsfreiheit beginnt mit der Wertschätzung der religiös lebenden Menschen und muss diese Wertschätzung so gestalten, dass sie auch denen gerecht wird, die sich zu keiner Religion bekennen. Unvereinbar mit der besagten Wertschätzung der Religionen ist die Verwechslung von Toleranz und Relativismus; denn konsequent gelebter Relativismus mündet in jenen ethischen Indifferentismus, der den Menschen für wahrheitsunfähig erklärt.[96] Es kann aber auch sein, dass eine Religion aufgrund ihrer Verkündigung oder ihres Verhaltens zu einer Bedrohung der Religionsfreiheit wird – eklatanterweise dann, wenn sie im Namen Gottes Gewalt anwendet; dann spätestens ist eine Grenze überschritten; dann ist die eindeutige Verurteilung dieses Verhaltens besonders und zuerst durch die betroffenen Religionen gefordert.[97] Was das Christentum anbelangt, so hat es auch den subtilsten Formen religiös motivierter Gewalt den Kampf angesagt; und es ist Zeit, dieses Thema in allen Religionen zu überdenken.[98]

80. Wenn man sich möglichst vollständig mit der Wahrheit der eigenen Religion identifizieren und zugleich der anderen Religion Respekt erweisen will, kann dies zu Spannungen zwischen diesen beiden Intentionen führen, die das eigene Gewissen und auch die eigene Religionsgemeinschaft belasten. Wir sprechen nicht nur von einer abstrakten Möglichkeit. Denn die besagten Spannungen können sich z. B. in Kritik am aktuellen Erscheinungsbild der eigenen Religion entladen und – selbst dann, wenn die Kritik im Binnenraum der eigenen Religionsgemeinschaft verbleibt –, in der Zivilgesellschaft eine bisher weithin unbehandelte Frage des Themas „Religionsfreiheit“ evozieren. Denn hier geht es nicht einfach nur darum, Religionsfreiheit wie für die eigene so auch für die fremde Religion zu fordern, sondern auch die Freiheit, die eigene Glaubensgemeinschaft zu kritisieren. Diese Forderung bringt Probleme mit sich; denn sie tangiert die Umsetzung einer auf Ausgleich setzenden Religionsfreiheit. Zudem sind die Möglichkeiten begrenzt, mit denen die Religionsgemeinschaften und die Zivilgesellschaft die Religionsfreiheit schützen können. Die Sorge um die Integrität des gemeinsamen Glaubens, der Respekt vor dem möglichen Gewissenskonflikt des einzelnen Gläubigen und das Bemühen um die Wahrung des sozialen Friedens verlangen auf allen Seiten persönliche Reife und dialogisch gelebte Klugheit – Gaben also, die nicht zuletzt als Gnade und Geschenk von oben zu erbitten sind.

81. Wenn der eigene Glaube zum Objekt von Hass, Einschüchterung und Verfolgung wird, ist das Martyrium das denkbar höchste Zeugnis gewaltfreier Treue. Im Extremfall beantworten Christen Gewalt gegen die vom Evangelium verkündete Wahrheit mit jener gewaltlosen Liebe, die – durch Christus in die Welt gekommen – die Welt- und Religionsgeschichte verändert hat. Das Martyrium ist so gesehen Inbegriff einer Freiheit, die Gewalt mit Liebe und Konflikte mit Frieden beantwortet. Die Bereitschaft der Märtyrer des Glaubens, den Tod auf sich zu nehmen, hat schon vielen Männern und Frauen den Weg bereitet zu einem religiös und menschlich selbstbestimmten Leben in Freiheit – frei von Gewalt und frei von Hass. Die Geschichte der christlichen Evangelisierung hat Befreiungsprozesse und soziale Veränderungen von universaler Tragweite initiiert. Diese vom Glauben bestimmten Entwicklungen sind zu Recht aufseiten der Gläubigen Grund von Bewunderung und Nachfolge und Grund des Respektes von Seiten aller Männer und Frauen, denen Freiheit, Würde und Frieden unter den Völkern am Herzen liegen. Die Märtyrer haben jedem Druck von außen standgehalten, weil ihr Glaube den Geist der Rache und Gewalt durch die Kraft der Vergebung, der Liebe und Brüderlichkeit besiegt hat.[99] Sie waren es, die Religionsfreiheit für jede auf Freiheit und Gerechtigkeit gegründete Kultur als unabdingbar erwiesen haben.

82. Auch wenn Gläubige ihrer religiösen Praxis wegen nicht getötet werden, müssen sie doch oft zutiefst verletzende Verhaltensweisen ertragen. Sie dürfen nur sehr bedingt am öffentlichen Leben teilhaben; sie werden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen; ihre religiösen Symbole werden willkürlich verboten; bestimmte wirtschaftliche und soziale Errungenschaften werden ihnen verwehrt und vieles mehr. In Bezug auf die so geprüften Gläubigen spricht man von einem „weißen Martyrium“[100]. Bis heute wird dieses Martyrium in vielen Teilen der Welt den Gläubigen abverlangt. Wer dieses Geschehen als bloßen Kollateralschaden von ethnisch oder machtpolitisch begründeten Konflikten bezeichnet, verkennt die Abgründigkeit des „weißen Martyriums“. Die Strahlkraft dieses Martyriums muss angemessen verstanden und gewürdigt werden. Die betroffenen Gläubigen lehren uns auf klarste und wirksamste Weise, dass Religionsfreiheit unabdingbar ist. Die Geschichte der christlichen Märtyrer beweist exemplarisch, was geschieht, wenn unschuldigen Menschen das Recht auf Religionsfreiheit bestritten und genommen wird. Das Martyrium bezeugt einen Glauben, der sich selbst treu bleibt und sich bis zum Letzten weigert, zu rächen und zu töten. Der christliche Märtyrer hat also nichts gemein mit dem im Namen Gottes mordenden Selbstmörder. Wer beide Gestalten identifiziert, beweist damit nur die Perversion seines Denkens und seines Charakters.

Schluss

83. Das Christentum identifiziert die Heilsgeschichte nicht mit der Kirchengeschichte. Gemäß der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils und der vom hl. Papst Paul VI. promulgierten Enzyklika Ecclesiam suam bezeugt die gesamte Menschheitsgeschichte das Wirken der göttlichen Liebe, die „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Die dem christlichen Glauben entsprechende Mission der Kirche gehorcht der „Logik der Gabe“, d. h. einer Logik von Gnade und Freiheit, nicht von Vertrag und Befehl. Die Kirche ist sich bewusst, dass sie dieser Logik entgegen gehandelt hat, wenn ihr Verhalten – trotz bester Absicht – dem Wesen des eigenen Glaubens widersprach. Und sie ist sich bewusst, dass die Gefahr zu solchem Verhalten weiterbesteht. Es ist eine demütig gewordene Gewissheit, die Christen bekennen, wenn sie überzeugt sind, dass der Herr seine Kirche nie verlässt und durch den Heiligen Geist so begleitet, dass ihr Weg durch die Geschichte nie abweicht von der wahren Bezeugung des göttlichen Heilshandelns im Leben aller Menschen und Völker. Die Kirche bemüht sich immer wieder neu, ihrem geschichtlichen Auftrag gerecht zu werden und das Evangelium von der „wahren Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit“ zu verkünden. Weil sich im Glauben Gnade und Freiheit begegnen, erfährt die Kirche die Freude, vom Herrn begleitet und bestärkt und vom Heiligen Geist angetrieben zu werden. Immer wieder neu bekundet sie ihren Willen, sich zu den Haltungen zu bekehren, die die Reinheit ihres Glaubens bewahren: zur Treue des Herzens, des Denkens und des Handelns.

84. Das Zeugnis des christlichen Glaubens ist gebunden an Zeit und Raum. Es entspricht damit auf individueller wie kommunitärer Ebene der conditio humana. Aber Christen wissen, dass Zeit und Raum keine beliebig füllbaren Gefäße sind – z. B. in Bezug auf den Sinn, die Werte, die Überzeugungen und Wünsche, die jede der Wahrheit des Menschen entsprechende Kultur bestimmen. Raum und Zeit sind untrennbar von der Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und Traditionen, menschlicher Zusammenschlüsse und Zugehörigkeiten, ihrer Institutionen und ihres Rechts. Wo man sich der verschiedenen Möglichkeiten bewusst ist, Sinn und Ziel des Individuums und der Gemeinschaft zu erkennen, erkennt man auch Wege zu einem ethischen Konsens, der von verschiedenen Religionen gemeinsam getragen wird. Dementsprechend hat sich die Kirche unbedingt darauf verpflichtet, die individuelle Freiheit zu wahren und dem Gemeinwohl zu dienen. Diese Selbstverpflichtung schwächt in keiner Weise die Treue der Kirche zu dem Heilsgeschehen, das Inhalt ihrer Glaubensverkündung ist. Im Gegenteil, sie bewahrt die christliche Mission vor jedem Verdacht machtpolitischer Interessen. Weil die Theologie des kirchlichen Lehramtes inzwischen jede Vermischung von Mission und Macht eindeutig abgewiesen hat, ist es der Kirche heute möglich, überall eine entsprechende Politik anzumahnen.

85. Als demütige Glieder des Volkes Gottes fassen wir den Vorsatz, dem Auftrag des Herrn treu zu bleiben, der seine Jünger zu allen Völkern der Erde sendet, um das Evangelium der Barmherzigkeit Gottes (vgl. Mt 28,19–20; Mk 16,15), des Vaters aller Menschen, zu verkünden und die Herzen zu öffnen für eine freie Entscheidung zu dem Glauben an seinen Sohn, der für unser aller Heil Mensch geworden ist. Die Kirche verwechselt ihre Sendung nicht mit der Beherrschung der Völker, nicht mit dem Regieren der civitas terrena. Im Gegenteil: Wo immer die politische Macht und der kirchliche Sendungsauftrag zur Verkündigung des Evangeliums wechselseitig Ansprüche erheben oder die jeweils andere Seite für die eigene Aufgabe instrumentalisieren, spricht die Kirche von einer Versuchung zum Bösen. Jesus selbst hat die Versuchung, sich einen Vorteil auf Kosten des Anderen zu verschaffen, als teuflische List durchschaut und abgewiesen (vgl. Mt 4,8–10). Jesus hat sich gegen jene gewandt, die seine Kritik an religiösen und politischen Autoritäten in einen Dauerkonflikt verwandeln wollten – mit dem Ziel, die weltliche Macht der gesellschaftlichen Institutionen zu usurpieren. Jesus hat seine Jünger mit klaren Worten vor der Versuchung gewarnt, sich als Seelsorger der christlichen Gemeinschaft den Maßstäben und der Lebensweise irdischer Machthaber anzugleichen (vgl. Mt 20,25; Mk 10,42; Lk 22,25). Christen wissen durchaus, wie und nach welchen Kriterien die Evangelisierung der Welt zu gestalten ist. Mit seinem eindeutigen Plädoyer für die Religionsfreiheit hat das Christentum klargestellt, wie es seine Verkündigung und Mission verstanden wissen will. Es lehnt jede ungerechte Privilegierung einer Konfession ab und verteidigt bedingungslos die Rechte des Einzelgewissens. Diese Klarstellung steht in vollem Einklang mit der gleichzeitigen Forderung nach ebenso unbedingter Anerkennung des Rechtes auf freie Verkündigung des Glaubens und ungehinderte Religionsausübung im öffentlichen Raum. Es entspricht der Logik des Glaubens und der Sendung der Kirche, dass ihre Mitglieder aktiv und besonnen teilnehmen an der friedlichen Gestaltung des Gemeinwesens. Denn großmütiger Einsatz für das von allen erstrebte Gemeinwohl ist wesentliches Kennzeichen eines Christentums, das seinen Glauben nach außen bezeugt.

86. Wenn Gläubige sich kulturell und sozial engagieren und sich an der Bildung leistungsorientierter Initiativen und Verbände beteiligen, folgen sie einem Auftrag, der sich ganz unabhängig von kulturellen oder religiösen Zugehörigkeiten an jede Frau und jeden Mann richtet. Das Wort „unabhängig“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass Unterschiede ignoriert oder als unbedeutend bezeichnet werden sollen. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass die besagten Initiativen unabhängig von der Weltanschauung derer, die sie einbringen, zu achten sind. Sie verdienen unsere Wertschätzung gemäß dem, was sie beitragen zu einer reichen und lebendigen Entfaltung des Gemeinwesens. Die Kirche hat keinen Grund, sich aus Treue zu ihrem Auftrag anders zu verhalten. Der Apostel Petrus empfiehlt, alles solle „bescheiden und ehrfürchtig (geschehen), denn ihr habt ein reines Gewissen, damit jene, die euren rechtschaffenen Lebenswandel in Christus in schlechten Ruf bringen, wegen ihrer Verleumdungen beschämt werden“ (1 Petr 3,16). – Es gibt keinen Grund, der einen Staat dazu berechtigen könnte, die in ihm lebenden Religionen daran zu hindern, sich an der Reflexion über Sinn und Gestaltung des Gemeinwohls und an dessen Förderung zu beteiligen. Der Staat darf weder theokratisch noch atheistisch oder „ethisch neutral“ (in Gestalt einer Gleichgültigkeit, die so tut, als seien religiöse Kultur und religiöse Zugehörigkeit für die Konstituierung eines demokratischen Gemeinwesens irrelevant) sein. Er ist vielmehr angehalten, eine „positive Laizität“ gegenüber allen gesellschaftlichen und kulturellen Gruppierungen auszuüben; denn nur so kann ein Rechtsstaat die Rechte der in ihm lebenden Bürger effektiv wahren.

87. Indem das Christentum die Religionsfreiheit verteidigt, lebt und bewahrt es seine eschatologische Hoffnung auf eine gemeinsame Vollendung aller Menschen in der jenseitigen Welt, die Gott verheißen hat (vgl. Offb 21,1–8). Der christliche Glaube weiß, dass die erhoffte und verheißene Verklärung ein Geschenk der Liebe Gottes an sein Geschöpf ist. Mit anderen Worten: Das Ziel aller Ziele ist nicht das Ergebnis des menschlichen Strebens nach erhöhter Qualität seines persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Religion macht bewusst, dass das Leben die von ihm ersehnte Gerechtigkeit und die Geschichte ihre Vollendung nur finden, wenn es eine alles Irdische transzendierende Erlösung gibt. Für das Christentum ist wesentlich, dass es den Allmachtswahn jeder Art von weltlichem Messianismus – ob laizistisch oder religiös – ausschließt. Die Verabsolutierung irdischer Macht führt zur Versklavung ganzer Völker und letztlich zur Zerstörung des gemeinsamen Hauses der Menschheit. Die dem Bund von Mann und Frau von Beginn an anvertraute Sorge um die Schöpfung (vgl. Gen 1,27–28) und die vom Evangelium Christi besiegelte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe (vgl. Mt 22,39) sind Inbegriff der Verantwortung, der sich alle – allen voran die Christen – am Ende der ihnen von Gott geschenkten Zeit stellen müssen. Das alle richtende Kriterium liegt in der Umkehr zur Liebe. Das Reich Gottes ist in der Geschichte längst wirksam; in der Erwartung der Ankunft des Herrn, der uns in seine Vollendung führen wird. Der Geist, der sagt: „Komm!“ (Offb 22,17), der das Seufzen der Schöpfung aufgreift (vgl. Röm 8,22) und „alles neu macht“ (vgl. Offb 21,5), ermöglicht der Welt den Mut des Glaubens (vgl. Röm 8,1–27) und damit allen die Erfahrung der Schönheit des Logos, der „die Hoffnung, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,15) begründet. Er ist es, der allen die Freiheit schenkt, ihm zu gehorchen und ihm zu folgen.

 

 


[1] Das Konzil wollte die Religionsfreiheit neu bewerten unter Einbeziehung von deren Interpretation nicht nur durch verschiedene Religionsgemeinschaften, sondern auch durch Regierungen, Institutionen, Presse und Rechts- bzw. Staatswissenschaften. Vgl. die Erklärung von A. J. De Smedt, Relatio (23. September 1964), AS III/2 349, der gemäß ein relevanter Bezugspunkt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und andere Äußerungen aus der Philosophie und der Rechts- und Staatswissenschaft gewesen sind. Die Internationale Theologische Kommission hat einen Vorschlag der „Hierarchisierung“ der verschiedenen Menschenrechte unterbreitet und dabei auf andere international entstandene Dokumente verwiesen: Würde und Rechte der menschlichen Person (1983), Einleitung, 2.

[2] Vgl. u. a. die Studien von J. Hamer/ Y. Congar, La liberté religieuse. Déclaration „Dignitatis humanae personae“, Paris 1967; R. Minnerath, Le droit de l’Église à la liberté. Du Syllabus à Vatican II, Paris 1982, 123–159; D. Gonnet, La liberté religieuse à Vatican II. La contribution de John Courtney Murray, Paris 1994; S. Scatena, La fatica della libertà. L’elaborazione della dichiarazione „Dignitatis Humanae“ sulla libertà religiosa del Vaticano II, Bologna 2003; R. A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis humanae“, in: P. Hünermann/ B. J. Hilberath (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. IV, Freiburg 2005, 125–218; G. del Pozo, La Iglesia y la libertad religiosa, Madrid 2007, 179–244; R. Latala/ J. Rime (Hg.), Liberté religieuse et Église catholique. Héritage et développements récents, Fribourg 2009, 9–30; J. L. Martínez, Libertad religiosa y dignidad humana. Claves católicas de una gran connexion, Madrid 2009, 65–130; D. L. Schindler/ N. J. Healey jr., Freedom, Truth, and Human Dignity. The Second Vatican Council’s Declaration on Religious Freedom. A New Translation, Redaction History, and Interpretation of Dignitatis Humanae, Grand Rapids (Michigan)/ Cambridge, U. K. 2015; P. Coda/ P. Gamberini, Dignitatis humanae. Introduzione e commento, in: S. Noceti/ R. Repole (Hg.), Ad gentes. Nostra aetate. Dignitatis humanae, Commentario ai Documenti del Vaticano II, 6, Bologna 2018, 611–695.

[3] Vgl. Gregor XVI., Enz. Mirari vos arbitramur (15. August 1832); Pius IX., Enz. Quanta cura (8. Dezember 1864).

[4] Vgl. Pius XII., Radioweihnachtsbotschaft Benignitas et Humanitas an die Völker der ganzen Welt (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945) 10–23.

[5] Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris (11. April 1963), 18: AAS 55 (1963) 261.

[6] Ebd., 9, 14, 45–46, 64, 75: AAS 55 (1963), 260–261, 268–269, 275, 279. Diese Perspektiven werden ab dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu Konstanten: Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes (7. Dezember 1965), 17; Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor (6. August 1993), 35–41: AAS 85 (1993) 1161–1166; Katechismus der Katholischen Kirche, 1731–1738; Benedikt XVI., Enz. Evangelii gaudium (29. Juni 2009), 9, 17: AAS 101 (2009) 646–647, 652–653.

[7] Siehe dazu weiter unten Nrn. 41, 42, 76.

[8] Vgl. auch Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate (28. Oktober 1965), 1, 5.

[9] Mit seinen Hinweisen auf den Atheismus verankert das Konzil seine Beschreibung der conditio religiosa in der Existenz und allgemeinmenschlichen Erfahrung (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 19–21). Diese Überlegung zieht sich durch alle nachkonziliaren Texte der Kirche. Vgl. die Zusammenfassungen des Katechismus der Katholischen Kirche, 27–30, oder auch des Kompendiums der Soziallehre der Kirche (2004), 14–15. Vgl. auch die Dokumente der Internationalen Theologischen Kommission, Das Christentum und die Religionen (1996), 107–108, und Der dreifaltige Gott, Einheit der Menschen. Der christliche Monotheismus gegen die Gewalt (2014), 1–2.

[10] Siehe Nr. 44 weiter unten. Eine entsprechende Zusammenfassung der kirchlichen Lehre findet sich in: Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 421–423.

[11] Vgl. dazu Paul VI., Enz. Ecclesiam suam (6. August 1964), 30, 72, 81, 90 et passim: AAS 56 (1964) 618–619, 641–642, 644, 646–647; Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte diplomatische Corps (14. Januar 1978): AAS 70 (1978) 168–174.

[12] Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 39: AAS 83 (1991) 286–287.

[13] Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des 21. Weltfriedenstages: „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben“ (1. Januar 1988): AAS 80 (1988) 278–286.

[14] Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis (4. März 1979), 12b–c; 17f–i: AAS 71 (1979) 279–281, 297–300; Treffen mit Vertretern nichtchristlicher Religionen in Madras (5. Februar 1986), 5: AAS 78 (1986) 766–771; Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 39: AAS 81 (1989) 466–468; Botschaft zur Feier des 21. Weltfriedenstages: „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben“ (1. Januar 1988): AAS 80 (1988) 278–286; Botschaft zur Feier des 22. Weltfriedenstages: „Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten“ (1. Januar 1989): AAS 81 (1989) 95–103; Botschaft zur Feier des 24. Weltfriedenstages: „Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen“ (1. Januar 1991): AAS 83 (1991) 410–421.

[15] Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zur Feier des 44. Weltfriedenstages: „Religionsfreiheit, ein Weg für den Frieden“ (1. Januar 2011): AAS 103 (2011) 46–58. Siehe auch: Enz. Caritas in veritate (29. Juni 2009), 29: AAS 101 (2009) 663–664; Ansprache an die Botschafter des am Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Corps (12. Mai 2005): AAS 97 (2005) 789–791, Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang (22. Dezember 2006): AAS 99 (2007) 26–36; Ansprache an Vertreter der Wissenschaften in Regensburg: Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen (12. September 2006): AAS 98 (2006) 728–739; Ansprache an Mitglieder des am Heiligen Stuhl akkreditierten diplomatischen Corps (10. Januar 2011): AAS 103 (2011) 100–107; Ansprache an Vertreter der Gesellschaft Großbritanniens, Westminster (17. September 2010): AAS 102 (2010) 633–635; Ansprache an Kleriker und Laienvertreter anderer Religionen in London (17. September 2010): AAS 102 (2010) 635–639; Predigt (Havanna, Kuba, 28. Mai 2012): AAS 104 (2012) 322–326.

[16] Benedikt XVI., Botschaft zur Feier des 44. Weltfriedenstages: „Religionsfreiheit, ein Weg für den Frieden“ (1. Januar 2011), 4: AAS 103 (2011) 49–50. Zur Bedeutung des Begriffs „positive Laizität“ siehe Fußnote 72 weiter unten. Bei anderen Gelegenheiten schlägt Papst Benedikt XVI. den Begriff „gesunde Laizität“ vor und bezeichnet damit eine Bedingung für jede fruchtbare Beziehung zwischen der ethisch-religiösen und der politischen Dimension des Zusammenlebens: „[...] wo die religiöse Dimension in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen nicht nur toleriert, sondern als ‚Seele‘ der Nation und grundlegende Garantie der Rechte und Pflichten des Menschen“ zur Geltung gebracht wird: Generalaudienz (30. April 2008). Papst Pius XII. hatte bereits von „der rechtmäßigen gesunden Laizität des Staates“ gesprochen (Ansprache an die in Rom ansässigen Bürger aus den Marken [23. März 1958]: AAS 50 [1958] 220).

[17] Vgl. Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 257: AAS 105 (2013) 1123; Ansprache während der Begegnung mit Vertretern der Regierung und des öffentlichen Lebens in Ankara (28. November 2014): AAS 106 (2014) 1017–1019; Ansprache während der Begegnung mit den Oberhäuptern anderer Religionen und christlicher Konfessionen an der Katholischen Universität Nostra Signora del Buon Consiglio in Tirana (21. September 2014): Enchiridion Vaticanum, Bd. 30 (2014), Bologna 2016, 1023–1027; Ansprache während der Begegnung für Religionsfreiheit mit der hispanischen Gemeinde und anderen Immigranten in Philadelphia (26. September 2015): AAS 107 (2015) 1047–1052.

[18] Benedikt XVI., Ansprache an das Kardinalkollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang (22. Dezember 2005): AAS 98 (2006) 46; vgl. Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 129: AAS 105 (2013) 1030–1033.

[19] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 53c; Paul VI., Nachsynodales Ap. Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 18–20: AAS 68 (1976) 17–19; Johannes Paul II., Enz. Slavorum Apostoli (2. Juni 1985), 21: AAS 77 (1985) 802–803; Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 116–117: AAS 105 (2013) 1068–1069; Internationale Theologische Kommission, Glaube und Inkulturation (1988), 1.11. Zur Unterscheidung zwischen „Inkulturation“ und „Interkulturalität“ siehe J. Ratzinger, Christ, Faith and The Challenge of Cultures. Meeting with the Doctrinal Commissions in Asia (Hongkong, 2.–5. März 1993) (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/index_it.htm, abgerufen am 9. Januar 2019).

[20] Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 41. Diese führt den konstitutiven Gemeinschaftssinn auf seine letztendliche Wurzel im Dreifaltigkeitsgeheimnis zurück: „In christlicher Perspektive ist diese personale Identität, die zugleich eine Ausrichtung auf den anderen darstellt, wesentlich auf der Trinität der göttlichen Personen begründet.“ Vgl. auch Nrn. 42–43. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 149: „Die Person ist ihrem Wesen nach sozial, weil Gott sie so gewollt und geschaffen hat“.

[21] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), Art. 18: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen“.

[22] Siehe dazu Internationale Theologische Kommission, Würde und Rechte der menschlichen Person (1983), A; Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 144–148.

[23] A. M. S. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, in C. Moreschini (Hg.), De consolatione philosophiae. Opuscula theologica (Bibliotheca scriptorum graecorum et romanorum teubneriana), Saur, Monachii – Lipsiae 2000, 206–241, 214. Vgl. auch Bonaventura, Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, I, d. 25, a. 1, q. 2, in: Opera omnia, vol. I, Typographia Collegii S. Bonaventurae, Ad Claras Aquas (1882), 439–441; Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Ia, q. 29, a. 1, in: Opera omnia iussu Leonis XIII P.M. edita, vol. 1, es Typographia Polyglotta, Romae 1888, 327–329.

[24] Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, II, Abs. 68, in: Opera omnia iussu Leonis XIII P.M. edita, vol. 13, Typis Riccardi Garroni, Romae 1918, 440–441. Vgl. Konzil von Wien (DS 902); Fünftes Laterankonzil (DS 1440); Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 14; Katechismus der Katholischen Kirche, 362–368.

[25] Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 31.

[26] Die Heilige Schrift bezeugt durchgängig: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?“ (1 Kor 6,19). Deshalb werden in Christus, wie der Katechismus lehrt, „alle […] mit ihren eigenen Leibern auferstehen, die sie jetzt tragen“ (DS 801), aber dieser Leib wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes verwandelt (vgl. Phil 3,21), in einen „überirdischen Leib“ (1 Kor 15,44): Katechismus der Katholischen Kirche, 999. Siehe auch Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 26–31.

[27] Benedikt XVI., Ansprache beim Besuch des Deutschen Bundestags in Berlin (22. September 2011): AAS 103 (2011) 663–669.

[28] Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz (2009), 67.

[29] Ebd.

[30] Ebd. Siehe auch Internationale Theologische Kommission, Würde und Rechte der menschlichen Person (1983), A.II.1. Zur schöpferischen Beziehung zwischen Theologie und Philosophie vgl. die Synthese von Johannes Paul II., Enz. Fides et ratio (14. September 1998), 73–79.

[31] Zu den theologischen Implikationen des Menschseins als „imago Dei“ vgl. auch Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), Kapitel II.

[32] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Würde und Rechte der menschlichen Person (1983), A.II.1; auch Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 40–43.

[33] Katechismus der Katholischen Kirche, 1778.

[34] Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Ia–IIae, q. 19 a. 5, in: Opera omnia iussu Leonis XIII P.M. edita, vol. 6, Romae 1891, 145–146.

[35] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 16.

[36] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum (18. November 1965), 5.

[37] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und ihre Verfehlungen in ihrer Vergangenheit (2000), 5.3.

[38] Die römische Literatur verweist uns auf Vergil, der erzählt, wie die Göttin Juno aus Rache an Aeneas die Furie Alecto schickt, um Hass und Zwietracht in den Herzen der Bewohner Latiums zu säen. Dies führt dazu, dass ein grausamer Krieg voller Eifersucht und Groll ausbricht und der junge Held seinen Vorsatz nicht umsetzen kann. Vgl. Vergilli, Aeneis, VII, 341–405, in: O. Ribbeck (Hg.), P. Vergilii Maronis Opera, Lipsiae, Teubner 1895, 554–557.

[39] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 25a: „Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muss auch sein die menschliche Person, die ja von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf“.

[40] Vgl. I. Kant, Critica della ragion pratica [Kritik der praktischen Vernunft], Teil I, Buch I, Kapitel III, A 156, Bari 1997, 191. Die Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik, 84: „Die Person steht im Mittelpunkt der politischen und sozialen Ordnung, weil sie ein Ziel in sich ist und kein Mittel“.

[41] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 41; Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 110, 149.

[42] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz (2009), 38.

[43] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 41–45; Glaube und Inkulturation (1988), 1.6.

[44] Vgl. J. Ratzinger/ Benedikt XVI., Die Multiplikation der Rechte und die Zerstörung der Rechtsvorstellung, in: Liberare la libertà. Fede e politica nel terzo millennio, Siena 2018, 9–15.

[45] Anlässlich des 60. Jahrestages der Erklärung der Menschenrechte hat der Heilige Stuhl darauf hingewiesen, dass die Akzeptanz ideologisch eingefärbter Positionen, die mit der Wahrung der Menschenrechte kaum oder gar nicht kompatibel sind, zunimmt. Oft wird nicht wirklich geprüft, ob eine Position mit der universalen Menschenwürde vereinbar und also geeignet ist, dem Gemeinwohl zu dienen. Vgl. S. Tommasi, Ansprache vor der 6. Ordentlichen Versammlung des Rates für Menschenrechte, Genf (10. Dezember 2007).

[46] Internationale Theologische Kommission, Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 36.

[47] Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), 12–16: AAS 80 (1988) 1681–1692.

[48] Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 22–24: AAS 74 (1982) 106–110; Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), 1: AAS 88 (1988) 1653–1655.

[49] Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Ap. Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 4–10, 36–41: AAS 74 (1982) 84–91, 126–133. Siehe auch die von Papst Franziskus aufgezeigten jüngsten Herausforderungen, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia (19. März 2016), 50–57: AAS 108 (2016) 331–335. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz (2009), 35, 92.

[50] Dies ist einer der Beiträge, die nun aus der Lehre von P. Ricoeur übernommen wurden. Siehe z. B. Temps et récit 1. L’intrigue et le récit historique (Paris 1983).

[51] Siehe Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei verbum, 7–8; Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 3–4 et passim. Vgl. auch Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Themen der Ekklesiologie zum 20. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils (1984), 1.1–5.

[52] Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 151.

[53] In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist der Dialog: J. Habermas/ J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Glaube, Freiburg i. Br. 2005.

[54] Vgl. Franziskus, Enz. Laudato si’ (24. Mai 2015), 137–162: AAS 107 (2015) 902–912.

[55] Der Begriff „Zwischenkörper“ stammt ursprünglich aus der Soziallehre der Kirche. Bereits Papst Leo XIII. verwandte ihn in der Enzyklika Rerum Novarum (15. März 1891) in Nrn. 10–11 (über die Familie) und Nrn. 38 und 41 (für andere Verbände: societates/sodalitates): AAS 23 (1891) 646, 665–666; Papst Johannes XXIII. erklärt in der Enz. Mater et Magistra über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre (15. Mai 1961), 52: AAS 53 (1961) 414: „Außerdem halten Wir es für notwendig, dass die leistungsgemeinschaftlichen Gebilde sowie die vielfachen Unternehmungen, in denen der Vergesellschaftungsprozess sich vorzugsweise abspielt, sich wirklich kraft eigenen Rechtes entwickeln können und dass die Verfolgung ihrer Interessen in Einklang mit dem Gemeinwohl bleibt. Aber nicht weniger notwendig ist, dass diese Sozialgebilde die Gestalt und den Charakter echter Gemeinschaftlichkeit haben, das heißt, dass sie ihre Glieder wirklich als menschliche Personen betrachten und zur aktiven Mitarbeit anhalten.“ Johannes Paul II. nimmt diesen Gedanken in der Enzyklika Centesimus annus zum hundertsten Jahrestag von Rerum novarum (1. Mai 1991), 13: AAS 83 (1991) 809–810. auf. Der entscheidende Faktor sind nicht die einzelnen Gruppen als solche, sondern die Gruppen, die als Zwischeninstanzen fungieren. Jede Zwischeninstanz soll sich ihrer Vermittlungsfunktion innerhalb der gesamten Gesellschaft und für den Dienst am Gemeinwohl bewusst sein.

[56] Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 185–186, 394; vgl. auch Katechismus der Katholischen Kirche, 1880–1885 über das Subsidiaritätsprinzip.

[57]Siehe dazu Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica (4. Dezember 1963); Johannes Paul II., Ap. Schreiben „Die schnelle Entwicklung“ (24. Januar 2005): AAS 97 (2005) 188–190; Enz. Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 37: AAS 83 (1991) 282–286; Botschaft zum 36. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel: „Internet: Ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums“ (24. Januar 2002): Enchiridion Vaticanum 21 (2002) 29–36; Franziskus, Botschaft zum 50. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel: „Kommunikation und Barmherzigkeit – eine fruchtbare Begegnung“ (24. Januar 2016): AAS 108 (2016) 157–160; Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Kirche und Internet (22. Februar 2002), 4.

[58]Vgl. S. C. Mimouni, Le judaïsme ancien du VI siècle avant notre ère au IIIe siècle de notre ère: des prêtres aux rabbins, Paris 2012, 7 ff., 381 ff., 397 ff.

[59] Siehe Kommentar des Kompendiums der Soziallehre der Kirche (2004), 379.

[60] Vgl. C. Plini Secundi, Epist., X, 96, in: R. A. B. Mynors (Hg.), C. Plini Secundi epistularum libri decem, Oxford 1963, 338–340.

[61] Verfolgung aufgrund des Glaubens und das Märtyrerbekenntnis durchziehen die Apokalypse im Lichte des ersten treuen Zeugens, der Christus ist; vgl. Offb 1;5; 7,9–17; 13–14 usw.

[62] Vgl. Augustinus, Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Kempten/ München 1911–16, Buch XIX, 17 (CCSL 48, 683–685).

[63] Augustinus selbst stimmt später der Notwendigkeit einer „religiösen Kontrolle“ durch den Staat zu. Der Meinungsumschwung wird als zwangsläufige Konsequenz der Tatsache dargestellt, dass Ketzer und Schismatiker als erste an die „weltliche Macht“ appellieren, um die Rechtmäßigkeit ihrer religiösen Abweichung vom rechten christlichen Glauben anerkannt zu bekommen. Vgl. Augustinus, Brief XCIII, 12–13, 17 (CCSL 31A, 175–176, 179–180); auch Brief CLXXIII, 10 (PL 33, 757); Sermo XLVI, 14 (CCSL 41, 541).

[64] In sehr unterschiedlichen historischen Kontexten, Gelasius, Epistula „Famuli vestrae pietatis“ ad Anastasium I imperatorem (494, DS 347); Leo XIII., Enz. Immortale Dei (1. November 1885), 6: ASS 18 (1885) 166, wegen der angemessenen Unterscheidung, aber nicht wegen der radikalen Trennung zwischen politischer und religiöser Ordnung.

[65] „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen. Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine ewige Berufung“: Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 76. Siehe auch Erläuterungen der Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 6.

[66] Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004), 167.

[67] Vgl. ebd., 396.

[68] Ein umfassender historisch-soziologischer Überblick über die Entwicklung des sogenannten „exklusiven Humanismus“ als dem einzigen öffentlichen Bezugsraum findet sich bei C. Taylor, A Secular Age, Cambridge/ Massachusetts/ London 2007.

[69] Dieses Phänomen zeigt sich oft auch auf Kontinenten wie Asien, wenn auch in einem anderen Kontext: „Die Grenze für religiöse Freiheit wird in vielen Verfassungen durch die Formulierung ,vorausgesetzt, sie steht nicht im Widerspruch zu den bürgerlichen Pflichten, zur öffentlichen Ordnung oder der rechten Moral‘ ausgedrückt. Gemeinwohl und öffentliche Ordnung werden auf jeden Fall von der herrschenden Schicht definiert und in manchen Fällen wurde der Ausdruck ‚unterliegt dem Gesetz, der öffentlichen Ordnung oder der Moral‘ verwendet, um bestimmten Gruppen eine religiöse De-Facto-Freiheit zu verweigern“: FABC [Federation of Asian Bishops‘ Conferences] Office of Theological Concerns, FABC Papers, 112, Religious Freedom in the Context of Asia, 7. Gerade in Situationen, die Minderheiten betreffen, ist es entscheidend, dass die staatlichen Behörden die „gleiche Achtung vor den Religionen“ sicherstellen, da sie in der Lage sind, den universellen Sinn und das Gemeinwohl zu bewahren (vgl. Nr. 70 weiter unten).

[70] Franziskus, Ansprache bei der Begegnung mit den Führern anderer Religionen und anderer christlicher Konfessionen an der Katholischen Universität „Nostra Signora del Buon Consiglio“ in Tirana (21. September 2014): Enchiridion Vaticanum 30 (2014) 1514–1524, 1515.

[71] In Bezug auf diese Haltung erinnert die Kongregation für die Glaubenslehre: „Es ist jedoch keinem Gläubigen gestattet, sich auf das Prinzip des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik zu berufen, um Lösungen zu begünstigen, die den Schutz der grundlegenden ethischen Forderungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft kompromittieren oder schwächen“ (Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben [24. November 2002], 5).

[72] „Sie, Herr Präsident, haben im Übrigen den Ausdruck der ‚positiven Laizität‘ benutzt, um dieses offenere Verständnis zu bezeichnen. Ich bin überzeugt, dass in dieser geschichtlichen Zeit, in der die Kulturen sich immer mehr verflechten, ein neues Nachdenken über den wahren Sinn und die Bedeutung der Laizität notwendig geworden ist. In der Tat ist es grundlegend, einerseits auf die Unterscheidung zwischen politischem und religiösem Bereich zu bestehen, um sowohl die Religionsfreiheit der Bürger als auch die Verantwortung des Staates, die er ihnen gegenüber hat, zu gewährleisten, und sich andererseits deutlicher der unersetzlichen Funktion der Religion für die Gewissensbildung bewusst zu werden und des Beitrags, den die Religion gemeinsam mit anderen zur Bildung eines ethischen Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft erbringen kann“: Benedikt XVI., Ansprache, Begrüßungszeremonie im Elysée, Paris (12. September 2008): Insegnamenti di Benedetto XVI 4/2 (2008), Città del Vaticano 2009, 265–269.

[73] Johannes Paul II. verwendet die Kategorie des Gutes des „Zusammenseins“ in Bezug auf die Familie im Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), 15g: AAS 86 (1994) 897. Papst Franziskus spricht vom „Zusammensein in der Nachbarschaft“, um „gegenseitige Anerkennung zu fördern“; vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia (19. März 2016), 276: AAS 108 (2016) 421–422.

[74] Franziskus sprach in der Predigt der Heiligen Messe an der militärischen Gedenkstätte in Redipuglia am 13. September 2014 von einem „dritten (Welt)krieg“, der „in Abschnitten“ ausgetragen wird, „mit Verbrechen, Massakern, Zerstörung“. Vgl. AAS 106 (2014) 744.

[75] Den Statistiken des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zufolge sind weltweit ca. 65,6 Mio. Menschen gezwungen zu fliehen. Dies sind mehr als je zuvor. 22,5 Mio. von ihnen sind Flüchtlinge (s. offizielle Website http://www.unhcr.org/data.html [abgerufen am 9. Januar 2019]).

[76] Vgl. Franziskus, Ansprache bei der Begegnung für die Religionsfreiheit mit der hispanischen Gemeinde und anderen Immigranten, Philadelphia (26. September 2015): AAS 107 (2015) 1047–1052. Zur derzeitigen Lage siehe: C. Grütters/ D. Dzananovic (Hg.), Migration and Religious Freedom. Essays on the Interaction between Religious Duty and Migration Law, Nijmegen 2018, 69–194.

[77] Papst Pius XII. hatte bereits in sehr dunklen Zeiten auf den Schutz jenes elementaren Gutes verwiesen, das „das unveräußerliche Recht des Menschen auf Rechtssicherheit und damit auf einen konkreten, vor jedem willkürlichen Angriff geschützten Rechtsbereich“ ist: Weihnachtsbotschaft (24. Dezember 1942), 4: AAS 35 (1943) 21–22.

[78] Vgl. Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, Ansprache bei einem Treffen mit Vertretern aus dem Bereich der Wissenschaften, Universität Regensburg (12. September 2006): AAS 98 (2006) 728–739.

[79] Vgl. dazu einige Verweise des päpstlichen Lehramtes auf die Gegenseitigkeit in den internationalen Beziehungen und insbesondere in religiösen Fragen: Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris (11. April 1963), 15: AAS 55 (1963) 261; Paul VI., Enz. Ecclesiam suam (6. August 1964), 112: AAS 56 (1964) 657; Johannes Paul II., Treffen mit muslimischen Jugendlichen, Casablanca (19. August 1985): AAS 78 (1986) 99: „Achtung und Dialog erfordern daher Gegenseitigkeit in allen Bereichen, insbesondere in Bezug auf die Grundfreiheiten und insbesondere die Religionsfreiheit. Sie fördern den Frieden und die Verständigung zwischen den Völkern. Sie helfen, die Probleme der Männer und Frauen von heute, insbesondere der Jugendlichen, gemeinsam zu lösen“; Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa (28. Juni 2003), 57: AAS 95 (2003) 684–685; Benedikt XVI., Treffen mit dem bei der Türkischen Republik akkreditierten Diplomatischen Korps, Ankara (28. November 2006): AAS 98 (2006) 905–909; Begegnung mit den Vertretern anderer Religionen, Washington D. C. (17. April 2008): AAS 100 (2008) 327–330. Auch das Nachsynodale Apostolische Schreiben Verbum Domini (30. September 2010), 120 fordert zur Gegenseitigkeit im Bereich der Religionsfreiheit auf: AAS 102 (2010) 783–784.

[80] Berichte über die Situation der Religionsfreiheit in der Welt werden regelmäßig von maßgeblichen Einrichtungen wie Kirche in Not (s. offizielle Website http://religious-freedom-report.org [abgerufen am 9. Januar 2019]) oder Pew Research Center (s. offizielle Website http://www.pewresearch.org [abgerufen am 9. Januar 2019]) im Internet veröffentlicht.

[81] Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae (25. März 1995), 73–74: AAS 87 (1995) 486–488.

[82] Sancti Ambrosii Med., Epist. extra coll. 14,96, in: M. Zelzer (Hg.), Epistularum liber decimus. Epistulae extra collectionem. Gesta concilii Aquileiensis (CSEL 82/3), Vindobonae 1982, 287.

[83] Siehe Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad Gentes (7. Dezember 1965), 12. Ein konkretes Beispiel für die Auseinandersetzung der Ortskirchen mit der Umsetzung der Lehre aus Ad Gentes, 12 findet sich in den FABC Papers, 138, „FABC at Forty Years: Response to the Challenges of Asia: 10th FABC Plenary Assembly (10–16 December 2012), Vietnam“.

[84] Zur Beziehung zwischen Anthropologie und Christologie vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Fragen zur Christologie (1979), III; Theologie, Christologie, Anthropologie (1982), I.d; Gemeinschaft und Dienstleistung. Die menschliche Person – geschaffen nach dem Bilde Gottes (2004), 52.

[85] Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis (4. März 1979), 10: AAS 71 (1979) 274–275.

[86] Vgl. Franziskus, Enz. Laudato si’ (24. Mai 2015), 115–121: AAS 107 (2015) 893–895.

[87] Vgl. Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 93–97: AAS 105 (2013) 1059–1061.

[88] Vgl. Franziskus, Ansprache bei der Begegnung für Religionsfreiheit mit der hispanischen Gemeinde und anderen Immigranten, Philadelphia (26. September 2015): AAS 107 (2015) 1047–1052.

[89] Vgl. dazu Paul VI., Enz. Ecclesiam suam (6. August 1964), 67–81: AAS 56 (1964) 640–645; Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 55: AAS 83 (1991) 302–304; Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 250–251: AAS 105 (2013) 1120–1121. Umfangreich dokumentiert ist dies in: Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog (hg. von Francesco Gioia), Dialogo interreligioso nell’insegnamento ufficiale della Chiesa Cattolica dal Concilio Vaticano II a Giovanni Paolo II (1963–2005), Città del Vaticano 2013.

[90] Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Ap. Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999) (6. November 1999), 31: AAS 92 (2000) 501–503.

[91] Vgl. ebd., 29: AAS 92 (2000) 498–499.

[92] Vgl. Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 57: AAS 83 (1991) 305.

[93] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Ad Gentes, 12.

[94] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Nostra aetate, 2.

[95] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 2–4.

[96] Vgl. Paul VI., Enz. Ecclesiam suam (6. August 1964), 91: AAS 56 (1964), 648–649.

[97] „Niemand darf den Namen Gottes gebrauchen, um Gewalt auszuüben! Im Namen Gottes zu töten, ist ein schweres Sakrileg! Im Namen Gottes zu diskriminieren, ist unmenschlich“: Franziskus, Ansprache bei der Begegnung mit den Führern anderer Religionen und anderer christlicher Konfessionen an der Katholischen Universität „Nostra Signora del Buon Consiglio“, Tirana (21. September 2014): Enchiridion Vaticanum, 30 (2014) 1514–1524, 1518.

[98] Internationale Theologische Kommission, Der Dreifaltige Gott, Einheit der Menschen. Der christliche Monotheismus gegen die Gewalt (2014), 64.

[99] Das außergewöhnliche Zeugnis, das P. Christian de Chergé, Prior des Zisterzienserklosters Notre-Dame d’Atlas in Thibirine (Algerien), der mit weiteren 18 Märtyrern Algeriens seliggesprochen wurde (8. Dezember 2018), in seinem Testament abgelegt hat, zeigt die einende Kraft der Liebe, die bis an den Rand des Martyriums geht. Vgl. Christian de Chergé, Lettres à un ami fraternel, Paris 2015.

[100] Vgl. Franziskus, Ansprache an den Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem (16. November 2018), in: L‘Osservatore Romano (21. November 2018) CLVIII/262 (2018), 8.